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EU und Mitgliedstaaten streiten um die Rechtsstaatlichkeit

Wie wirksam sind die europäischen Instrumente zur Durchsetzung der Werte?

Zerwürfnisse zwischen der EU-Kommission in Brüssel und den Mitgliedstaaten Polen und Ungarn lassen am Zusammehalt innerhalb der Europäischen Union zweifeln. Insbesondere die Rechtsstaatlichkeit gilt als Streitpunkt, da sie in den beiden Mitgliedstaaten nicht mehr gewährleistet ist. Die EU kritisiert und sanktioniert Vertragsverletzungen in Gestalt von rechtswidriger Justizreformen und Korruption. Aber schützt der Rechtsstaatmechanismus tatsächlich die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten? Expertinnen und Experten haben in der Tagung "Wer hat Recht in Europa? Unionsrecht und Mitgliedstaaten im Widerstreit" der Akademie für Politische Bildung und den Jungen Europäischen Föderalisten München e.V. über die Wirksamkeit des Instruments diskutiert.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 11.04.2023

Von: Pauline Wanner / Foto: Pauline Wanner

Programm: Wer hat Recht in Europa?

Wer hat Recht in Europa? Unionsrecht und Mitgliedstaaten im Widerstreit

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Seitdem Polen die umstrittene Justizreform eingeführt hat, ist das Verhältnis zwischen der EU und dem Mitgliedstaat angespannt. Die Reform legitimiert die Regierung, gegen Richterinnen und Richter Geldstrafen zu verhängen oder diese zu entlassen. Die Gewaltenteilung, die als Grundlage einer funktionierenden Demokratie dient, ist seitdem nicht mehr gewährleistet. Auch mit Ungarn hat die EU Streit, da dort Korruption und die Veruntreuung von Geldern aus dem EU-Haushalt alltäglich sind. Presse- und Medienfreiheit sowie eine unabhängige Justiz gibt es schon länger nicht mehr. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán hat außerdem alle wichtigen Posten mit seinen Gefolgsleuten besetzt. Beide Länder weigern sich, ihren europäischen Verpflichtungen nachzukommen und tragen gemeinsame Werte der EU nicht mit. Die Rechtsstaatlichkeit ist durch die populistischen Regierungen in Ungarn und Polen in Gefahr. Um sie zu schützen, hat die EU den Rechtsstaatsmechanismus eingeführt. Ob sich dieser als wirksamer Schutzmechanismus erweist oder doch ein Papiertiger ist, haben Expertinnen und Experten im Rahmen der Tagung "Wer hat Recht in Europa? Unionsrecht und Mitgliedstaaten im Widerstreit" der Akademie für Politische Bildung und den Jungen Europäischen Föderalisten München e.V. diskutiert.

Rechtsstaatlichkeit als Grundprinzip der Europäischen Union

"Rechtsstaatlichkeit ist nicht verhandelbar", sagt Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Grundsätzlich bedeutet Rechtsstaatlichkeit, dass eine Regierung nur im Rahmen bestehender Gesetze handeln darf. Die Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsstaats werden so vor staatlicher Willkür, Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen geschützt. Eins der Kopenhagener Kriterien, die Grundlagen für einen Beitritt zur EU, ist die Anerkennung der Rechtsstaatlichkeit und die aktive Umsetzung politischer Mittel zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit.

Polen und Ungarn haben das Kriterium Rechtsstaatlichkeit beim Beitritt erfüllt, in den vergangenen Jahren aber mehrfach dagegen verstoßen. Die EU-Kommission hat festgestellt, dass die Länder nicht - wie vereinbart - den Haushaltsplan der EU umgesetzt haben, sondern stattdessen viel Geld in Korruption und eigene Interessen der Regierungen geflossen ist. Als Reaktion auf diese Vertragsverletzungen hat Brüssel Sanktionen gegen beide Mitgliedstaaten beschlossen. Polen wurden im Rahmen der Finanzkonditionalität, die finanzielle Mittel an die Umsetzung spezifischer politischer Maßnahmen bindet, beispielsweise Gelder aus dem EU-Haushalt gestrichen. Die Finanzkonditionalität ist ein finanzielles Instrument der EU, das dafür sorgt, dass die Gelder des EU-Haushalts in vereinbarte Projekte wie beispielsweise Bildungseinrichtungen, staatlich geförderte Forschungsinstitute oder den Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Corona-Pandemie fließen. "Mit diesem Mechanismus hat man sich einen starken Hebel geschafften", sagt Kai-Olaf Lang. Es gilt nun, die bestehenden finanziellen Sanktionen effektiv als Brücke zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit zu nutzen.

Schutzmechanismen für eine gesicherte Rechtsstaatlichkeit

Die Europäische Kommission fordert von den Mitgliedsstaaten jährliche Berichte zur Rechtsstaatlichkeit. Ziel ist es, ihnen die Möglichkeit zu geben, selbstständig Fehler zu entdecken und zu beheben. Allerdings nehmen einige Mitgliedstaaten ihre fehlende Rechtsstaatlichkeit nicht wahr und beheben die Fehler dementsprechend auch nicht. Polen und Ungarn haben sich wiederholt nicht an das EU-Recht gehalten und stehen deshalb seit Jahren in der Kritik. In beiden Länder kam es bei nationalen Gerichtsverfahren zu Verletzungen des europäischen Rechts, da das nationale Recht höher als das europäische Recht gewichtet wurde. Außerdem wurden Gelder aus dem Haushalt der EU veruntreut. In Polen wurde beispielsweise die Justizreform verabschiedet, die die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter verletzt. Währenddessen ist in Ungarn Korruption in Politik und Wirtschaft alltäglich. Beide Mitgliedsstaaten bekennen sich zwar zu den Werten der Europäischen Union, aber gewährleisten deren Einhaltung nicht. Durch die Ansicht der beiden Mitgliedstaaten, dass ihr nationales Recht Vorrang vor dem europäischen Recht hat, stellen Polen und Ungarn die Werte in Frage.

Die Europäische Kommission hat verschiedene Instrumente und Mechanismen zur Verfügung, falls Mitgliedstaaten Rechte verletzen und Verträge brechen. Potenzielle Beitrittskandidaten müssen sich vor einem Beitritt zu Europäischen Union zu den Werten des Staatenbundes bekennen. Die Annahme, dass das Wertebekenntnis auch nach einem Beitritt hält, hat sich als naiv erwiesen. In allen Mitgliedstaaten kam es vermehrt zu Vertragsverletzungsverfahren, woraufhin die Europäische Kommission Schutzmechanismen entwickelt hat. In erster Linie reagiert die Europäische Kommission auf Verletzungen des EU-Rechts mit finanziellen Sanktionen. Der nach der Corona-Pandemie beschlossene Wiederaufbaufond beinhaltet beispielsweise günstige Darlehen und Cash für die Mitgliedstaaten. Um aus diesem Finanztopf zu schöpfen, müssen die Länder Pläne mit Meilensteinen vorlegen, die die EU-Kommission bewilligen muss. Damit hat diese einen weiteren Hebel, um die Rechtsstaatlichkeit zu schützen. Ob dieser Hebel ausreicht, muss sich aber erst noch zeigen.

Artikel 7 - Papiertiger oder wirksamer Mechanismus?

Seit dem Vertrag von Amsterdam 1997 gibt es das Artikel-7-Verfahren zum Schutz der Grundwerte in der Europäischen Union. Das Verfahren dient als Grundlage für einen möglichen Entzug der EU-Mitgliedschaft eines Mitgliedstaates, falls dieser die Grundwerte der EU verletzt. Als Reaktion auf die ungarischen und polnischen Vertragsverletzungen hat die Europäische Union dieses Verfahren gegen beide Länder ausgelöst. Obwohl Ungarn sich dem Verfahren stellen musste, gab es keinen Politikwandel, sondern ausschließlich oberflächliche Korrekturen und keine tiefgreifenden Veränderungen.

Ellen Bos von der Andrássy Universität Budapest beschreibt das Vorgehen der ungarischen Regierung als "Pfauentanz". Die Regierung tue so, als ob sie Veränderungen vollziehe, dabei passiere nichts. Die vorhandenen Instrumente und Sanktionen haben zu keinem ernstzunehmenden Schutz der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn geführt. Im Dezember 2020 ist die Europäische Kommission deshalb einen weiteren Schritt gegangen und hat den neuen Rechtsstaatsmechanismus zum Schutz des Haushaltes der EU eingeführt . Unter anderem wegen Korruption und deren wirksamer Bekämpfung, Interessenskonflikten und Veruntreuung von öffentlichen Geldern hat die Europäische Kommission 2022 ein weiteres Verfahren gegen Ungarn eingeleitet. Die darauffolgenden Verhandlungen zwischen den beiden Parteien brachten als Ergebnis, dass Ungarn Abhilfemaßnahmen für mehr Transparenz und wirksamere Korruptionsbekämpfung einführen will. Allerdings beurteilte die Kommission die Maßnahmen als unzureichend und schlug vor, Ungarn 7,5 Milliarden Euro zu sperren, um den EU-Haushalt zu schützen.

Eine Abschlusserklärung sowie tiefgreifende Veränderungen in Ungarn gibt es bisher nicht. Der Wille für umfassende Reformen des Systems ist nicht vorhanden. Die ungarische Regierung bleibt bei ihrer Strategie der oberflächlichen Korrekturen. Der neue Rechtsstaatmechanismus "wird die ungarische Regierung nicht zurück auf den Weg der Demokratie bringen", sagt Ellen Bos. Der Mechanismus ist nicht in der Lage, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wiederherzustellen. Hoffnungen setzt Ellen Bos trotzdem in den Mechanismus, da dieser "kein reiner Papiertiger ist". Beispielsweise zur Bekämpfung von Korruption kann er durch die finanziellen Sanktionen beitragen und somit die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten zumindest teilweise schützen.

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