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Wissenschaft und Politik in der Corona-Pandemie

Wie gelingt gute Politikberatung in der Krise?

In der Corona-Pandemie haben Politikerinnen und Politiker ihre Entscheidungen in der Regel mit Erkenntnissen der Wissenschaft begründet. Unter Zeitdruck entstand oft ein Imperativ der Alternativlosigkeit, der einen anderen Umgang mit dem Virus von vornherein ausschloss. Inzwischen ist klar, dass zum Beispiel die sozialen Kosten der Lockdowns unterschätzt wurden. Wie die Politikberatung in der Corona-Pandemie funktioniert hat und warum Kommunikation in künftigen Krisen der Schlüssel sein muss, war ein Thema der Tagung "Von TINA, 'alternative facts' und Wissenschaft: Politische Diskurse, Praktiken und Institutionen im Wandel" der Akademie für Politische Bildung und des Arbeitskreises Politik und Kultur der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 03.03.2023

Von: Pauline Wanner / Foto: Pauline Wanner

Programm: Von TINA, "alternative facts" und Wissenschaft

Von TINA, "alternative facts" und Wissenschaft - Politische Diskurse, Praktiken und Institutionen im Wandel

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

"Kinder sind die Bremsklötze der Pandemie", sagte Reinhard Berner, Virologe und Leiter der sächsischen Schulstudien zur Corona-Pandemie, nach dem ersten Lockdown. Die Forschungsergebnisse stützten die Annahme, dass Kinder keinen Anteil an der Verbreitung des Virus hätten. Die Politik bereitete folglich in den Sommerferien keine Maßnahmen für die Schulen vor. Im Herbst 2020 stiegen die Infektionszahlen allerdings deutschlandweit wieder sprunghaft. Die Politik war überfordert, schloss die Schulen erneut - und Virologe Berner revidierte seine Aussage: "Das mit den Kindern als Bremsklötze der Pandemie würde ich jetzt nicht mehr so sagen." Die Politik hatte sich auf die Erkenntnisse der Wissenschaft gestützt, doch diese hatte sich geirrt. Die Forschungen zur Verbreitung des Corona-Virus standen wenige Monate nach Pandemiebeginn noch am Anfang. Im weiteren Verlauf der Pandemie begründete die Politik ihre Entscheidungen jedoch weiterhin mit dem Imperativ der Alternativlosigkeit aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse. Über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Corona-Pandemie haben deshalb Fachleute in der Tagung "Von TINA, 'alternative facts' und Wissenschaft: Politische Diskurse, Praktiken und Institutionen im Wandel" der Akademie für Politische Bildung und des Arbeitskreises Politik und Kultur der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft diskutiert.

Schulschließungen in der Corona-Pandemie

Die Studien zu Schulschließungen in Sachsen erlauben eine Analyse der wissenschaftlichen Beratung der Politik in der Corona-Pandemie. Kürzlich veröffentlichte Studien kommen zu dem Ergebnis, dass sowohl Schul- als auch Kitaschließungen keinen Beitrag zur Eindämmung der Pandemie geleistet haben.

Dass das Thema bis heute diskutiert wird, liegt an den gravierenden Auswirkungen auf die betroffenen Familien. Viele von ihnen fühlten sich im Distanzunterricht von der Politik alleine gelassen. Eltern befanden sich in einem Spagat zwischen Arbeit und Kinderbetreuung. Kindern und Jugendlichen fehlten ihre Freundinnen und Freunde und ein Ausgleich zum Schulalltag vor dem Bildschirm. Heute ist klar, dass Politikerinnen und Politiker die gesellschaftlichen Folgen der Schulschließungen zu wenig berücksichtigt und bekannte Maßnahmen zu lange verteidigt haben.

Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie

Eigentlich besteht die Politikberatung durch die Wissenschaft während einer Krise aus vier Schritten. Nach der Aufklärung über Gefahren und Risiken prognostizieren Expertinnen und Experten die weitere Entwicklung. Anhand dieser kann die Wissenschaft Handlungsanweisungen empfehlen, um das Problem zu lösen. Um auf Akzeptanz seitens der Bevölkerung zu stoßen, sollten diese Entscheidungen begründet werden. Soweit die Theorie. In der Praxis blieb während der Corona-Pandemie keine Zeit für eine genaue Verfolgung dieser Schritte. Die Politik sah sich gezwungen, zu handeln und erließ Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus, während die Wissenschaft noch keine Datengrundlage hatte und somit über Nichtwissen verfügte. Dieses Nichtwissen hatte allerdings nichts damit zu tun, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Arbeit nicht erledigten. Es war eine Form des Nicht-Wissen-Könnens aufgrund des Datenmangels zu Beginn der Pandemie.

Das Pandemiemanagement der Politik verlief außerdem zu einseitig. Expertinnen und Experten aus den Sozialwissenschaften waren im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern und Medizinerinnen im Expertengremium der Bundesregierung nicht vertreten. Um in Zukunft auch "die sozialen Kosten im Blick zu haben", betont Jörn Knobloch von der Universität Leipzig, dass Vertreterinnen und Vertreter der Sozialwissenschaften im Expertengremium gebraucht werden. Damit politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger auf künftige Krisen und die bereits reale Klimakrise gezielter reagieren können, gilt es, "mehr Pluralismus zu wagen", sagt Jörn Knobloch. Eine pluralistische Politikberatung kann nur dann funktionieren, wenn alle wissenschaftlichen Bereiche vertreten sind. Expertengremien sind dann in der Lage, Expertise über das aktuelle Geschehen sowie Auswirkungen auf die Gesellschaft in ihre Überlegungen einzubeziehen.

Das Vertrauen der Bevölkerung in Politik und Wissenschaft

Ein Großteil der Gesellschaft verlässt sich in Krisensituationen auf Expertinnen und Experten, die durch ihre Arbeit Handlungsempfehlungen geben können. Das belegen die Zahlen, die Wolfgang Bergem von der Universität Siegen präsentiert: Rund zwei Drittel der Deutschen vertrauen in Wissenschaft und Forschung, die Hälfte interessiert sich für diese Themen.

Ein Teil der Bevölkerung vertraut allerdings weder Wissenschaft noch Politik. Das Misstrauen gegenüber beiden Institutionen sowie den vom Staat verordneten Maßnahmen hat sich während der Pandemie vergrößert. Das liegt einerseits an Glaubenssätzen und an persönlichen Präferenzen für Parteien, Politikerinnen und Politiker sowie deren Corona-Kurs. Andererseits liegt ein Schlüssel zum entstandenen Misstrauen auch in der Kommunikation. Durch eine mangelhafte, zu einseitige Kommunikation der Politik während der Pandemie haben viele das Vertrauen verloren und sich in ihre eigenen Wahrheiten geflüchtet. Es gilt, kontroverse Gesundheitsthemen wie Corona und die Schutzimpfung, aber auch Klimamaßnahmen, sinnvoll zu kommunizieren und die Bevölkerung aufzuklären. Statt, wie Jörn Knobloch festgestellt hat, "täglich mittels Echtzeitportalen auf das Pandemiegeschehen zu reagieren", sollten Daten an die Bevölkerung weitergegeben werden. Diese ermächtigen Bürgerinnen und Bürger dazu, selbst Entscheidungen zu treffen und umzusetzen.

Kommunikation in Krisen

Um auch zu dem Teil der Bevölkerung wieder Vertrauen aufzubauen, der sich während der Pandemie von Wissenschaft und Politik isoliert hat, muss der Staat die Kommunikation in Krisenzeiten besser vorbereiten. Thomas Heintz vom Karlsruher Institut für Technologie beschäftigt sich mit der Gesundheitskommunikation. Für ihn ist es wie für Jörn Knobloch wichtig, dass die Kommunikation, "die Bevölkerung selbst auf Schlüsse kommen lässt." Komplexe Informationen zum aktuellen Geschehen müssen vereinfacht dargestellt werden, damit ein Großteil der Bevölkerung Zugang neuen Informationen erhält.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesundheitsämter bereiten sich frühzeitig vor, um der Bevölkerung Rede und Antwort stehen zu können, und um den Draht zu ihr nicht zu verlieren. Um die Kommunikation in Zukunft zu vereinfachen und Wissen schneller zu vermitteln, gibt es verschiedene Lösungsansätze. Mithilfe von Faktenboxen, online verfügbaren Wissenstools, sollen Menschen Zugang zu aktuellen Informationen über das Geschehen bekommen. Außerdem werden über Kooperationspartner und Social Media weitere Inhalte vermittelt und Alternativen beleuchtet, um der Bevölkerung Handlungsspielraum zu geben. Im Großen und Ganzen geht es um das Prinzip "show, don't tell" - also zu kommunizieren, indem man nichts vorschreibt. Der Bevölkerung wird ermöglicht, sich ihr eigenes Bild zum Geschehen zu machen. Denn Kommunikation ist der Schlüssel zum Vertrauen der Bevölkerung.

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