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Die Vier-Tage-Woche als Modell der Zukunft

Sind kürzere Arbeitszeiten bei gleichem Lohn möglich?

Kürzere Arbeitszeit, gleicher Lohn: Die Debatte um eine Vier-Tage-Woche wird aktuell in allen Industriestaaten mehr oder weniger intensiv geführt. Durch Digitalisierung und Rationalisierung lässt sich mehr Arbeit in kürzerer Zeit erledigen und immer mehr Beschäftigte wünschen sich eine bessere Work-Life-Balance. Während aus der Gesellschaft Rufe nach einer Arbeitszeitverkürzung immer lauter werden, befürchten Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wirtschaft eine Verschärfung des Fachkräftemangels sowie eine steigende Belastung für die Beschäftigten. In der Tagung "Arbeitszeitverkürzung als Grundlage eines neuen sozialen Modells?" aus der Reihe "Zukunft der Arbeit" der Akademie für Politische Bildung haben Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft über die gesamtgesellschaftlichen Effekte einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung diskutiert. Sie regen dazu an, über ein neues gesellschaftliches Arbeitszeitmodell nachzudenken.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 16.11.2022

Von: Martina Maier / Foto: Martina Maier

Programm: Arbeitszeitverkürzung als Grundlage eines neuen sozialen Modells?

Zukunft der Arbeit (Teil III): Arbeitsverkürzung als Grundlage eines neuen sozialen Modells?

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

In Großbritannien laufen die ersten Versuche, in Belgien steht die Vier-Tage-Woche mittlerweile im Gesetz: Digitalisierung und Produktivitätssteigerung machen es möglich, bei gleichem Lohn weniger Stunden zu arbeiten. In Deutschland wird die Debatte verhaltener geführt. Fachkräftemangel, Verdichtung von Arbeit und steigende Belastung lauten die Argumente gegen eine kürzere Arbeitszeit. Angesichts des demografischen Wandels und des deutlichen Rückgangs der Erwerbstätigenquoten wird eine massive Verknappung des Arbeitskräfteangebots befürchtet. Der Pflegebereich kämpft schon seit Jahren mit eklatantem Personalmangel. Branchen wie Gastronomie und Einzelhandel haben mit der Corona-Pandemie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verloren und nicht mehr zurückgewinnen können. Eine Vier-Tage-Woche wie in Belgien? Davon halten viele Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wirtschaft wenig. Manche sprechen sogar von Utopie. Gleichzeitig werden Rufe nach kürzeren Arbeitszeiten aus der Gesellschaft lauter: Wie eine Umfrage der Bundesanstalt für Arbeitsschutz aus dem Jahr 2018 zeigt, wollen 49 Prozent der Beschäftigten ihre wöchentliche Arbeitszeit reduzieren. Eine bessere Work-Life-Balance, weniger Stress und mehr Zeit für die Familie sind Argumente, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dafür nennen. Was spricht für eine radikal verkürzte Arbeitszeit und unter welchen Bedingungen lässt sich diese umsetzen? In der Tagung "Arbeitszeitverkürzung als Grundlage eines neuen sozialen Modells?" der Akademie für Politische Bildung, des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF) und der Forschungseinheit für Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt der Universität Augsburg sind Expertinnen und Experten diesen Fragen nachgegangen.

Die 32-Stunden-Woche als Antwort auf die Arbeitsintensivierung

Die Diskussion um Arbeitszeitfragen ist kein neues Thema. Zu Zeiten der industriellen Revolution waren tägliche Arbeitszeiten von bis zu 16 Stunden weit verbreitet. Erst in der Weimarer Republik setzte sich der Achtstundentag als Reaktion auf die Aufstände der Arbeiterbewegung allmählich durch. Fast 70 Jahre später kam eine erneute Protestwelle ins Rollen: Mit der Parole "Arbeitsplätze schaffen - Arbeit menschlicher machen" streikten im Jahr 1984 die Beschäftigten der westdeutschen Metallindustrie wegen der zunehmenden Rationalisierung und Intensivierung von Arbeit für die 35-Stunden-Woche. Erfolgreich waren sie damals nicht. Mittlerweile formulieren aber nicht nur Gewerkschaften, sondern auch Vertreterinnen und Vertreter anderer gesellschaftlicher Bereichen wieder Forderungen nach kürzeren Arbeitszeiten. Meist geht es um eine Vier-Tage-Woche mit 32 Stunden.

Denn die Digitalisierung stellt bestehende Arbeitszeitmodelle vor eine enorme Herausforderung. Durch den technischen Fortschritt ist die Produktivität enorm gestiegen. Automatisierung und Rationalisierung ermöglichen es, mehr Arbeit im gleichen Zeitraum zu leisten. Andreas Boes vom ISF München hält eine Arbeitszeitverkürzung daher für dringend notwendig. Sie sei die Antwort auf die Arbeitsverdichtung und Voraussetzung für die Entwicklung eines neuen gesellschaftlichen Produktions- und Sozialmodells, fügt Ursula Stöger von der Universität Augsburg hinzu. Denn nicht die Verkürzung der Arbeitszeit führe zu einer stärkeren Arbeitsintensivierung und Arbeitsbelastung, sondern gerade wegen der Arbeitsintensivierung seien kürzere Arbeitszeiten wichtig. Stöger plädiert deshalb für eine kollektive Arbeitszeitverkürzung mit vollem Einkommens- und Personalausgleich.

Gesundheitliche Entlastung und bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben

Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen hat Stöger in einer Expertise über die Notwendigkeit und Vorteile einer kollektiven Arbeitszeitverkürzung diskutiert. Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zufolge könnte eine Reduzierung der Arbeitszeiten Beschäftigte enorm entlasten. Sowohl die psychische als auch die physische Gesundheit würde dadurch geschützt und gefördert; das Gesundheitssystem könnte davon profitieren. Eine Arbeitszeitverkürzung sei daher als präventiver Ansatz zu verstehen, sagt Stöger und fordert dazu auf, ernsthaft und wohlwollend darüber nachzudenken.

Eine stärkere Entlastung wünscht sich auch Margit Weihrich, denn "alltägliche Lebensführung braucht Zeit", betont die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Augsburg. Dass die Erwerbsarbeit längst nicht die einzige Sphäre der Arbeit ist, darüber besteht weitestgehend Konsens. Feierabend bedeutet nicht gleich Freizeit. Vielmehr gehört die Organisation eines immer komplexer werdenden Alltags zu den vielen Aufgaben, die neben der Erwerbsarbeit bewältigt werden müssen - darunter Hausarbeit, Arztbesuche und Kinderbetreuung. Viele Erwerbstätige ohne Kinder sind ebenfalls mit ihrer Work-Life-Balance unzufrieden. Durch eine Arbeitszeitverkürzung könnten Erwerbsarbeit und Privatleben besser vereinbart werden, ist Weihrich überzeugt.

Humanisierung der Arbeit durch kürzere Arbeitszeiten

Aus kürzeren Arbeitszeiten leiten sich aber auch andere Vorteile ab, die weit über den individuellen Zugewinn hinausgehen. Zum einen wäre eine psychische und physische Entlastung auch im Sinne der Unternehmen - schließlich arbeiten gesunde Beschäftigte besser. Studien aus Island zeigen zudem eine erhöhte Produktivität. Eine Arbeitszeitverkürzung sei daher aus wirtschaftlicher Perspektive genauso wünschenswert, geht aus der Expertise der Universität Augsburg und des ISF München hervor. Überdies ließe sich dadurch die Lebensarbeitszeit verlängern. Vor allem in körperlich belastenden Berufen erreichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selten das gesetzliche Renteneintrittsalter. In Gesundheitsberufen gehen sie im Schnitt bereits mit 60 Jahren in Rente, Bau- und Metallarbeiter schaffen es durchschnittlich bis knapp über das 58. Lebensjahr. Es ist kaum verwunderlich, dass der Fachkräftemangel zunimmt und unser Sozialversicherungssystem an seine Grenzen stößt. Durch eine verlängerte Lebensarbeitszeit bleiben Angestellte dem Arbeitsmarkt länger erhalten und wirken so dem Fachkräftemangel entgegen, argumentiert Stöger.

Dass gerade systemrelevante Berufsgruppen von einer Arbeitszeitverkürzung profitieren könnten, wird häufig vernachlässigt. Stattdessen herrscht die Annahme, Bereiche wie die Gastronomie und die Gesundheitspflege würden von einer Vier-Tage-Woche ausgeschlossen. Doch eine Arbeitszeitverkürzung würde solche Berufe attraktiver machen. Mehr Menschen könnten für diese Arbeit gewonnen werden. Seit Beginn der Corona-Pandemie hat Deutschland Tausende Pflegekräfte verloren. Beschäftigte, die geblieben sind, stoßen häufig an ihre Grenzen und manche erwägen zumindest einen Ausstieg. Für viele junge Menschen ist der Pflegeberuf wegen der hohen Belastung unattraktiv. Eine Arbeitszeitverkürzung wäre der erste Schritt in Richtung einer dringend notwendigen Humanisierung.

Gleichberechtigung von Frauen und Männern durch kollektive Arbeitszeitverkürzung

Einen wichtigen Beitrag leiste die 32-Stunden-Woche aber insbesondere zur Gleichstellung von Männern und Frauen. "In Deutschland ist das männliche Alleinverdienermodell immer noch vorherrschend", sagt Uta Meier-Gräwe, Soziologin und Professorin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. "Ein Fünftel aller Frauen ist in Jobs unter 15 Stunden beschäftigt, was viel mit dem deutschen Arbeitsmarktregime zu tun hat", ergänzt sie. Zum Vergleich: In Belgien arbeiten Männer und Frauen oft gleichermaßen um die 30 Stunden. Obwohl das traditionelle Male-Breadwinner-Modell längst überholt ist, arbeiten Frauen hierzulande mehrheitlich in Teilzeit oder in Minijobs und leisten den größten Teil der Care-Arbeit. Der monetäre Wert dieser unbezahlten Arbeit beläuft sich auf knapp 825 Milliarden Euro. Das Sozialsystem setzt hier falsche Anreize. Wegen Elterngeld und Ehegattensplitting lohnt sich eine Teil- oder Vollzeitbeschäftigung für viele Frauen gar nicht. Eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung könnte beiden Geschlechtern ermöglichen, einer Vollzeitbeschäftigung nachzugehen und die familiäre Arbeit fairer aufzuteilen. Außerdem ließen sich die Partizipationsmöglichkeiten für Männer und Frauen steigern.

Sind 40-Stunden-Wochen noch zeitgemäß?

Aus mehreren Umfragen geht hervor: Teilzeitbeschäftigte Frauen wünschen sich längere Arbeitszeiten, vollzeitbeschäftigte Männer hingegen kürzere. Eine kurze Vollzeit klingt daher sinnvoll. Sicherlich lassen sich nicht alle genannten Probleme durch eine Arbeitszeitverkürzung lösen und eine 32-Stunden-Woche wird auch nicht zwangsläufig alle erwünschten Effekte mit sich bringen. Aber die Diskussion über eine Vier-Tage-Woche regt dazu an, über ein zukunftsfähiges und attraktives Arbeitszeitmodell nachzudenken. Ob starre Arbeitszeiten noch zeitgemäß sind, diese Frage stellt auch Ulrich Walwei, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. "Arbeitszeit als solche wird an Bedeutung verlieren", prophezeit er. Für die Entwicklung von Arbeit, ihre Entgrenzung und Flexibilisierung sowie für die Veränderung unseres Privatlebens fehlt bisher ein passendes, nachhaltiges Arbeitszeitkonzept, darüber sind sich die Teilnehmenden einig. Es müsse flexibel sein und sich an den individuellen Bedürfnissen der Beschäftigten orientieren, der Vermengung von Arbeit und Privatem Rechnung tragen und stärker einen gesamtgesellschaftlichen Blick einbeziehen, bekräftigt Fritz Böhle vom ISF München und der Universität Augsburg. Er appelliert an Politik und Wirtschaft, sich wie die Wissenschaft ernsthaft mit dem Thema auseinanderzusetzen.

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