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Antisemitismus und Rassismus wirksam bekämpfen

Potenziale und Fallstricke der politischen Bildungsarbeit

Antisemitismus und Rassismus sind tief in der deutschen Gesellschaft verwurzelt. Sie bedrohen unsere demokratischen Werte und das friedliche Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft. Wie es um antisemitische und rassistische Einstellungen in Deutschland steht und welchen Beitrag die politische Bildung im Kampf dagegen leisten kann, war Thema der Tagung "Antisemitismus und Rassismus als Herausforderungen für die offene Gesellschaft" der Akademie für Politische Bildug, der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung e.V. und der Europäischen Akademie Bayern e.V.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 06.10.2022

Von: Martina Maier / Foto: Martina Maier

Programm: Rassismus und Antisemitismus als Herausforderungen für die offene Gesellschaft

Rassismus und Antisemitismus als Herausforderungen für die offene Gesellschaft

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

Am 9. Oktober 2022 jährt sich der versuchte Anschlag auf die Synagoge in Halle zum dritten Mal. Die rechtsterroristische Tat erschütterte die Bundesrepublik und versetzte auch Menschen aus anderen Teilen der Welt in Schock. Für viele Jüdinnen und Juden in Deutschland kam die Tat hingegen nicht überraschend; für sie ist Antisemitismus trauriger Alltag. Noch immer sind antisemitische und rassistische Einstellungen in der Gesellschaft tief verwurzelt und nehmen in der öffentlichen Debatte, in Politik und Medien weltweit zu. Auch in Kunst und Kultur zeigen sich vermehrt antisemitische Motive, wie die diesjährige documenta in Kassel gezeigt hat. "Der Antisemitismus bedroht unsere Gesellschaft im Innersten", sagt Ludwig Spaenle, Antisemitismus-Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung. Doch im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus steht Deutschland noch am Anfang. Mit der Debatte um den israelisch-palästinensischen Konflikt hat sich in den vergangenen Jahren ein neuer Antisemitismus herausgebildet. In der Tagung "Antisemitismus und Rassismus als Herausforderungen für die offene Gesellschaft" der Akademie für Politische Bildung, der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung e.V. und der Europäischen Akademie Bayern e.V. haben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer damit beschäftigt, wie wir Rassismus und Antisemitismus entgegenwirken können und welche Rolle die politische Bildungsarbeit dabei spielt.

Was bedeutet Antisemitismus?

Ein grundlegendes Problem in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus besteht in der fehlenden allgemeingültigen Definition des Begriffs. Doch um Antisemitismus früh erkennen und besser bekämpfen zu können, ist gerade ein klares Verständnis davon zentral. Die von der Bundesregierung angenommene Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) definiert Antisemitismus als "eine bestimmte Wahrnehmung gegen Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen". Wenngleich keine ausreichende Definition, verweist sie auf ein zentrales Charakteristikum: Beim Antisemitismus handelt es sich immer um eine Weltanschauung, die im "Jüdischen" als Kollektiv den Ursprung aller gesellschaftlicher Probleme sieht. Samuel Salzborn, Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin, spricht in diesem Zusammenhang von einer grundlegenden Haltung zur Welt - einem antimodernen, menschenfeindlichen Weltbild. Antisemitismus hat demnach mit Jüdinnen und Juden per se nichts zu tun; er ist vielmehr eine selbstgewählte Haltung, die sich aus judenfeindlichen Vorurteilen und Verschwörungsmythen speist.

Antisemitismus ist ein vielschichtiges und komplexes Phänomen, welches sich nicht zuletzt in seiner langen Vorgeschichte begründet. Die Wurzeln des heutigen Antisemitismus liegen im christlichen Antijudaismus, der Ablehnung, Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden aufgrund ihrer Religion. Sie werden bereits im neuen Testament als "Söhne des Teufels" bezeichnet und für den Tod von Jesus Christus verantwortlich gemacht. Die aus dieser Zeit entstandenen Vorwürfe halten sich bis heute, jedoch beschränkt sich Antisemitismus nicht mehr nur auf einen religiös begründeten Antijudaismus. Die Antisemitismusforschung unterscheidet daher neben dem religiösen Antijudaismus zwischen weiteren Erscheinungsformen. Der im 19. Jahrhundert verbreitete Rassenantisemitismus sieht Jüdinnen und Juden als minderwertige "Rasse" und endet in der Massenvernichtung im Nationalsozialismus. Eine moderne und heute stark präsente Form der Judenfeindschaft ist der israelbezogene Antisemitismus. Hierbei handelt es sich um antisemitischen Hass auf den Staat Israel, der mit sachlicher Kritik an israelischer Politik längst nichts mehr zu tun hat. 

Zusammenhänge zwischen Antisemitismus und Rassismus

Genau wie Antisemitismus steht auch Rassismus in einer langen Tradition, die mit dem Beginn des europäischen Kolonialismus beginnt. Rassismus ist eine Ideologie, bei der Menschen nach körperlichen Merkmalen hierarchisch "Rassen" zugeordnet werden. Zentrales Motiv ist die Unterscheidung aufgrund sozialer und/oder kultureller Differenzen in dazugehörig und nicht-dazugehörig, in wir und sie. Diese Unterscheidung geht mit Zuschreibungen von Merkmalen, Mentalitäten und Charaktereigenschaften einher, wobei das Wir mit positiven Merkmalen versehen wird, das Sie hingegen mit negativen. Damit werden Ungleichheit, Unterdrückung und Machtstabilisierung legitimiert.

Historisch sind Antisemitismus und Rassismus eng miteinander verbunden. Zwar handelt es sich um eigenständige Ideologien, dennoch können Parallelen gezogen werden. Antisemitismus arbeite unter anderem mit rassistischen Momenten, sagt Karin Stögner, Professorin für Soziologie an der Universität Passau. Bei beiden Phänomenen geht es um einen hierarchisch definierten Anderen. Während der Rassismus das Sie als unzivilisiert und minderwertig stilisiert, erscheinen Jüdinnen und Juden im Antisemitismus als mächtig und sogar überlegen: Sie gelten als eine verschworene Gemeinschaft, die über ihren vermeintlichen Einfluss auf Politik, Medien und Finanzmärkte, die Welt lenkt. In beiden Ideologien wird in Abgrenzung zu "den Anderen", das Selbstbild der Wir-Gruppe definiert. Darüber hinaus betont Stögner den für beide charakteristischen Hass auf Unterschiede: "Alles was anders ist, wird gehasst." Antisemitismus und Rassismus gelten somit als Phänomene gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und stehen Stögner zufolge in einem extrem bedeutenden Verhältnis zueinander. Nicht selten wird Antisemitismus von Rassismus und anderen Formen von Intoleranz begleitet. Stögner spricht in diesem Zusammenhang von der Intersektionalität beider Phänomene. Der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus sei ein gemeinsamer Kampf.

Politische Bildungsarbeit gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Wer denkt, Antisemitismus und Rassismus beschränke sich auf das rechtsextreme Milieu, liege falsch, sagt Samuel Salzborn. Im Gegenteil: Gruppenfeindliche Denkmuster tauchen gerade in Diskursen der bürgerlichen Mitte vermehrt auf. Insbesondere in der Corona-Pandemie erhielten antisemitische Narrative neuen Auftrieb. Auch in Schulen kommt es immer häufiger zu antisemitischen, rassistischen und anderen gruppenfeindlichen Beschimpfungen und Übergriffen. Auf Social Media breitet sich digitaler Antisemitismus aus. Antisemitismus und Rassismus sind ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Dieses zu bekämpfen ist gemeinsame Aufgabe von Staat und Zivilgesellschaft. Dabei ist Bildung einer der wichtigsten Bereiche, um über Antisemitismus und Rassismus aufzuklären. "Kein Mensch kommt rassistisch zur Welt", sagt Anne Broden, politische Erwachsenenbildnerin und Sozialwissenschaftlerin. Rassismus sei vielmehr eine durch Erziehung und Erfahrungen angelernte Verhaltensweise, der durch Bildungsarbeit vorgebeugt werden kann.

Obwohl die Bildungsarbeit gegen Rassismus und Antisemitismus noch jung ist, gilt sie als fundamental zur Sensibilisierung für und Prävention gegen gruppenfeindliche Erscheinungsformen. Anne Broden arbeitet mit Leitungskräften und (sozial-)pädagogischen Fachkräften von Bildungseinrichtungen, der Sozialen Arbeit und der Verwaltung, um antisemitischen und rassistischen Einstellungen entgegenzuwirken. Sie gibt bei ihren Workshops vor allem den Betroffenen das Wort und stellt deren Perspektive in den Vordergrund, um zur kritischen Selbstreflexion anzuregen. Es geht also nicht nur um ein besseres Verständnis antisemitischer und rassistischer Einstellungen, sondern um deren Vorbeugung in der langen Frist. Dazu müssen insbesondere Institutionen, Strukturen und Diskurse in den Blick genommen werden. Denn Antisemitismus und Rassismus sind nicht nur individuelle Phänomene - sie sind vielmehr institutionell und strukturell verankert, betont Broden. Sowohl die systematische Schlechterstellung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund als auch Racial Profiling sind alltägliche Beispiele, die gravierende Auswirkungen auf betroffene Menschen haben.

Doch auch die Bildungsarbeit hat ihre Fallstricke. "Gut gemeint ist nicht nicht immer gut gemacht", sagt Broden. In Schulen und anderen Bildungsstätten ist es gängige Praxis, beim interkulturellen Lernen die Andersartigkeit fremder Kulturen zu betonen. "Weil sie so anders sind, müssen wir tolerant sein", ist laut Broden oft das Motto, das vermittelt wird. Um Rassismus jedoch wirksam zu bekämpfen, müsse die Betonung vielmehr auf Gemeinsamkeiten liegen. Auch sollen die kulturellen Differenzen nicht als "etwas Anderes" dargestellt werden, sondern müssen vielmehr wertgeschätzt werden, sagt Broden. Denn die kulturelle Vielfalt ist eine Bereicherung für unsere Gesellschaft.

Rassismus und Antisemitismus wirksam bekämpfen

"Jeder jüdischer Mensch hat immer das Gefühl, dass er benachteiligt werden könnte", sagt Marian Offman, Beauftragter der Landeshauptstadt München für den interreligiösen Dialog. Er berichtet von eigenen Erfahrungen als Jude in Deutschland. Antisemitische Plakate und judenfeindliche Sprüche auf dem Heimweg gehören zu den vielen Vorfällen, die er in seinem Alltag erlebt hat. "Es ist schwierig in diesem Land zu leben. Meine Tochter hat Deutschland schon vor vielen Jahren verlassen", berichtet Offman. Dass sich hierzulande grundlegend etwas ändern muss, dem ist sich auch Ludwig Spaenle bewusst. Die Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus sei Bürgerpflicht und Aufgabe einer pluralen Gesellschaft, mahnt er. Bildungsarbeit ist für ihn der erste Schritt nach vorne. Der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus müsse integrativer Bestandteil des Schulunterrichts werden. Außerdem müssen Methoden und Ansätze entwickelt werden, die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch in Insitutionen verhindern.

"Die Bundesrepublik hat die Bildungsarbeit gegen Rassismus und Antisemitismus massiv verschlafen. Sie ist aber zwingend notwendig, um unsere demokratischen und offenen Werte weiterhin zu verteidigen", sagt auch Samuel Salzborn. Anne Broden schließt in Hinblick auf ihre eigene Bildungsarbeit mit einem Zitat von Georg Lichtenberg: "Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll."  

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