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Vom Neoliberalismus zum organisierten Kapitalismus?

Wie die aktuellen Krisen das Verhältnis von Markt und Staat verändern

Rekordinflation, Krieg in Europa, Corona-Pandemie: Eine Krise reiht sich an die nächste. Nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt steht vor Problemen, die kaum noch zu bewältigen sind. Brauchen wir in dieser Situation einen starken Staat? Oder löst der Markt die drängenden Probleme unserer Zeit am besten allein? Darüber haben internationale Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler in der Tagung "Jenseits von Neoliberalismus und Neodirigismus: Die Rolle des Staates neu denken" der Akademie für Politische Bildung diskutiert.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 14.09.2022

Von: Lena Steininger / Foto: iStock/Khongtham

Programm: Jenseits von Neoliberalismus und Neodirigismus

"Seit der Finanzkrise ist die Krise eigentlich zur Normalität geworden", erklärt Mechthild Schrooten, Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Bremen. Markus K. Brunnermeier von der Princeton University spricht von systemischen Krisenkaskaden. Die Pandemie bestimmt die deutsche Wirtschaftsentwicklung seit nunmehr zwei Jahren und hat ihre Spuren hinterlassen: Die deutsche Wirtschaft hat 2020 die schwerste Rezession der Nachkriegszeit erlebt und im selben Jahr ging das Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahr um 4,9 Prozent zurück. Der Krieg in der Ukraine treibt die Inflation in Höhen, wie man sie zuletzt während der beiden Ölkrisen 1973/74 und 1979/80 erlebt hat. Braucht die Wirtschaft mehr oder weniger Staat, um der Dauerkrise zu entgehen? Antworten auf diese Frage hat die Tagung "Jenseits von Neoliberalismus und Neodirigismus: Die Rolle des Staates neu denken" der Akademie für Politische Bildung gesucht.

Die Rückkehr des organisierten Kapitalismus

Andreas Nölke, Goethe-Universität Frankfurt am Main, erwartet einen organisierten Post-Corona-Kapitalismus in Deutschland. In Zukunft werde der Staat wieder stärker in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen als er das bisher macht. Die aktuellen politischen und ökonomischen Krisen sind für Nölke ein Wendepunkt in der Geschichte des Kapitalismus. Deutschlands neoliberale Phase des Kapitalismus sei in seiner finalen Krise, die mit der globalen Finanzkrise von 2008 ihren Anfang nahm und mit der weltweiten Corona-Pandemie und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine nun ihren Höhepunkt erreicht.

Wechsel vom liberalen zum organisierten Kapitalismus sind laut Andreas Nölke nichts Außergewöhnliches. Die Theorie der "Social Structures of Accumulation" besagt, dass sich der Kapitalismus in Zyklen zwischen liberalen und regulierten Phasen bewegt: Die Phasen des liberalen Kapitalismus werden durch Krisen gestört. Die Unzufriedenheit mit dem herrschenden System steigt und begünstigt einen Wechsel zu einer organisierten Phase. Deren Wachstumsschwäche wiederum führt auf Dauer ebenso zu Unzufriedenheit, was eine erneute liberale Phase nach sich zieht. Auch in Deutschland lässt sich dieses Phänomen beobachten. Nach der Weltwirtschaftskrise überformten die Nationalsozialisten die deutsche Wirtschaft in den 1930er Jahren. In den 1970ern hingegen folgte auf die Ölkrisen eine Liberalisierung des Wirtschaftssystems - der Neoliberalismus der 1980er Jahre.

Renationalisierung statt Globalisierung

Die Krisenkaskaden sind nicht der einzige Grund für den Beginn einer neuen Phase des staatlich organisierten Kapitalismus. Ein Blick über europäischen Grenzen zeigt: Die Welt ist im Wandel. Das Zentrum der Weltwirtschaft rückt in Richtung Asien, wo bereits der staatlich durchdrungene Kapitalismus regiert. Länder wie China und Indien sind mit ihrem anti-liberalen "Countermovement" (Karl Polanyi) robust und erfolgreich in der Vermeidung des krisenanfälligen und abhängigen Kapitalismus. Chinas Abkehr von der kommunistischen Planwirtschaft und die gleichzeitige Gegenbewegung zum Liberalismus befreite große Teile der Bevölkerung aus der Armut.

Laut Schrooten funktioniert der traditionelle Kapitalismus besser in Demokratie, organisierter Staatskapitalismus hingegen in Autokratien. Aufgrund einer zunehmenden Renationalisierung wenden sich Teile der europäischen Bevölkerung von der globalisierten Welt und ihren Folgen wie Migration ab. In Frankreich gewinnt der Rechtspopulismus in Form von Marine Le Pens Rassemblement National Zulauf. In Großbritannien argumentieren die Befürworter des Brexit mit nationaler Souveränität. Auch ein Blick über den Atlantik bestätigt den Trend: Die Wahlforschung hat als Motive für die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten die Opposition gegenüber Migration und ökonomischer Globalisierung ausgemacht.

Zusätzlich befinden sich globale Handelsinstitutionen in der Krise. Die Welthandelsorganisation (WTO) beispielsweise ist mit großen Herausforderungen konfrontiert. Globale Produktionsnetzwerke wurden bereits vor der Pandemie kaum mehr vertieft und Trends der Regionalisierung und des Reshorings, also der Rückverlagerung von Produktionsstätten aus Schwellenländer in die Industriestaaten, sind ebenfalls Hinweise für eine Abkehr vom liberalen und auf Multilateralismus basierenden Wirtschaftssystems hin zu einer neuen Phase des organisierten Kapitalismus.

Wie wir zukünftige Wirtschaftskrisen besser meistern

"Marktkräfte sind zur Krisenbewältigung ungeeignet", erklärt Schrooten die aktuelle Zentralisierung der ökonomischen Entscheidungsfindung auf der Ebene des Nationalstaats. "Krisen können nicht durch den Markt oder durch Individuen bewältigt werden". Folglich sei jetzt der Staat gefragt diese Krisen zu meistern. Problematisch sei allerdings, dass das deutsche Mindset mehr drauf bedacht ist, Regeln aufzustellen, um Krisen zu vermeiden. Das Problem dabei ist, dass es trotzdem zu Krisen kommt, so Moritz Schularick von der Universität Bonn.

Markus Brunnermeier setzt deshalb auf Resilienz statt Risikoaversion. Resilienz stünde in diesem Sinne für eine gewisse Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit. Statt in einer Krise statisches Risikomanagement zu betreiben, sollten Risiken nicht pauschal abgelehnt werden. Im Resilienzmanagement sei es möglich, durch dynamisches und flexibles Handeln nach einer Krise "zurück zum Normalzustand zu federn". Krisen sollten zugelassen werden, um aus ihnen zu lernen. Brunnermeier spricht vom sogenannten "Maverick Thinking" und veranschaulicht es mit einem Vergleich: Eiche vs. Bambus. Die Eiche ist mit ihrem Wurzelwerk fest im Boden verankert, doch ein einziger starker Sturm kann sie aus der Erde reißen. Der Bambus hingegen wiegt sich mit jeder Windböe und lässt sich durch seine Flexibilität nicht abbrechen. Diesen Pragmatismus wünscht sich Brunnermeier auch im Denken und Handeln der Politik.

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