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The Great Game

Russlands und Großbritanniens Spiel um die Vormacht in Zentralasien

Mit dem Rückzug der USA zeigte sich 2021 die Instabilität Afghanistans. Innerhalb weniger Wochen übernahmen die islamistischen Taliban die Kontrolle über große Teile des Landes und machten jahrelange Bemühungen um Frieden und Menschenrechte zunichte. Die Instabilität der Region ist aber keine neue Erscheinung, sie reicht bis in die Kolonialzeit zurück. In Zentralasien spielten Russland und Großbritannien "The Great Game", ein Spiel um Land, Ressourcen und Untertanen. Der Konflikt war Thema der Tagung "Die Erfassung der Welt und die Vermessung des Wissens: Eine transnationale Geschichte des Kolonialismus und seiner Krisen seit dem späten 18. Jahrhundert" der Akademie für Politische Bildung und der Philipps-Universität Marburg.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 08.07.2022

Von: Julia Götzel / Foto: Julia Götzel

Programm: Die Erfassung der Welt und die Vermessung des Wissens

Die Erfassung der Welt und die Vermessung des Wissens

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

"Mit dreizehntausend der Zug begann, Einer kam heim aus Afghanistan", schrieb Theodor Fontane über den britischen Rückzug aus Afghanistan in den 1840er Jahren. Das British Empire erlitt im anglo-afghanischen Krieg die schwerste Niederlage seiner Kolonialgeschichte. Nur der Regimentsarzt Dr. Brydon überlebte die Schlacht am Chaiber-Pass 1842 und brachte die Nachricht vom Untergang zu den Briten. Großbritannien hatte sich verpokert im sogenannten Great Game. Dennoch dauerte der Konflikt mit Russland um die Vorherrschaft in Zentralasien noch bis 1907. Die Folgen sind in der Region bis heute zu spüren. Afghanistan und seine Nachbarstaaten sind von Instabilität geprägt. Jonas Arnold und Jonathan Icks, Studierende der Philipps-Universität Marburg, haben das Spiel der Kolonialmächte im Rahmen der Tagung "Die Erfassung der Welt und die Vermessung des Wissens: Eine transnationale Geschichte des Kolonialismus und seiner Krisen seit dem späten 18. Jahrhundert" an der Akademie für Politische Bildung erklärt.

Zentralasien vor der Kolonialisierung

Bevor Zentralasien in den Blick der Kolonialmächte geriet, kannte die Region weder klare Landesgrenzen noch Nationalstaaten. Lokale Herrscher regierten über einzelne Täler, aber nie über riesige Flächen wie es die Großmächte ab dem 18. Jahrhundert planten. Die europäischen Seefahrermächte eroberten nach und nach die Welt und auch Russland träumte von strategisch gelegenen eisfreien Häfen. Das Zarenreich hatte den Indischen Ozean in den Blick genommen, was wiederrum die Briten nervös machte, die ihre wichtigste Kolonie Indien bedroht sahen.

Die Heartland Theorie: Eurasien als Schlüssel zur Weltmacht?

1904, fast am Ende des Great Games, veröffentlichte der britische Geograph Halford Mackinger seine Theorie, woran sich die imperialistische Strategie der Briten orientieren sollte. Mackinger argumentierte, die Beherrschung von Eurasien sei der "Schlüssel der Weltherrschaft", erklären Jonathan Icks und Jonas Arnold, da damit die Kontrolle vieler Seewege einherging. Um den Kontinent Eurasien zu kontrollieren, sei das "Heartland" entscheidend. Zu dieser "pivot area" zählen etwa das heutige Russland, Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgisistan und Tadschikistan.

Ob die Briten beim Great Game tatsächlich das Heartland als Schlüssel der Weltherrschaft betrachteten, ist allerdings schwer abzuschätzen. Als Mackinger seine Theorie veröffentlichte, war der Konflikt fast beendet. Dennoch ist die Heartland-Theorie auch mehr als 100 Jahre später nicht verschwunden. Plausibel erscheint sie auch mit Blick auf Russlands Vorgehen im Great Game. Obwohl das Zarenreich bereits den Großteil der "pivot area" beherrscht hat, strebte es nach dem restlichen Heartland: großen Teile des heutigen Kasachstans, Turkmenistans, Kirgisistans, Usbekistans und Tadschikistans.

Regionale Herrscher als Spielfiguren im Great Game

Im Verlauf des Great Games kam es nie zu einem direkten Krieg der Russen mit Großbritannien. Stattdessen setzten die Kolonialmächte Schahs, Emire und andere regionale Herrscher wie Spielfiguren ein, um ihre Interessen durchzusetzen. Ein Beispiel für diese Strategie findet sich bereits in den 1830er Jahren, als das russische Zarenreich dem Emir von Afghanistan in einem Konflikt mit einem Nachbargebiet zur Hilfe eilt. Die Briten fürchteten einen stärkeren russischen Einfluss in der Region und stürzten den Emir. Statt anschließend selbst zu regieren und wiederum die Russen zu provozieren, setzten die Briten einen ihnen wohlgesonnenen Afghanen ein. Nach und nach siedelten sich tausende britische und indische Menschen im Land an. Das nun britenfreundliche Afghanistan wurde zur Pufferzone zwischen der russischen Einflusssphäre und Indien.

Ein paar Jahre später schwand der britische Einfluss in Afghanistan, da das Geld fehlte, um die ethnische Gruppe der Ghilzai weiter dafür zu bezahlen, wichtige Straßen für die Briten zu kontrollieren. Die Briten und ihre East India Company erklärten sich bereit, sich aus Afghanistan zurückzuziehen. Entgegen der Abmachungen griffen Afghanen die abziehenden Truppen und Zivilisten aber mehrmals an. Die Angriffe und der eisige Winter sorgten letztendlich für die eingangs beschriebene Niederlage am Chaiber-Pass.

Der Vertrag von Sankt Petersburg

Trotz dieser Katastrophe für die Briten dauerte das Great Game noch bis ins 20. Jahrhundert. Erst 1907 einigten sich die Kolonialmächte im Vertrag von Sankt Petersburg diplomatisch auf neue Grenzlinien: Persien wurde aufgeteilt in eine britische, eine russische und eine neutrale Zone im Gebiet des heutigen Irans. Außerdem erkannte Russland an, dass Afghanistan der britischen Einflusssphäre angehörte, und zog sich aus dem Gebiet zurück.

Die Frage nach einem Sieger des Great Games ist schwer zu beantworten, da es sich letztendlich um einen Kompromiss zwischen dem British Empire und dem russischen Zarenreich handelte. Zu den Verlierern zählen die Bewohnerinnen und Bewohner Zentralasiens, die unter den Machtspielen der Kolonialmächte litten - und die Folgen des Great Games bis heute spüren.

Zentralasien nach 1907

Auch wenn sich die beiden Großmächte Russland und Großbritannien auf Landesgrenzen einigen konnten, entstanden in Zentralasien keine unabhängigen Nationalstaaten. Die meisten Länder wurden nach dem Ersten Weltkrieg Teil der Sowjetunion und erhielten erst nach dem Zerfall der Sowjetunion 1990/1991 ihre Unabhängigkeit. Lediglich Afghanistan erkämpfte sich im dritten anglo-afghanischen Krieg 1919 seine Unabhängigkeit vom British Empire - und fand dennoch keine Stabilität. Nach dem Einmarsch der Sowjetunion in den späten 1970er Jahren entwickelte sich der Bürgerkrieg in einen Stellvertreterkrieg. Die Vereinigten Staaten mischten sich mit der Begründung ein, den Kommunismus einzudämmen. Auch nach dem Ende des Afghanistankriegs 1989 war das Land geprägt von Machtkämpfen, Instabilität und Unruhe. Es folgte ein weiterer Bürgerkrieg, der im nächsten Krieg der Großmächte endete. 2001 rechtfertigten die USA ihren Truppeneinsatz mit den Terroranschlägen des 11. Septembers. Ziel der US-Amerikaner war der Sturz des Taliban-Regimes und die Bekämpfung der Terrororganisation al-Qaida, die sich zu den Anschlägen auf die USA bekannte. 2021, genau 20 Jahre später, zog der Westen seine Truppen aus Afghanistan ab, die Taliban kehrten zurück und machten innerhalb weniger Monate die Bemühungen um Frieden und Menschenrechte zunichte. Wie schon im Great Game ist der Westen in Zentralasien gescheitert.

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