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Erkundungen der Utopie

Thomas Schölderle veröffentlicht zwei neue Bücher

Die Vision von einer besseren Welt existiert seit jeher. Menschen haben sich schon immer mittels Sprache und Fantasie gerechte Welten erbaut, in denen es keine Missstände und keine Unterdrückung gibt. Wie sich die Utopie zu einem klassischen Genre entwickelt hat, welche Denker und Werke ihr zugeschrieben werden und wie über sie diskutiert wird, damit beschäftigt sich Thomas Schölderle, Publikationsreferent der Akademie für Politische Bildung, seit vielen Jahren. Jetzt sind in kurzer Zeit zwei Bücher von ihm im Frankfurter Campus-Verlag erschienen, die das Thema aufgreifen und zentrale Forschungsfragen behandeln: "Entlegene Pfade: Vergessene Klassiker utopischen Denkens" und "Auf der Suche nach dem Nirgendwo: Genese, Geschichte und Grenzen der Utopie".

Tutzing / Publikation / Online seit: 20.04.2022

Von: Sarah Bures / Foto: Beate Winterer

Ein Ort, den es nicht gibt - unwirklich und nicht-realisierbar. So kann die Utopie allein durch ihren Wortursprung aus den griechischen Vokabeln "ou" (nicht) und "tópos" (Ort) beschrieben werden und wird in diesem Sinne auch häufig in der Alltagssprache verwendet. Darin meist nicht enthalten, ist ein anderes zwingendes Element aller Utopien: die unmittelbare Sozialkritik. Doch worin liegt der Bedeutungsursprung? Wie hat sich der Begriff im Laufe der Zeit gewandelt? Und welche Werke lassen sich diesem Genre zuordnen? Was verbindet und was trennt angrenzende Formen wie Paradiesvorstellungen oder die Idee vom ewigen Frieden von der Utopie? Diesen Fragen widmet sich Thomas Schölderle, Publikationsreferent der Akademie für Politische Bildung, unter anderem in seinen beiden neuen Publikationen.

Die Realisierung von zwei Büchern innerhalb eines Jahres erklärt sich auch damit, dass es sich in beiden Fällen nicht um klassische Monografien handelt, sondern um eine Zusammenstellung ausgewählter Beiträge. Die Bücher sind allerdings keine beliebige Sammlung früherer Texte, sondern gruppieren sich jeweils um eine leitende Kernfrage. In "Entlegene Pfade" nimmt Thomas Schölderle besondere Grenzfälle utopischen Denkens in den Blick und fragt nach ihrer Verortbarkeit im klassischen Utopiediskurs. In "Auf der Suche nach dem Nirgendwo" widmet er sich grundsätzlichen Streitfragen der Utopieforschung zu Entstehung, Geschichte und Funktion der Utopie. Das vorhandene Material hat er dazu gründlich überarbeitet, alle Texte formal vereinheitlicht und die Publikationen bebildert.

Thomas Morus' Utopia als Orientierungsgröße

Ausgangspunkt beider Bücher ist ein Utopiebegriff, der sich vor allem am Prototyp der literarischen Gattung, an der "Utopia" von Thomas Morus aus dem Jahr 1516 orientiert. Die Veröffentlichung war die Geburtsstunde des Utopiebegriffs und der Beginn einer neuzeitlichen Denktradition. Mit Blick auf Form, Inhalt und Intention hatte Morus' Werk für viele Folgewerke den Charakter einer Musterschrift. Dies zeigt sich auch in zahlreichen Grundsatzdiskussionen zum Utopieverständnis, in denen unterschiedliche Interpretationen der Utopia herangezogen werden. Mit der Verknüpfung von Sozialkritik und dem Porträt einer alternativen Gesellschaft etablierte Morus letztlich ein konstitutives Grundschema, das seit über 500 Jahren alle klassischen Utopien verbindet.

Der Begriff wird seither jedoch häufig mit dem Modell eines idealen Staatswesens gleichgesetzt, obwohl Morus in seinem Werk ebenso Verhältnisse beschreibt, die satirisch oder sogar warnend gemeint sind. Schölderle erklärt, dass die besondere Anziehungskraft der Utopia auch darin besteht, dass sie eine für viele Interpretationen offene Mehrdeutigkeit besitzt. Morus schildert einen fiktiven Inselstaat als Antwort auf die ungerechten Verhältnisse der Gegenwart. Dieser hat jedoch nicht den Anspruch, realisiert zu werden, sondern das Ziel, eine Diskussion über die herrschenden Übel anzustoßen und die sozialen Verhältnisse zu kritisieren. Als Utopie versteht Schölderle generell den Entwurf eines fiktiven Gemeinwesens. Dieser ist meist eingebettet in eine literarisch-narrative Rahmenhandlung und enthält neben dem Porträt einer alternativen Gesellschaftsordnung zugleich eine kritische Analyse ihrer Gegenwart, die Missstände aufzeigen soll.

Entlegene Pfade der Utopie

In "Entlegene Pfade" beschäftigt sich Schölderle hauptsächlich mit Entwürfen, die gemeinhin eher selten mit der Utopietradition in Verbindung gebracht werden, etwa Immanuel Kants "Zum ewigen Frieden", Joachim von Fiores Prophezeiungen von einem "Dritten Reich" oder Juli Zehs düstere Vision einer Gesundheitsdiktatur in ihrem Roman "Corpus Delicti". Schölderle untersucht diese und andere Texte und stellt die wiederkehrende Frage, ob sie einen Platz in der Geschichte der Utopie finden können.
Die Antworten fallen durchaus unterschiedlich aus. Während Schölderle etwa bei James Harringtons "Oceana" (1656), Kants Friedenschrift (1795) oder Juli Zehs "Corpus Delicti" (2009) die utopietypischen Züge im Vordergrund sieht, überwiegen bei der apokalyptischen Geschichtstheologie von Joachim von Fiore eindeutig die Unterschiede zur Utopie. Der mittelalterliche Ordensgründer entwarf im ausgehenden 12. Jahrhundert als Folge zweier religiöser Erleuchtungserlebnisse eine prophetische Lehre, wonach zur Weltzeit des Vaters (Altes Testament) und des Sohnes (Neues Testament) noch ein weiteres Stadium hinzutreten muss: das Dritte Reich des Heiligen Geistes, das Joachim vor allem in Analogie zum tausendjährigen Reich des Friedens erwartet, wie es in der Johannes-Apokalypse beschrieben wird. Wenig bekannt ist, dass die NS-Rhetorik des "Dritten Reiches", das tausend Jahre währen wird, hier ihren Ursprung hat, auch wenn es sonst kaum Parallelen gibt. Joachim aber sei kein Klassiker der Utopie, schreibt Schölderle, sondern der Exeget eines göttlichen Heilsplans. Nicht der Mensch, wie in allen Utopien üblich, sondern Gott verkörpere bei Joachim das eigentliche Subjekt der Geschichte. Da die Lehre des kalabrischen Mönches häufig als Paradefall einer mittelalterlichen Utopie gilt, erhält somit auch die These von einer ledigen Kultur der Utopie im Mittelalter einen schweren Dämpfer.

Ein anderer Text darf dagegen für die Utopiegeschichte als ziemlich vernachlässigt gelten. Schölderle widmet ein weiteres Kapitel seines Buches der Geschichte einer erstaunlich progressiven Gemeinschaft aus Seeräubern auf der Insel Madagaskar. Im Jahr 1728 war ein zweiter Band als Ergänzung zur äußerst erfolgreichen "Allgemeinen Geschichte der Räubereien und Mordtaten der berüchtigten Piraten" (1724) erschienen. Darin finden sich eingangs zwei Kapitel, die das Kernstück der sogenannten Libertalia-Legende bilden. Diese ist weitestgehend eine literarische Fiktion, obwohl das beliebte Piratenbuch eigentlich als realistische Tatsachenbeschreibung zum "Goldenen Zeitalter der Piraterie" angelegt ist und bis heute als Nachschlagewerk dient. Erschienen war das Werk unter dem Pseudonym Captain Charles Johnson, wurde lange Zeit aber Daniel Defoe zugeschrieben. Letzteres gilt inzwischen als ziemlich unwahrscheinlich. Der Text beschäftigt sich über weite Strecken zwar mit traditionellen Piratenabenteuern, doch bemerkenswert ist das darin enthaltene Porträt einer alternativen Gesellschaftsorganisation mit enormer Verdichtung fortschrittlicher Ideen und politischer Ideale: Basisdemokratie, Freiheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe, Abschaffung von Sklaverei und Diskriminierung, Gütergemeinschaft und Sozialversicherung - all das viele Jahrzehnte vor der Französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte. Im Rahmen der Utopieforschung wurde die Geschichte bisher kaum rezipiert. Doch sprechen laut Schölderle viele Indizien dafür, diese Einschätzung zu revidieren.

Suche nach dem Nirgendwo

Im zweiten Buch greift Schölderle schließlich zentrale Grundsatzfragen der Utopieforschung auf. Unter dem Titel "Auf der Suche nach dem Nirgendwo" soll unter anderem geklärt werden, ob tatsächlich Thomas Morus selbst den Utopiebegriff geprägt hat, weshalb in der Utopiegeschichte immer wieder auf analoge Motive wie die Inselmetapher oder die Schifffahrtsallegorie zurückgegriffen wird und warum sich die Utopie von einer Raumprojektion zu einer Idee der Zukunft und später zu einem Warnszenario künftiger Schrecken wandelte. Außerdem macht sich Schölderle sehr für die These stark, dass Utopien sich aus methodischer Sicht vor allem als soziale Gedankenexperimente verstehen lassen.

Eines der spannendsten Themen des Buches ist aber sicherlich die Frage, wer den Utopiebegriff überhaupt erfunden hat. Zwar wird meist Morus unhinterfragt als Urheber genannt, aber so eindeutig ist die Sache nicht. Vor allem im angelsächsichen Raum hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten eine These etabliert, wonach der Buchtitel "Utopia" erst zu einem sehr späten Zeitpunkt der Herstellungsphase und zusammen mit anderen griechisch stämmigen Begriffen eingefügt wurde. So spät, dass Morus gar keinen Einfluss mehr darauf nehmen konnte und sich nachträglich aufgrund vieler Änderungen sogar von seinem Werk distanziert hätte. Schölderle zeigt, welche enormen Konsequenzen diese These, zu Ende gedacht, für die gesamte Interpretation des Werkes haben müsste. Denn der Großteil der hintersinnigen Wortspiele und Ironiesignale besteht letztlich aus griechischen Namen und Eigenbezeichnungen. Würden diese allesamt nicht von Morus stammen, wäre es mit der Selbstverständlichkeit vorbei, mit der man sich bisher zum Nachweis des spielerischen Charakters, der bewussten Mehrdeutigkeit oder des adressierten Leserkreises stets auf diese Werkdimension berufen hat.

Mit Hilfe von Morus' Briefkorrespondenz und einer minutiösen Rekonstruktion der Entstehungsphasen kann Schölderle aber zeigen, dass Morus sehr wohl vor Drucklegung Kenntnis vom neuen Buchtitel hatte, dass die griechischen Wortspiele zweifellos aus seiner Feder stammen und dass Morus kein gespaltenes Verhältnis zu seiner Schrift hatte. Die vermeintlichen Distanzierungen sind nur eine Fortsetzung routinemäßiger Bescheidenheitsformeln, die Morus auch schon vor Drucklegung des Buches anklingen lässt. Schölderle deckt zudem zahlreiche argumentative Widersprüche in der erwähnten These auf, sodass letztlich mit großer Sicherheit Morus als Urheber des Utopiebegriffs behauptet werden kann. Angenehmer Nebeneffekt: Es müssen nunmehr auch nicht großflächig Bücher korrigiert werden, die bisher pauschal Morus als Schöpfer des Utopiebegriffes führten.

Das Coverbild des jüngsten Buches hat Thomas Schölderle übrigens selbst gestaltet. Zu sehen ist ein Kupferstich von Dionysius Padt-Brugge, auf dem der schwedische Gelehrte Olof Rudbeck der Ältere das Nirgendwo offenbar gefunden hat: Auf einem Globus versucht er den umstehenden Figuren - darunter Platon, Aristoteles, Plutarch und Tacitus - zu verdeutlichen, dass in Wahrheit Schweden der Ort des versunkenen Atlantis sei. Weil Schölderle die Schwarz-Weiß-Version zu eintönig fand, kolorierte er die Vorlage kurzerhand in Eigenregie. Für Thomas Schölderle kommt Morus' Werk aber nicht nur für die Utopieforschung eine große Bedeutung zu, er arbeitet bereits seit einiger Zeit an einer Biografie über den englischen Staatsmann, Humanisten und Märtyrer.

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