Kranke Kinder haben Rechte!
Publikation zu Kinderrechten in der Medizin
Kinder entwickeln früh ihren eigenen Willen. Viele Eltern glauben dennoch, besser zu wissen, was gut und was schlecht für ihr Kind ist. Kranke Kinder dürfen nur selten mitentscheiden, wenn es um ihre Behandlung geht - obwohl die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen das festschreibt. Wie lassen sich Kinderrechte in der Kindergesundheit stärker umsetzen und fördern? Mit dieser Frage haben sich die National Coalition Deutschland, Vertreter von 27 Universitätskliniken sowie betroffene Eltern und Kinder auf dem 1. Deutschen Kindergesundheitsgipfel an der Akademie für Politische Bildung beschäftigt. Einen Überblick über die aktuelle Lage und mögliche Lösungsansätze gibt die Publikation "Kranke Kinder haben Rechte!" aus der Reihe Tutzinger Studien zur Politik.
Tutzing / Publikation / Online seit: 14.03.2022
Von: Sarah Bures / Foto: Care-for-Rare Foundation/Verena Müller
Ursula Münch / Christoph Klein / Carolin Ruther / Jörg Siegmund (Hrsg.)
Kranke Kinder haben Rechte!
Bilanz des 1. Deutschen Kindergesundheitsgipfels
Tutzinger Studien zur Politik, Baden-Baden, 2021
"Die Menschheit schuldet dem Kind das Beste, das sie zu geben hat", heißt es in der Erklärung der Rechte des Kindes, die die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1959 verkündet hat. Doch wer entscheidet im Falle einer Krankheit, was das Beste für ein Kind ist? Meist sind es die Eltern. Denn die Gesellschaft geht häufig davon aus, dass Kinder nicht in der Lage sind, sich eine eigene Meinungen zu bilden und für sich selbst Entscheidungen zu treffen. Wie sich Kinderrechte im Klinikalltag besser umsetzen lassen, haben die National Coalition Deutschland und Vertreter von 27 Universitätskliniken auf dem 1. Deutschen Kindergesundheitsgipfel an der Akademie für Politische Bildung diskutiert. Die Ergebnisse fasst die Publikation "Kranke Kinder haben Rechte!" aus der Reihe Tutzinger Studien zur Politik zusammen.
Kranke Kinder wollen mitbestimmen
Kranke Kinder sind eine besonders vulnerable Gruppe, da Entscheidungen über ihre Behandlung den weiteren Verlauf ihres Lebens beeinflussen können. In der UN-Kinderrechtskonvention steht, dass die Vertragsstaaten das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit anerkennen. Ehemalige Patientinnen und Patienten sowie Mitarbeitende des Dr. von Haunerschen Kinderspitals erklären in der Publikation, warum dieses Höchstmaß an Gesundheit in vielen Fällen nicht oder nur mit großem Aufwand erreicht wird.
Kinder nehmen beängstigende Krankenhauseindrücke viel intensiver wahr als Erwachsene und brauchen aufgrund dessen eine spezielle Betreuung und Fürsorge. Bereits die European Association for Children hat 1988 festgelegt, dass Kinder im Krankenhaus eine Umgebung vorfinden müssen, die ihrem Alter und ihrem Zustand entgegenkommt. Sie haben das Recht, über ihre Krankheit und ihre medizinische Behandlung informiert zu werden und über weitere Verläufe mitzuentscheiden. Um das zu gewährleisten, verabschiedete der Europarat die Guidelines on Child-Friendly Health Care, die sich an den Prinzipien der Kinderrechtskonvention orientieren und die auf einer Umfrage unter 2000 Kindern aus 22 Ländern basieren. Die Befragten wünschten sich mehr Rückzugsorte für sich und ihre Angehörigen, verständlichere Informationen über ihre Krankheiten und die Möglichkeit, Fragen zu stellen.
Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens
Christoph Klein, Direktor der Kinderklinik am Dr. von Haunerschen Kinderspital, und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin Carolin Ruther erklären in der Publikation "Kranke Kinder haben Rechte!", dass Kindergesundheit zwar diskutiert wird, andere Themen aber schnell wichtiger werden. In einer immer älter werdenden Gesellschaft richtet sich das Interesse der Politik in erster Linie auf ältere Menschen und nicht auf Kinder. Viele Vorschriften und Beschlüsse des Bundes, wie das Krankenhausstrukturgesetz, führen zu einer Unterfinanzierung von Kinderkliniken. Folglich werden Versorgungskapazitäten abgebaut und die Möglichkeit, sich weiterzubilden wird erschwert, was einen Verlust an Expertise bedeutet. Die Behandlung von Kindern braucht speziell ausgebildetes Personal und viel Zeit. Die besondere Art zu kommunizieren und zu unterstützen kann durch den Mangel an Personal jedoch nicht gewährleistet werden. Zeit bedeutet Geld, was sich aus ökonomischer Sicht mehr in anderen Bereichen, wie der Herz- oder Neurochirurgie rechnet.
Kinder haben aber ein Recht auf eine bedarfsgerechte und adäquate Versorgung und keine ressourcensparende. Die Pädiatrie ist aus wirtschaftlicher Sicht in ihrer Existenz bedroht und Bettensperrungen aufgrund von Personalmangel sind mittlerweile in vielen Städten Alltag. Besonders bekommen das Kinder zu spüren, die sich über einen längeren Zeitraum stationär in Kliniken aufhalten oder an chronischen Erkrankungen leiden. Viele medizinische Leistungen sind nicht mehr zeitgemäß oder stehen nicht zur Verfügung und der besondere Personalaufwand für Kinder lässt sich für Krankenhäuser kaum wirtschaftlich finanzieren. Auch für Pharmaunternehmen sind Kinder keine attraktive Kundengruppe. Mit einer Spanne von 65 bis 90 Prozent ist der überwiegende Anteil der Medikamente, welche für die Pädiatrie zum Einsatz kommen, nicht wissenschaftlich für den Einsatz an Kindern geprüft. Häufig ist im Krankenhaus zusätzlich eine psychosoziale Betreuung notwendig, die aus Spenden oder von Stiftungen bezahlt wird. Diese Sparmaßnahmen belasten auch das Pflegepersonal, weshalb es kaum Anreize für potentielle neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt und somit kaum eine Besserung der Lage in Sicht ist.
Kinder als höchstes Gut der Gesellschaft?
Kinder werden oft als höchstes Gut und Zukunft der Gesellschaft gepriesen und in den vergangenen Jahrzehnten hat sich ihre Position deutlich gebessert. Beispielsweise war die Gewaltanwendung an Kindern lange Zeit ein toleriertes Mittel in der Erziehung und der Wert der Kinder von Faktoren wie Erfolg abhängig. Das hat sich geändert. Dennoch wird die Gesellschaft den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen in vielerlei Hinsicht noch immer nicht gerecht. Kinder haben nicht nur das Recht auf körperliche Unversehrtheit, sondern unter anderem auch Ansprüche auf eine individuelle Entfaltung und Partizipation. Den Meilenstein für diese Rechte setzte die Kinderrechtskonvention 1989, die zahlreiche Entwicklungen angestoßen und zu neuen Perspektiven sowie Debatten geführt hat.
Die Verankerung der Kinderrechte
Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es Bestrebungen, Kinder nicht als bloße Objekte zu sehen, sondern als Individuen mit eigenen Rechten. 1920 wurde in Großbritannien der erste Lobbyverband für die Interessen von Kindern gegründet, der mit der Children's Charta ein Fünf-Punkte-Programm durchsetzen wollte. Dabei handelte es sich vordergründig um grundlegende Schutzverpflichtungen der Erwachsenen gegenüber den Kindern. Zur gleichen Zeit wurden auch in Polen Stimmen zur Achtung der Persönlichkeitsrechte von Kindern laut. Respekt und Gleichwertigkeit sollten die Vorstellung einer allein von Schutz und Förderung geprägten Sichtweise ergänzen. Zwar kam es im Zweiten Weltkrieg zu enormen Rückschlägen, jedoch wurde 1989 die UN-Kinderrechtskonvention ins Leben gerufen. Sie bündelt fundamentale ökonomische, soziale, kulturelle und politische Menschenrechte und hat sich als Ziel gesetzt, weltweit die Würde, das Überleben und die Entwicklung von Kindern sicherzustellen. Das Kinderwohl und die bestmögliche Entwicklung sind vorrangig zu berücksichtigen sowie die Rechte auf Nichtdiskriminierung, Beteiligung und Berücksichtigung der Meinung in allen das Kind betreffenden Angelegenheiten. Die Konvention ist das weltweit am meisten ratifizierte Menschenrechtsübereinkommen und gilt auch für jedes in Deutschland lebende Kind. Kinder werden somit von Objekten Erwachsener zu eigenständigen Subjekten und Träger ihrer eigenen Rechte. Um eine weitreichende Umsetzung zu garantieren, besteht allerdings noch rechtspolitischer Handlungsbedarf. In einer globalisierten Welt ist außerdem eine ständige Weiterentwicklung der Konvention notwendig - vor allem in den Bereichen der ökologischen Kinderrechte und der Beteiligungsrechte.
Eine bessere Umsetzung der Rechte kranker Kinder
Ein erster Schritt zur Verbesserung der Lage kranker Kinder wäre, mehr Bewusstsein für die Probleme der Kindermedizin in der Gesellschaft zu schaffen. Die Rechte von Kindern müssen angemessen im deutschen Gesundheitswesen umgesetzt und geprüft werden. Dafür können beispielsweise Monitoringsystemen etabliert werden, aber auch Lobbygruppen und Fachverbänden müssen sich stärker vernetzen, um eine Kontrollfunktion auszuüben. Kinder müssen stärker über ihre eigenen Krankheiten informiert und aktiv in Entscheidungsprozesse involviert werden. Auch eine Verankerung der Rechte im Grundgesetzt könnte das Bewusstsein in der Bevölkerung stärken. Will man die Gesundheitsversorgung von Kindern verbessern, ist also ein gesamtgesellschaftlicher Wandel notwendig.