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Die Europäische Union als globale Gestaltungsmacht

Wie Europa weltweit Standards setzt

Die Europäische Union ist weder eine militärische Supermacht noch eine charismatische Führungskraft, ihr Einfluss wird dennoch unterschätzt. EU-Regelungen verbreiten sich seit Jahren in aller Stille auf dem Globus und beeinflussen weltweit Standards und Rechtsverständnisse. Im Rahmen der Tagung "Der Brüssel-Effekt: Die EU als leiser Hegemon des 21. Jahrhunderts?" der Akademie für Politische Bildung haben Expertinnen und Experten aus den Bereichen Wirtschaft, Datenschutz, Gesundheit und Umweltschutz diskutiert, wie die EU die Welt reguliert und ob sie tatsächlich dabei ist, die kulturprägende Kraft des 21. Jahrhunderts zu werden.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 17.03.2022

Von: Sarah Bures / Foto: iStock/Leonello/Vanreeel

Programm: Der Brüssel-Effekt

Egal ob in der Wirtschaft, beim Datenschutz, in der Gesundheitspolitik oder im Umweltschutz. Still und leise hat sich die Europäische Union zu einer regulatorischen Großmacht entwickelt und besitzt längst weltweit ökonomischen und handlungspolitischen Einfluss. Die Rechtswissenschaftlerin Anu Bradford etablierte den Begriff "Brüssel-Effekt" in Anlehnung an die Fähigkeit der EU, globale Märkte eigenständig zu regulieren. Im Rahmen der Tagung "Der Brüssel-Effekt: Die EU als leiser Hegemon des 21. Jahrhunderts?" der Akademie für Politische Bildung haben Expertinnen und Experten anhand von Fallbeispielen gezeigt, wie die EU heute die Welt reguliert.

Digitales und Datenschutz

Die Digitalpolitik der EU hat in den vergangenen Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen. Julia Pohle vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung sagt: "Die Digitalisierung hat zugenommen und stellt nun ein Querschnittsmodell dar, das alle Ebenen betrifft." Egal, ob es sich um die Digitalisierung von Prozessen, Produkten oder Geschäftsmodellen handelt, die Art und Weise, wie die Gesellschaft mit ihr umgeht, hat sich stark verändert. Früher hat der Staat das Internet den Märkten und den Nutzenden überlassen und sich selbst größtenteils herausgehalten. Mittlerweile werden staatliche Interventionen und Regulierungen weitgehend gesellschaftlich akzeptiert und teils sogar gefordert. Erste Entwicklungen in diese Richtung gab es nach den Veröffentlichungen von Edward Snowden. Der US-amerikanische Whistleblower hatte aufgedeckt, wie die USA, Großbritannien und weitere westliche Partner seit 2007 die Telekommunikation und das Internet verdachtsunabhängig überwachen und die abgegriffenen Daten speichern. Datenschützerinnen und Datenschützer forderten daraufhin digitale Räume, die sich national kontrollieren lassen. Daten sollten in einem bestimmten geografischen Raum gespeichert werden, diesen aber nicht verlassen. Die EU benötigt dafür digitale Souveränität, also sowohl die Möglichkeit als auch die Fähigkeit, digital unabhängig zu sein. China und die USA nehmen in der Digitalisierung die Führungsrolle ein. Aber die EU ist ihnen auf den Fersen und arbeitet an einer Digitalstrategie, die europäische Werte in den Bereichen Datenschutz und Privatsphäre durchsetzen soll.

Im Plattformkapitalismus entwickelt sich ein weiteres Phänomen. Große Plattformen wie Google und Facebook führen Angebot und Nachfrage auf dem Markt zusammen, kontrollieren den Zugang zu Gütern und sammeln, nutzen und verkaufen immense Datenmengen. Auf diesen digitalen Monopolkapitalismus hat die EU mit verschiedenen Maßnahmen reagiert. 2018 trat die Datenschutzgrundverordnung in Kraft, wodurch personenbezogene Daten durch Unternehmen und öffentliche Einrichtungen mit Sitz in der EU geschützt werden. Das gilt auch dann, wenn EU-Bürgerinnen und EU-Bürger Angebote aus dem Ausland wahrnehmen, die sich direkt an sie richten. Da es für Unternehmen wie Google und Facebook einen besonderen Aufwand und Kosten bedeuten würde, bei jeder Nutzerin und jedem Nutzer festzustellen, ob es sich um Staatsangehörige der EU handelt, setzen viele Unternehmen die EU-Vorgaben für alle um. So beeinflusst Europa den Datenschutz weltweit, nicht nur in den USA, sondern beispielsweise auch in Indien und Afrika.

Die europäische Digitalpolitik hat den Anspruch an sich selbst, sich vom marktwirtschaftlich-liberalen amerikanischen, aber vor allem auch vom zentralistisch-autoritären chinesischen Weg abzuheben und eine dritte Option anzubieten. China hat bisher auf digitaler Ebene einen sehr geringen Marktanteil in der EU, was sich jedoch durch die digitale Seidenstraße und neue chinesische Unternehmen ändern könnte. Auf dem eigenen Markt baut China seine Wettbewerbsfähigkeit beim Thema Digitalisierung seit einigen Jahren stark aus. Unter anderem werden Projekte in Bereichen wie digitaler Infrastruktur, Smart Cities und Digital Health durchgeführt. Um damit den europäischen Markt zu erreichen, werden sich das Land und seine Unternehmen allerdings an EU-Normen anpassen müssen.

Der Binnenmarkt als globaler Einflussfaktor

Ähnlich wie in der Digitalpolitik setzt die EU auch in der Wirtschaft Produktstandards. Durch den gemeinsamen Binnenmarkt besitzt die Europäische Union eine ausgeprägte Wirtschaftskraft, die auf die nachhaltige Entwicklung Europas abzielt. Der Binnenmarkt ist ein Raum ohne Binnengrenzen und basiert auf vier Grundfreiheiten: dem freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Um am harmonisierten europäischen Markt teilnehmen zu können, müssen angebotene Produkte den Standards der EU entsprechen, aber auch bestimmten Regeln folgen. Die EU weitet ihre Regulierung auf neue Politikfelder aus, woraufhin die Mitgliedstaaten ihre Rechtslage angleichen müssen. Dies nennt sich positive Integration. Die Bereiche Gesundheit, Sicherheit, Umwelt- und Verbraucherschutz unterliegen dabei besonderem Schutz. So müssen sich Unternehmen häufig entscheiden, ob sie verschiedene Produktionslinien für EU und Nicht-EU Märkte etablieren oder ob sie sich generell an die hohen EU-Standards anpassen, erklärt Walther Michl von der Universität der Bundeswehr München. Vor allem Unternehmen aus Drittstaaten stehen unter Druck. Chinesische oder amerikanische Autohersteller finden schwer Zugang zum europäischen Binnenmarkt, da ihre Waren nicht immer den nötigen Standards entsprechen. Um in Europa Fuß zu fassen, müssen sie sich an die Vorschriften der Europäischen Union anpassen - zumindest in wichtigen Teilbereichen wie der Produktsicherheit.

Globale Gesundheit

Ebenfalls ein Querschnittsthema, das sich in allen Politikfeldern wiederfindet, ist die Gesundheit. Die WHO sieht in der Gesundheit eine soziale Dimension, da jeder Mensch weltweit Anspruch darauf hat. Deshalb spricht man auch von globaler Gesundheit. Dabei handelt es sich um einen Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen.

Nach dem Vertrag von Lissabon 2009 und besonders durch den Ausbruch der Corona-Pandemie wurde die Gesundheitspolitik von low zu high politics aufgewertet, erkärt Doris Dialer von der Ständigen Vertretung Österreichs bei der Europäischen Union. Das bedeutet, dass sie mittlerweile als Angelegenheit eingestuft wird, die von entscheidender Bedeutung für das Überleben des Staates ist und nationale sowie internationale Sicherheitsbelange aufgreift. Sie muss sich also mit den klassischen Politikfeldern wie der Außen- und Entwicklungspolitik abstimmen. Während der Corona-Pandemie wurde das besonders deutlich. Traditionell reagiert die Europäische Union auf Krisen, indem sie technokratische Agenturen schafft oder deren Tätigkeitsbereiche ausgeweitet. Ganz neu ist die Behörde HERA. Als Einheit innerhalb der EU-Kommission verfügt sie über das gesamte Spektrum an finanziellen, regulatorischen, technischen und organisatorischen Instrumenten der EU-Exekutive in der Gesundheitspolitik. Sie soll gemeinsam mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst die globale Gesundheitssicherheitsarchitektur stärken und eng mit globalen Partnern kooperieren.

Bereits in einer Mitteilung aus dem Jahr 2010 hat die EU-Kommission festgestellt, dass die Europäische Union eine starke Legitimation in der globalen Gesundheitspolitik besitzt. Dies ergibt sich aus ihrer führenden Rolle im internationalen Handel, in der globalen Umweltpolitik und in der Entwicklungshilfe sowie aufgrund ihrer Erfahrungen in Bezug auf eine universelle und gerechte Gesundheitsversorgung von hoher Qualität. Die globale Gesundheitspolitik findet in einem komplexen und dynamischen Mehrebenensystem statt. Es besteht aus einer wachsenden Zahl an über 200 internationalen Akteuren, der bekannteste ist die WHO. Nach dem Rückzug der USA aus der WHO konnte die EU ihre starke Position in den Lenkungsgremien der Organisation weiter ausbauen. Trotz dieser Erfolge bleiben die Legislativkompetenzen innerhalb der EU weitestgehend auf der nationalen oder subnationalen Ebene. Einzelne Nationalstaaten haben eine integrierte Gesundheitsstrategie, eine gemeinsame europäische gibt es allerdings nicht.

Umwelt und Klimaschutz

Dass die EU in Sachen Umwelt- und Klimaschutz internationaler Vorreiter ist, ist auf mehreren Ebenen spürbar. Benjamin Görlach vom Ecologic Institut Berlin nennt den Emissionshandel als Beispiel. Dabei werden Emissionsberechtigungen an beteiligte Unternehmen verteilt, die auf dem Markt frei gehandelt werden können. Hierdurch bildet sich ein Preis für den Ausstoß von Treibhausgasen. Dieser Preis setzt Anreize bei den beteiligten Unternehmen, ihre Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Die ersten, die dieses ökonomische System auf den Klimaschutz angewendet haben, waren die Mitglieder der Europäischen Union. Daraus hat sich ein europaweiter Emissionshandel entwickelt. Diese Art der CO2-Bepreisung hat weltweit für Aufmerksamkeit gesorgt und die EU hat Trainings angeboten, um ihr Wissen weiterzugeben. Allein in China wurden über 100 Workshops angeboten. Neben China haben unter anderem die USA und Südkorea ähnliche Systeme des Emissionshandels erarbeitet. Dadurch konnten global bereits viele Emissionen eingespart werden.

Sichtbare Wirkung zeigte auch die Ankündigung eines Klimazolls. Importe aus Ländern ohne CO2-Preis sollen an den EU-Außengrenzen einen preislichen Aufschlag erhalten. Damit wurde das Thema in anderen Ländern stärker in den Fokus gerückt. Länder, die mit Europa Handel betreiben, denken über eigene Bepreisungen nach, da es ökonomisch sinnvoller ist, selbst Geld mit dem CO2-Ausstoß einzunehmen, als Zölle an die EU zu zahlen. Gleichzeitig ist bereits die Idee entstanden, dass Länder mit einer Bepreisung untereinander auf Zölle verzichten und einen gemeinsamen Klimaclub bilden. Dieser soll nach dem Willen der Bundesregierung eine Partnerschaft sein, in der sich die Staaten auf ambitionierte Klimaziele und entsprechende Maßnahmen verpflichten. Es ist allerdings noch unklar, welche Form der Club haben soll und wo er zwischen EU und G7 zu verorten wäre.

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