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Binnenmigration in Europa

Chancen und Probleme der Freizügigkeit innerhalb der EU

Soziale Ungleichheit ist ein Migrationsfaktor - auch in der Europäischen Union. Obwohl die Freizügigkeit innerhalb Europas eine Errungenschaft für ihre Bevölkerung darstellt, rückt sie auch das enorme Wohlstandsgefälle innerhalb der EU in den Fokus. Es stellt sich die Frage, ob die Europäische Union ihre Sozialpolitik angesicht der innereuropäischen Ungleichheit ausbauen muss und kann. Darüber und über das partizipative Projekt "Konferenz zur Zukunft Europas" haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung "Soziale Ungleichheit als Migrationsfaktor" der Akademie für Politische Bildung und der Interkulturellen Akademie der Diakonie München und Oberbayern diskutiert.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 15.11.2021

Von: Carla Grund genannt Feist / Foto: Carla Grund genannt Feist

Programm: Soziale Ungleichheit als Migrationsfaktor

Soziale Ungleichheit als Migrationsfaktor

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

"Ich bin Europäerin", verkündet Martha Doll vom Münchner Amt für Wohnen und Migration und zaubert damit dem neben ihr sitzenden Renke Deckarm ein Lächeln ins Gesicht. Als Pressesprecher der Vertretung der Europäischen Kommission in München weiß er, wie schwer es vielen EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern fällt, sich mit der Europäischen Union zu identifizieren. Zu komplex, zu intransparent und zu undemokratisch lauten die Vorurteile ihr und ihren Institutionen gegenüber. Dabei ermöglicht die Europäische Union ihrer Bevölkerung viele Chancen und Unterstützungen, zum Beispiel besseren Verbraucherschutz, günstigere Preise von Produkten und Dienstleistungen und einen besonderen Schutz der Menschenrechte. Doch die Erfolge der EU schreiben sich häufig die Nationalstaaten auf ihre Fahne und heimsen damit das Vertrauen der Bevölkerung ein.

Eine unleugbare Errungenschaft der Union ist jedoch ihre Freizügigkeit. Ein grenzüberschreitender Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie eine freie Studienplatzwahl in der gesamten EU sind Beispiele für die Erfolgsgeschichte europäischer Migration. Die Freizügigkeit bringt jedoch nicht nur Gewinne. Besonders ärmere Länder wie Bulgarien und Rumänien kämpfen mit der Kehrseite der innereuropäischen Freizügigkeit. Vor allem junge und gut ausgebildete Menschen verlassen ihre Heimat in der Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben in anderen EU-Staaten. Dabei hinterlassen sie klaffende Lücken, die ihren Herkunftsländern einen innovativen und wohlstandsorientierten Wandel erschweren. Über die Möglichkeiten der Europäischen Union, soziale Gerechtigkeit herzustellen und sozialpolitische Instrumente auf EU-Ebene auszubauen, haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung "Soziale Ungleichheit als Migrationsfaktor" der Akademie für Politische Bildung und der Interkulturellen Akademie der Diakonie München und Oberbayern diskutiert. Ein besonderer Fokus lag dabei auf dem partizipativen Projekt Konferenz zur Zukunft Europas, das EU-Bürgerinnen und Bürger an der Gestaltung des zukünftigen Europas beteiligt.

Niemanden zurücklassen: Sozialpolitik auf EU-Ebene

"Die EU erinnert an eine Feuerwehr: schnell löschen wo es brennt", sagt Cecilia Bruzelius. Dabei vermisst die Professorin für vergleichende Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen stabile Strukturen und präventive Lösungsansätze. "Wieso haben wir kein EU-weites Mindesteinkommen?", fragt sie. "Und wieso haben wir in der EU keine einheitlichere Sozialpolitik?", fügt Martha Doll hinzu. Ihre Fragen beziehen zwar alle Zuhörerinnen und Zuhörer ein, doch sie richten sich in erster Linie an Renke Deckarm. "Sozialpolitik ist kein zentraler Punkt der EU, aber er ist einer", erklärt der Pressesprecher der Vertretung der Europäischen Kommission in München. 2017 enstand die europäische Säule sozialer Rechte, die mit 20 Grundsätzen in den Bereichen Chancengleichheit, Arbeitsbedingungen und Inklusion als Richtschnur für europäische Sozialpolitik dienen soll. Die Reform ist wichtiger Bestandteil der Erklärung von Porto, die die EU auf ihrem Sozialgipfel unter dem Motto "Leaving no one behind" (Niemanden zurücklassen) im Mai 2021 festlegte. Auch der Europen Green Deal und das Aufbaupaket Next Gereration EU als zentrale Themen der derzeitigen Europäischen Kommission beinhalten sozialpolitische Aspekte. Durch eine grüne und digitalisierte Wachstumsstrategie solle, so Renke Deckarm, ein neuer Arbeitsmarkt entstehen.

Doch der Vertreter der Kommission betont, wie schwer es sei, sozialpolitische Vorschläge auf EU-Ebene an die Mitgliedstaaten heranzutragen. "Noch bevor jemand bei uns nur das Wort 'Mindesteinkommen' ausgesprochen hat, sind auf seinem Handy schon 15 verpasste Anrufe von Regierungschefs", scherzt er. "Ganz so dramatisch sei es nicht", relativiert er seine Aussage, "aber die Nationalstaaten möchten sich besonders in Sachen Sozialpolitik nicht die Butter vom Brot nehmen lassen." Das starke Bedürfnis nach uneingeschränkter Souveränität der Mitgliedstaaten macht sich auch dadurch bemerkbar, dass die EU aus dem Sichtfeld der Bürgerinnen und Bürger ferngehalten wird. "Die europäische Flagge schmückt ausschließlich in ärmeren EU-Ländern staatliche Behörden, da diese größtenteils mit Unionsgeldern finanziert werden. In anderen Mitgliedstaaten ist die EU kaum sichtbar", merkt Cecilia Bruzelius an. Die finanzstarken Staaten sind zwar finanziell unabhängiger von der EU, profitieren aber nicht minder von ihrer Mitgliedschaft.

Gesellschaft im Wandel: Wir brauchen die EU heute und morgen

In Deutschland mangele es nicht an Arbeitsplätzen, sondern an Arbeitskräften, erklärt Martha Doll und fügt hinzu, dass unsere Gesellschaft angesichts der steigenden Zahl an benötigten Altenpflegern und Altenpflegerinnen in den kommenden Jahren immer mehr auf Migration und damit auf die Freizügigkeit innerhalb der EU angewiesen sein wird. Auch die Bildungsproramme Erasmus und Erasmus+ sind Errungenschaften, die allein der EU zu verdanken sind. Bezogen auf die Pandemie startete die EU eine europaweite Impfkampagne und öffnete einen 806 Milliarden Euro schweren Corona-Hilfstopf, der viele Menschen vor dem Verlust ihrer Existenz gerettet hat. Trotzdem halten sich die Parteien in den Mitgliedstaaten stark zurück, wenn es darum geht, Europa in ihre nationalen Wahlkampagnen und Parteiprogramme einzubinden. Informationen darüber, welche Politikerinnen und Politiker auf EU-Ebene fungieren und womit sie sich dort beschäftigen, erreichen die EU-Bürgerinnen und EU-Bürger nur spärlich. Diese Wissenslücken spiegeln sich im mäßigen Interesse der Bevölkerung an Europa wider und verleihen den EU-Parlamentswahlen den Ruf von Wahlen zweiter Klasse. Doch das soll sich ändern.

Konferenz zur Zukunft Europas: Die EU liegt in unseren Händen

Die EU will näher an ihre Bevölkerung heran und startete am 9. Mai 2021, dem Europatag, die Konferenz zur Zukunft Europas. EU-Bürgerinnen und EU-Bürger sind aufgerufen, sich an der Gestaltung des künftigen Europas zu beteiligen. "Wollen die Menschen an manchen Stellen mehr Europa, weniger Europa oder ein anderes Europa?", fragt Katharina Barley, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, in einem Rundfunk-Beitrag. Das Herzstück der Konferenz besteht aus einer mehrsprachigen digitalen Plattform, auf der Bürgerinnen und Bürger ihre Gedanken zur zukünftigen Gestaltung Europas einbringen und miteinander diskutieren können. Das partizipative Online-Format soll besonders junge Menschen zum Mitmachen anregen. Ihre Anliegen und Ideen zu Themen wie Umwelt, Digitalisierung und Gesundheit werden gesammelt und analysiert und fließen in Diskussionen im Rahmen Europäischer Bürgerforen und Plenartagungen im Europäischen Parlament ein. Auch die Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeit innerhalb der EU ist ein Anliegen des Projekts. Für den "Aufbau eines resilienteren Europas" seien Programme zur Förderung einer innovativen und wettbewerbsfähigen Wirtschaft in allen europäischen Staaten unerlässlich. Nur so kann den negativen Seiten der innereuropäischen Freizügigkeit entgegengewirkt und die EU als Ganzes gestärkt werden.

Nach dem Ende Konferenz, voraussichtlich im Frühjahr 2022, sollen konkrete Empfehlungen für Maßnahmen entstehen. Um das Vertrauen in die EU und ihre Institutionen zu stärken, ist es essentiell, echte Reformen durchzuführen. Doch hier könnten sich erneut die Mitgliedstaaten querstellen. Veränderungen und verbindliche Vorschriften sorgten unter einigen von ihnen für so viel Skepsis, dass die Eröffnung der Konferenz zur Zukunft Europas fast gescheitert wäre. Es bleibt also abzuwarten, wie sich die Nationalstaaten zu den entstehenden EU-Leitlinien positionieren.

Eins sollten die nationalen Regierungen in ihrer Sorge um Souveränitätsverlust nicht vergessen: Es handelt sich bei den Ergebnissen der Konferenz zur Zukunft Europas um die Forderungen der Bürgerinnen und Bürger und nach den Regeln der Demokratie liegt die Gestaltung der Zukunft bestenfalls in deren Händen.

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