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Deutschlands Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert

Tagung mit dem Generalinspekteur der Bundeswehr Eberhard Zorn

Spätestens der Afghanistan-Einsatz und die Evakuierungsmission vom Flughafen Kabul haben gezeigt, dass die Bundeswehr mit komplexeren Aufgaben konfrontiert ist als noch vor einigen Jahren. Doch Deutschland scheut sich davor, militärische Verantwortung zu übernehmen. Wie eine zeitgemäße Sicherheitspolitik aussieht und wie wir mit den Risiken digitaler Technologien in militärischen und zivilen Einrichtungen umgehen, waren Themen der Tagung "Die Bundeswehr in einem neuen Sicherheitsumfeld" der Akademie für Politische Bildung und des Bundesministeriums der Verteidigung. Neben General Eberhard Zorn, Generalinspekteur der Bundeswehr, haben Experten aus Wissenschaft und Militär über diese Fragen diskutiert.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 11.11.2021

Von: Beate Winterer / Foto: Beate Winterer

Programm: Die Bundeswehr in einem neuen Sicherheitsumfeld

Die Bundeswehr in einem neuen Sicherheitsumfeld

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

Gedränge und Geschrei vor bewachten Toren, Schüsse aus den Maschinengewehren der Taliban und Menschen, die sich an startende Flugzeuge klammern: Die Szenen, die sich im August am Flughafen von Kabul abgespielt haben, werden uns noch lange beschäftigen. Sie haben gezeigt, dass sich die Bundeswehr neben traditionellen Verteidigungsaufgaben in Zukunft auch immer mehr unkonventionellen Herausforderungen stellen muss. Acht Flugzeuge der Luftwaffe waren für die Evakuierungsoperation zwei Wochen im Einsatz. "Wir haben alles vollgepackt, was irgendwie ging", erzählt General Eberhard Zorn, Generalinspekteur der Bundeswehr. Der Einsatz sei gelungen, "vom ersten bis zum letzten Flugzeug", sagt der ranghöchste Soldat Deutschlands. Zumindes was die militärische Seite betrifft. Der Bundestag hat viel zu lang keine Entscheidung gefällt, was mit den Ortskräften passieren soll, die die Bundeswehr und Nichtregierungsorganisationen unterstützt hatten. Die Ministerien verfolgten im Sommer unterschiedliche Interessen. "Es war von vornherein klar, dass nicht alle, die am Flughafen waren, ausgeflogen werden können", sagt Eberhard Zorn. Auf der Tagung "Die Bundeswehr in einem neuen Sicherheitsumfeld" der Akademie für Politische Bildung und des Bundesministeriums der Verteidigung haben er und weitere Experten aus Militär und Wissenschaft über die deutsche Sicherheitspolitik diskutiert.

Deutschlands Scheu vor militärischer Verantwortung

Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, sieht eine große Herausforderungen für die Bundeswehr in der Rolle, die sie in der Welt einnimmt. "Wir wollen nicht mehr Verantwortung übernehmen", sagt der Experte für Sicherheitspolitik. Der Münchner Konsens, den der damalige Bundespräsident Joachim Gauck, die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Frank-Walter Steinmeier, damals noch Außenminister, auf der Sicherheitskonferenz 2014 formulierten, ist verhallt. Die Kanzlerin hat ihn nie übernommen. "Es fehlt der Wille, den Anspruch auf mehr Verantwortung mit Mitteln zu hinterlegen", sagt Masala.

Er hält Deutschland für nicht für strategiefähig: "Für die Welt des 21. Jahrhunderts haben wir eine inadäquate Sicherheitsarchitektur." Der 20 Jahre dauernde Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr sei auch daran gescheitert, dass der vernetzte Ansatz, also die Zusammenarbeit aller Bereiche, nicht geklappt habe. Masala hätte sich im Bundestag einen Afghanistan-Ausschuss gewünscht, in dem sich unter anderem Vertreterinnen und Vertreter des Bundesministeriums der Verteidigung, des Auswärtigen Amts und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung austauschen und ihre Arbeit koordinieren. Dies wäre auch bei anderen Einsätzen möglich. Der Kanzler oder die Kanzlerin übernimmt in schwierigen Situationen die Führung und vermittelt bei Friktionen zwischen den Ministerien. Carlo Masala spricht von einem "Nationalen Sicherheitsrat" nach dem US-amerikanischen Vorbild.

Das Militär als Druckmittel der Diplomatie

Doch in Deutschland herrsche ein grundlegendes Missverständnis, wozu die Bundeswehr da sei. "Nicht als Reaktion auf Krach-Bumm-Peng", erklärt Masala, "sondern als Mittel der Diplomatie." Für die USA liege der Einsatz der Streitkräfte als 'option of last resort' - als letzter Ausweg - immer auf dem Tisch. Die Armee dient als Druckmittel, "als Drohgebährde, um die Diplomatie zur Geltung zu bringen", wie es Carlo Masala formuliert. Doch deutsche Politiker und Politikerinnen schrecken davor zurück, mit militärischen Interventionen zu drohen. Im Kosovokonflikt hat die Bundesrepublik dadurch auch die Position der US-Amerikaner geschwächt. In der Bevölkerung kommt das allerdings gut an. "Wir haben den Wunsch, eine große Schweiz zu sein - wohlhabend, aber mit dem Rest der Welt nichts zu tun. Das ist aber Idealismus", erklärt Masala. Er unterstellt der deutschen Gesellschaft ein schizophrenes Verhältnis zur Bundeswehr: Man wolle eine Top-Armee, die aber bloß nicht für ihren eigentlichen Zweck eingesetzt werden soll. Beheben die Soldatinnen und Soldaten stattdessen Defizitie im Staat, indem sie bei Hochwassern Sandsäcke schleppen und Lebensmittel verteilen oder für das Gesundheitsamt in der Corona-Pandemie Kontakte nachverfolgen, steigen ihre Popularitätswerte.

Deshalb ist der Verteidigungsetat oft das erste Opfer von Sparmaßnahmen. Carlo Masala befürchtet dies auch wieder, wenn es in der Haushaltsplanung darum geht, die Ausgaben für die Bekämpfung der Corona-Pandemie mit der Schuldenbremse in Einklang zu bringen. "Den Politiker möchte ich sehen, der weniger für Digitalisierung und Gesundheit, aber 80 Milliarden für die Bundeswehr ausgibt", bringt er es auf den Punkt. Als Lösung schlägt er deshalb vor, den 360-Grad-Ansatz der deutschen Verteidigungspolitik aufzugeben und sich nicht für alle Szenarien gleich intensiv zu rüsten. Stattdessen sollten Prioritäten gesetzt und die wichtigsten Aufgaben vertieft werden.

Digitale Technologien als Sicherheitsrisiko

Resilienz könne dennoch durch den Aufbau oder die Wiederherstellung von Parallelstrukturen geschaffen werden. Beispiele sind Sirenen zusätzlich zu Warn-Apps und ein System zur Nachrichtenübermittlung durch Boten für den Fall, dass digitale Übertragungssysteme gehackt werden. Götz Neuneck, Physiker am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg, hält es ohnehin für nötig, die Risiken digitaler Technologien zu diskutieren - insbesondere in Bereichen wie der Strom- und Wasserversorgung.

Oberstleutnant Bernd Kammermeier weitet das auf militärische Einrichtungen aus. "Man kann eine Luftabwehreinrichtung auch hacken statt sie zu bombardieren. Das Ergebnis ist dasselbe: Die Kampfflugzeuge können ungefährdet darüber fliegen", sagt der IT-Experte der NATO School Oberammergau. Er betont aber auch: Einfach so lasse sich ein gut gesichertes militärisches System auch von Hackern nicht angreifen. Ein Cyberangriff brauche Wochen und Monate Vorbereitung. Dennoch stellt General Eberhard Zorn die Frage, inwiefern bessere Panzer noch zeitgemäß sind, wenn Störsender und Hacker viel größeren Schaden anrichten können. Die Ausrüstung der Streitkräfte betreffe jedoch auch immer Industrieinteressen, sagt der Generalinspekteur der Bundeswehr.

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