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So gelingt die investigative Recherche

Nachwuchsreporter lernen von Profis

Journalismus dient dem öffentlichen Interesse und der Aufklärung von Skandalen und ist daher ein bedeutsames Instrument zur Sicherung der Demokratie. Um dies zu gewährleisten sind eine saubere Recherche und sichere Methodenkenntnis erforderlich. In der "Recherchewerkstatt" der Akademie für Politische Bildung und der Organisation ProRecherche haben angehende Journalisten und Journalistinnen gelernt, worauf es beim Aufspüren von Geschichten ankommt. Ein Investigativjournalist und eine Investigativjournalistin berichteten außerdem von ihren schwierigsten Recherchen und gaben Tipps für die Arbeit mit Quellen und Informanten.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 04.11.2021

Von: Julia Spehr / Foto: Sophie Behrendt

Programm: Tutzinger Journalistenakademie: Recherchewerkstatt

Recherchewerkstatt

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

Investigativ bezeichnet eine umfassende Recherche, die Quellen einbezieht, die nicht öffentlich zugänglich sind. Die Arbeit erfolgt daher meist verdeckt und ist zeitaufwendig, denn investigative Journalistinnen versuchen, auch Insiderinformanten aufzuspüren. Investigativer Journalismus kann mit einem Risiko für Journalisten und Informantinnen verbunden sein, denn oft werden die Machenschaften einflussreicher Personen und Institutionen enthüllt. Und die Folgen einer solchen Veröffentlichung besitzend enorme Tragweite. Wie eine gute Recherche dennoch gelingt, haben Nachwuchsreporterinnen und Nachwuchsreporter in der "Recherchewerkstatt" der Akademie für Politische Bildung und der Organisation ProRecherche gelernt.

Hartnäckigkeit und Insider enthüllen Wirecard-Skandal

Melanie Bergermann, die in der WirtschaftsWoche über den Wirecard-Skandal berichtet hat, gibt den Teilnehmern an die Hand, Behauptungen eines Unternehmens, die sich nicht nachvollziehen lassen, stets zu hinterfragen und sich nicht mit der Aussage abwimmeln zu lassen, die Angelegenheit sei eben kompliziert und für Außenstehende nicht verständlich. Sie rät anderen Journalisten, die eigenen Thesen auch abzusichern, indem sie nach Belegen für die Gegenthese suchen. Mit dieser Strategie und Hartnäckigkeit gelang es Melanie Bergermann und ihren Kollegen, den Wirecard-Skandal aufzudecken. Der Hinweis eines Kapitalmarktprofis, dass sich die Bilanzen des Unternehmens nicht nachvollziehen ließen, war der Ausgangspunkt der jahrelangen Recherche. Nachdem sich Melanie Bergermann den Geschäftsbericht selbst angeschaut hatte und ihn auch nicht verstand, begann sie, den Ungereimtheiten auf den Grund zu gehen. Geholfen haben dabei später vor allem Insider aus der zweiten Reihe, die bei Tochtergesellschaften im Ausland beschäftigt waren.

Ibiza-Gate: Die Recherchen zum Strache-Video

Bastian Obermayer von der Süddeutschen Zeitung berichtete von der Ibiza-Affäre, die zur Aufdeckung des Korruptionsskandals der FPÖ führte. Das Video, das dem Ressort Investigative Recherche zugespielt wurde, zeigt den damaligen österreichischen Vizekanzler Heinz-Christian Strache, der in einer Villa auf Ibiza mit einer angeblichen Oligarchen-Nichte über Großinvestitionen und Parteispenden verhandelt. Um ihre Quelle zu schützen, schweigt die Süddeutsche Zeitung über die Herkunft des Videos. Informanten und Informantinnen sind im Journalismus grundsätzlich zu schützen. Sobald Informationen veröffentlicht werden, ist ein Schutz aber häufig nicht mehr möglich. Daher ist es wichtig, gerade medienunerfahrene Menschen vorher zu warnen und ihnen die Konsequenzen der Berichterstattung zu erklären.

Gleichzeitig gilt es, sich von Informantinnen und Informanten nicht abhängig zu machen. Bastian Obermayer betonte gegenüber der Kontaktperson, dass die Süddeutsche Zeitung kein Geld für das Ibiza-Video zahlen werde. Dieser Aspekt sei sehr wichtig gewesen, um die Diffamierung des Journalismus zu verhindern. Denn dieser dient dem öffentlichen Interesse und nicht den wirtschaftlichen Interessen eines Verlags oder den persönlichen Interessen der Redakteurinnen und Redakteure. Als die Süddeutsche Zeitung das Videomaterial aus der Villa schließlich unentgeltlich erhalten hatte, prüfte ein Digitalforensiker die Aufnahmen auf ihre Echtheit. Florian Klenk, Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung Falter, bestätigte den deutschen Kollegen die korrekte Interpretation der Aussagen im österreichischen Dialekt. Diese Prüfschritte stellten die Qualität und Wahrhaftigkeit der Berichterstattung sicher. Doch sie haben nach der langwierigen Recherche auch erneut Zeit gekostet.

Investigative Recherche im Lokaljournalismus

Zeit, an der es dem Lokaljournalismus mangelt, wie Silja Kummer von der Heidenheimer Zeitung erklärt. Um tiefer in ein Thema einzusteigen, brauche es außerdem mehr finanzielle Investitionen. Dennoch sieht sie im Lokaljournalismus Potenzial für umfassendere Recherchen. Dies zeigen ihre Erfahrungen in der Heidenheimer Lokalpresse und ihre Recherche zum Crossboarder-Leasing der Stadt Heidenheim und einiger Nachbarkommunen. Diese hatten ihre Abwasseranlagen einem Leasingnehmer in den USA überschrieben und dabei finanzielle Risiken auf sich genommen. Bei ihrer Arbeit orientierte sich Silja Kummer an einem Rechercheplan, wie sie es in einem Workshop gelernt hatte. Der Leitsatz dabei: Quellen immer von außen nach innen befragen! Dies bedeutet, zunächst mit denjenigen Quellen zu sprechen, die ein Interesse an der Aufklärung haben, und danach mit den gegnerischen, die die Aufklärung verhindern möchten. So konnte Silja Kummer die Priorität der Befragungsquellen strukturieren und den Rechercheplan zugleich als Protokoll nutzen. Die Reflexion der festgehaltenen Ergebnisse der jeweiligen Quellen hat ihr geholfen, offene Fragen zu klären. Jedoch bereitete ihr die Pressestelle der Stadt große Probleme bei der Recherche, denn sie befand sich in einem Dilemma zwischen presserechtlicher Auskunftspflicht und der mit dem Leasingnehmer vertraglich vereinbarten Schweigepflicht. Außerdem zögerte die Leitung der Heidenheimer Zeitung, Berichte zu veröffentlichen, die sich gegen die Stadt wenden. Aufgrund des Erfolgs und des bestehenden öffentlichen Interesses an der Heidenheimer Recherche, die Silja Kummer sogar 2015 den zweiten Platz des Otto-Brenner-Preises einbrachte, ist sie der Meinung, dass auch auf der lokalen Ebene tiefere Recherchen wichtig seien und ein Zeitfenster dafür geschaffen werden sollte, um die journalistischen Fähigkeiten auszuschöpfen. In Zukunft sieht sie Lokalzeitungen nicht mehr als Medium, um Pressemitteilungen zu veröffentlichen.

Sicher recherchieren im Internet

Auch aus dem Internet ist investigativer Journalismus nicht mehr wegzudenken. Als Schlüsselaspekte für eine sichere Online-Recherche nennt der freie Journalist Peter Welchering Anonymität, verschlüsselte Kommunikation und Vermeidung von Tonaufnahmen. Bei jeder Nutzung sammeln herkömmliche Suchmaschinen Daten und erstellen Nutzerprofile. Daher empfiehlt Welchering, für die Recherche alternative Suchmaschinen und E-Mail-Anbieter zu verwenden, zum Beispiel metager.de, etools.ch oder Tempr.email. Bei seiner Recherche über Facebook fand er heraus, dass das Unternehmen mithilfe der Datenspuren, die Nutzerinnen und Nutzer im Netzwerk hinterlassen und der Ortung ihres Standortes eine Liste mit Profilen erstellt hat, die Facebook möglicherweise gefährlich werden könnten. Diese Datenmacht lässt sich schwer mit dem Datenschutz der Nutzer vereinbaren und sollte insbesondere Journalistinnen zur Vorsicht mahnen.

Eine weitere Gefahr in der Online-Recherche sind mediale Fakes, in manipulativer Absicht verbreitete Falschmeldungen, die zu einer Verzerrung der Berichterstattung beitragen können. Wie lassen sich solche Fakes erkennen? Peter Welchering empfiehlt als Mindeststandard, sich nie auf nur eine Quelle zu verlassen. Wie leicht es ist, die Wirklichkeit zu verzerren, zeigt ein Pressebild von Prinz William, der scheinbar die Hand zu einer ausfallenden Geste erhoben hat. Was in den Medien zum Skandal hochgeschrieben wurde, könnte durch einen anderen Blickwinkel der Kamera banaler kaum sein: Prinz William zeigt mit seinen Fingern die Zahl Drei. Welchering gibt aber zu, dass gerade Deepfakes, realistisch wirkende Medieninhalte, die durch eine Künstliche Intelligenz geändert oder verfälscht wurden, schwer zu erkennen sind. Die Manipulation von Medien führt zur Frage nach der Objektivität medialer Berichterstattung und journalistischer Wertehaltung. Eine absolute Objektivität sei nicht möglich, sagt Welchering, dennoch sollte die Arbeit anhand der journalistischen Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit reflektiert werden.

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