Die Lage der ordentlichen Gerichtsbarkeit
Aufsatz von Bettina Limperg zur Verfassungspolitik
Der Aufsatz "Die Lage der ordentlichen Gerichtsbarkeit" der Präsidentin des Bundesgerichtshofs Bettina Limperg wurde im 2020 im Sammelband "Die dritte Gewalt in Deutschland und Europa: Symposium zur Verfassungspolitik zum 75. Geburtstag von Hans-Jürgen Papier" veröffentlicht.
Tutzing / Publikation / Online seit: 13.09.2021
Von: Bettina Limperg / Foto: Pixabay License/An-Mallander
Ursula Münch / Gero Kellermann (Hg.)
Die dritte Gewalt in Deutschland und Europa
Symposium zur Verfassungspolitik zum 75. Geburtstag von Hans-Jürgen Papier
[Eigen- und Kooperationsveröffentlichungen], Tutzing, 2020
1. Drei Geschichten zum Zustand der deutschen ordentlichen Justiz
Die Lage der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist "ernst, aber nicht hoffnungslos", mit diesem Spruch zu beginnen, dazu fordert der Blick auf die Lage der ordentlichen Gerichtsbarkeit geradezu heraus. Den Kalauer, dass die Lage hoffnungslos, aber nicht ernst ist, spare ich mir.
Aber ganz im Ernst! Wie ist die Situation der ordentlichen Gerichtsbarkeit? Es kommt - wie so oft - darauf an: Erstens, wen man fragt, zweitens aus welcher Perspektive man die Frage stellt und drittens natürlich und vor allem, welche Erwartungen man an die ordentliche Gerichtsbarkeit als wesentlichen Teil der dritten Gewalt hat.
In Vorbereitung dieses Beitrags ist mir aufgefallen, dass ich zum Zustand der deutschen ordentlichen Justiz parallel und zu verschiedenen Anlässen mindestens drei Geschichten erzähle:
Die erste Geschichte, die ich überwiegend im Ausland, in Europa und außerhalb Europas erzähle, ist eine große Erfolgsgeschichte: die Ausprägung der guten deutschen, von Dogmatik und Methodik geprägten Rechtstradition, das hohe Lied gelungener Gewaltenteilung und institutioneller Unabhängigkeit, die beeindruckende Effizienz und gleichzeitige Güte gerichtlicher Entscheidungen und last not least die durchweg sehr hohe, durch Umfragen wie Roland-Rechtsreport belegte Akzeptanz der dritten Gewalt bei den Rechtsunterworfenen, vor allem also bei den Bürgerinnen und Bürgern. Ich berichte all dies mit großer Überzeugung und mit wechselnden, aber stets treffenden Beispielen.
Die zweite Geschichte, die ich ebenfalls für wahr halte, die ich aber eher im Inland, bei Tagungen und Vorträgen erzähle, ist etwas differenzierter und facettenreicher. Sie weist quasi als 3D-Modell mehr Licht- und mehr Schatteneffekte auf, was insgesamt aber immer noch ein sehr hübsches Bild von der Justiz ergibt. In meine Erzählung füge ich hier meiner ersten Erfolgsgeschichte ergänzend "in der Regel", "grundsätzlich", "in der weit überwiegenden Zahl der Fälle", mit anderen Worten relativierende Satzkomponenten, ein. Diese Relativierungen können allerdings irritierend wirken. Sie werden zugeben, dass der Satz "die richterliche Unabhängigkeit ist in der Regel gewährleistet", die Juristin aufhorchen lässt, ebenso wie der Satz "die Eigenständigkeit der dritten Gewalt wird grundsätzlich respektiert". Jede und jeder würde sofort und mit Recht nach der Ausnahme fragen.
Die dritte Geschichte erzähle ich eigentlich nur mir selbst, manchmal zu sehr fortgeschrittener Stunde auch Gleichgesinnten, verstehenden und vertrauten Gesprächspartnerinnen oder Gesprächspartnern. Sie handelt von respektlosen Äußerungen oder institutioneller Ignoranz in Bezug auf die Justiz als Ganzes, gelegentlich auch durch öffentliche Amtsträger, oder von einer generalisierenden Verunglimpfung des Berufsstandes der Richter, Staatsanwälte oder Rechtsanwälte im Ganzen - gerade im Jahr 2018 gab es eine Reihe solcher Bemerkungen, auch von Persönlichkeiten, die damit bisher nicht aufgefallen waren.
Gleichwohl möchte ich mein Thema von der "Lage der ordentlichen Gerichtsbarkeit" auf die erste und zweite Erzählung begrenzen und mich des Weiteren auf eine generalisierende Sicht beschränken, die sicherlich durch Peter Küspert auf das Trefflichste in Bezug auf die bayerische Gerichtsbarkeit vertieft und verfeinert - und vermutlich auch wieder aufgehellt wird. Ich werde im Folgenden die Lage der ordentlichen Gerichtsbarkeit beleuchten und dabei versuchen, zunächst eine Außenansicht einzunehmen und daran eine Binnensicht anzuschließen sowie daran anknüpfend Handlungsfelder für den Bund und die Länder benennen, die zur Stabilisierung der deutschen ordentlichen Gerichtsbarkeit beitragen könnten.
2. Perspektiven
Die Lage der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist sicherlich mindestens aus zwei Perspektiven zu beleuchten: einer äußeren und einer inneren Sicht.
2.1 Äußere Sicht
Die äußere Seite oder die Sicht auf die ordentliche Gerichtsbarkeit wird geprägt durch wiederum zwei Komponenten: eine erstens (noch) grundsätzlich sehr hoch ausgeprägten generellen Zustimmung der Bevölkerung, die mir zweitens in Fachkreisen, also insbesondere bei Anwältinnen und Anwälten, aber auch Vertretern der Wirtschaft sogar noch ausgeprägter erscheint.
Der Roland-Rechtsreport verzeichnet auch in diesem Jahr eine im Allgemeinen hohe Zustimmung der Bevölkerung. 64 Prozent der Bürgerinnen und Bürger haben sehr viel oder ziemlich viel Vertrauen in das Rechtssystem (zum Vergleich: zur Polizei haben 74 Prozent ein solches Vertrauen, zu mittleren und kleineren Unternehmen 78 Prozent, zur Verwaltung im Allgemeinen und zu Zeitungen 43 Prozent, die Bundesregierung hat bei Erhebung der Umfrage im Januar 2018 eine Zustimmungsquote mit viel oder ziemlich viel Vertrauen von 34 Prozent erreicht). Das sieht zunächst recht gut aus für die Justiz.
Erschrocken bin ich bei den verfeinernden Fragen, die das erwähnte Grundvertrauen auch tatsächlich nicht recht erklären können. So hat nur jeder Dritte großen Respekt vor Richtern, nur jeder Vierte glaubt, dass man sich bei der deutschen Justiz darauf verlassen kann, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Im Osten glauben das sogar nur 14 Prozent. Ebenfalls nur jeder Vierte, im Osten sogar nur jeder Fünfte glaubt, dass die Richter gründlich und gewissenhaft arbeiten. Dazu passt der signifikant angestiegene Wert zu der Frage nach einer Überlastung der Justiz auf nunmehr 77 Prozent Zustimmung (von 60 Prozent im Jahr 2010).
Die Gesamtschau belegt damit, dass die Bevölkerung - im Westen mehr als im Osten - der Justiz einen hohen, im Grunde aber nicht (mehr) belegten Vertrauensvorschuss oder -überschuss entgegenbringt, der nicht (mehr) belastbar ist. Genau das aber muss Sorge bereiten. Gerade nicht belegtes Vertrauen - in der Psychologie vielleicht mit Urvertrauen gleichzusetzen - ist etwas, das, ist es einmal verscherzt, kaum oder nur sehr schwer wieder aufzubauen ist. Wir sehen das in vielen anderen Bereichen der öffentlichen Wahrnehmung, die einen solchen Ansehensverlust bereits hinter sich haben. In Summe nährt das das Gefühl der Bürgerinnen und Bürger, dass etwas schief läuft in Deutschland, mit allen Folgen für das Anwachsen des Populismus. Wäre mit anderen Worten der Roland-Rechtsreport die Pisa-Studie der Justiz, es müsste bei solchen Werten einen gewaltigen Aufschrei geben.
2.2 Innere Sicht
Nach meinem Eindruck ist oder war aber auch der Blick der Justiz auf sich selbst in den vergangenen Jahren in einem gewissen Abwärtstrend. Leider haben wir dazu keine belastbaren Zahlen oder gleichmäßige Erhebungen: Die im europäischen Kontext erhobenen Umfragen geben nur einen teilweisen Einblick, systematische inländische Erhebungen, wie jüngst die Belastungsuntersuchung aus der bayerischen Justiz, liegen nur vereinzelt vor. Woran liegt es, dass in der Justiz nur gedämpfte Gefühle von der eigenen Kraft und Leistungsfähigkeit im Vordergrund stehen?
Ganz verallgemeinernd wird man hinsichtlich der letzten Jahre anführen können, dass die hohen Effizienzsteigerungen - etwa durch weitgehende Abschaffung des Kammerprinzips und zunehmende Möglichkeiten der Beschlussfassung in schriftlichen Verfahren, die zunehmende Komplexität von Verfahren, die hohen Ansprüche des europäischen Rechtsraums und der sowohl strafrechtlich als auch zivilgerichtlich spürbare Druck der Globalisierung - die Gerichte und Staatsanwaltschaften an den Rand der Belastbarkeit, teilweise weit darüber hinaus gebracht haben. Die Justiz, jedenfalls die ordentliche Gerichtsbarkeit, kommt mir in einem Wort zusammengefasst "erschöpft" vor, wie ein großes, zwar noch glänzendes Behältnis, dem aber das Fluidum, der Esprit abhandengekommen ist.
Zwar ist in den letzten Jahren jedenfalls in einzelnen Ländern eine gewisse Trendwende eingeleitet. Nicht nur ist die Wertschätzung für die Justiz, jedenfalls seitens der Fachministerien, wieder sichtbarer geworden, auch sind deutliche und spürbare Anstrengungen zu einer besseren Ausstattung in personeller und sächlicher Hinsicht erfolgt. Allerdings trifft das längst noch nicht für alle Justizen der Länder zu und ist damit für das Gesamtbild noch nicht prägend geworden. So wird vielfach von Problemen berichtet, noch geeignet erscheinende Bewerber für den höheren Justizdienst zu gewinnen. Insgesamt scheint die Attraktivität des Berufsbildes abgenommen zu haben.
2.3 Reformaktivitäten
Auch der Bundesgesetzgeber hat - jedenfalls theoretisch - verstanden, dass die Justiz entlastet werden muss und wenigstens gewisse Verfahrenserleichterungen als Zielmarke definiert. Gerade aber die Reform des Strafprozesses ist auf halber Strecke steckengeblieben und viele kluge Gedanken des sogenannten Strafkammertages - einer von der Runde der Oberlandesgerichtspräsidentinnen und -präsidenten sowie des Kammergerichts und Bundesgerichtshofs initiierten und durchgeführten Zusammenkunft von strafrechtlichen Praktikern - sind zwar von der Anwaltschaft laut diskreditiert, von der Politik aber nicht spürbar wahrgenommen worden.
In dieser Situation sollte der "Pakt für den Rechtsstaat" ein Highlight der Rechtspolitik der neuen Bundesregierung abbilden. Ich habe möglicherweise das Wesen dieses Paktes noch nicht richtig verstanden: Aber weder sehe ich, wie der Bund annähernd 4 000 Stellen - 2 000 für Richter und Staatsanwälte und nochmals so viele für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - in die Länder bringen könnte noch wie Sachmittel des Bundes in Justizhaushalte der Länder eingebracht werden sollten.
Auch der angedeutete Weg, die IT der Justiz bundesgeleitet zu stärken, zu bündeln und zu unterstützen kann angesichts der im Föderalismus vorgesehenen und seit Jahren mit größtem Aufwand beschrittenen Wege der Einführung der elektronischen Akten und des elektronischen Rechtsverkehrs kaum gelingen. Die drei Länder Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen haben bereits erheblichste Anstrengungen unternommen, Wege der Elektronifizierung einzuschlagen. Trotz großen Bedarfs an finanzieller und persönlicher Ausstattung der entsprechenden Leitprojekte sehe ich nicht, wie sich der Bund hier sinnvoll einbringen könnte. Vielleicht könnte der Bund die eine oder andere Kabeltrasse und Datenleitung von Nord nach Süd und Ost nach West voranbringen, aber ich fürchte, auch insoweit dürften Grenzen gesetzt sein.
Letztlich werden es die für die Justizen zuständigen Länder selbst in die Hand nehmen müssen. Dafür sind allerdings - neben schlichten Stellenerhöhungen - erhebliche Anstrengungen erforderlich, die ich im Folgenden nur anreißen kann:
1. Die Justiz muss in die Lage versetzt werden, sich selbstkritisch zu hinterfragen und sich mit eigenem Anspruch und ihrer Wirkung beziehungsweise Wirklichkeit zu befassen. Dazu gehört die Reflexion des Berufsbildes, der Aufgaben und Bedingungen ebenso wie das Bewusstsein der Verantwortung, die mit richterlichem Ethos auszufüllen ist. Es schadet der Justiz auch nicht, sich mit ihren Konkurrenten auseinanderzusetzen und etwa zu schauen, was die Schiedsverfahren so attraktiv macht. Dazu gehört sicherlich auch ein aktives Verfahrensmanagement, hohe Spezialisierung und verlässliche Kontinuität.
2. In Maßnahmenbündeln der Länder müssen, dass scheint mir auf der Hand zu liegen, auch Aussagen getroffen werden zu Ausbildung, Fortbildung, Supervision beziehungsweise Coaching und modernen Führungsinstrumenten. In diesen Segmenten muss die Justiz investieren und Angebote schaffen, notfalls auch verpflichtende Elemente vorsehen. Gerade der stets entscheidungsverpflichtete Richter muss sich entlasten können, um wach, aufmerksam und spannungsreich zu bleiben.
3. Auch das europäische Recht mit all seinen Herausforderungen für die nationale Rechtsprechung stellt uns vor erhebliche Herausforderungen. In meinem Kartellsenat diskutieren wir nicht selten intensiver, ob ein "Acte clair" vorliegt als unsere eigentlich für richtig empfundene Entscheidung. In diesem Zusammenhang wäre - als Exkurs - auch zu denken an eine Reform der Vorabentscheidungsverfahren durch Einbindung der jeweils obersten nationalen Instanzen. Jedenfalls für den Bundesgerichtshof kann ich sagen, dass wir gelegentlich zu einer Vorlage eines nationalen Instanzgerichts nochmals eine grundsätzliche Entscheidung hätten treffen wollen beziehungsweise wenigstens eine Anhörung des Europäischen Gerichtshofs gewünscht hätten, bevor dieser in der Sache entschieden hätte.
4. Politik muss der Justiz als Teil der dritten Gewalt den ihr zukommenden Raum belassen. Damit ist Kritik an der Justiz zwar nicht unzulässig, aber die Grundüberzeugung von der Notwendigkeit einer unabhängigen dritten Gewalt muss im politischen Diskurs jederzeit erkennbar sein.
5. Die Gesellschaft muss in einen Prozess und letztlich eine Strategie der Überzeugung von der Notwendigkeit einer unabhängigen Justiz eingebunden und mitgenommen werden. Das kann durch eine leistungsstarke Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, aber auch durch Tage der offenen Tür und Einblicke in den Arbeitsalltag der Justiz gelingen. Medien als Teil der Gesellschaft müssen professionell eingebunden und fortlaufend informiert werden. Es muss Zeit und Raum für Hintergrundgespräche und erklärende Ansprachen gewährt und durch bestens ausgestattete Pressesprecher und Öffentlichkeitsarbeitende vermittelt werden. Die Informationspolitik der Justizen muss und kann verbessert werden. Gute Webseiten mit allgemeinen Informationen, Formularwesen und Ansprechpartnerangeboten, Vorträge und Angebote zum Anfassen können Vertrauen erwecken und belastbar werden lassen.
6. Aber auch der Bund könnte sich an einem Pakt für den Rechtsstaat konkret und zügig beteiligen. Es könnten beispielsweise zwei starke Enquete-Kommissionen eingesetzt werden, die sich des Zivil- und Strafprozesses aus der Sicht der Praxis und der praktischen Bedürfnisse der Verfahrensbeteiligten annehmen. Eine diesen Namen verdienende Beteiligung an wesentlichen Gesetzeswerken, die etwa nicht nur eine Woche Frist zur Stellungnahme zur Musterfeststellungsklage vorsieht, müsste institutionalisiert werden. Eine Politik des "Gehörtwerdens" wäre auch im justiziellen Umfeld wünschenswert. Gestärkt werden könnten auch Erkenntnisse zu "Justizdaten". Rechtstatsächliche Forschung, wissenschaftliche Erkenntnisse zu Entscheidungsbedingungen und Einflussfaktoren etc. sind kaum vorhanden.
7. Es könnte - gerne auch massiv - in die IT-Ausstattung und die Konzeption des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Akte des Bundes investiert werden durch Personal- und Sachmittel.
8. Die große europäische Verantwortung der Obersten Bundesgerichte und des Generalbundesanwaltes muss stärker unterstützt und die zahlreiche Teilnahme von Richterinnen und Richtern an Rechtsstaatdialogen aller Art angemessen in den Personalbedarf eingepreist werden. Auch die Übersetzung wenigstens ausgewählter Entscheidungen in die englische und französische Sprache sollte ermöglicht werden. Angelika Nussberger etwa weist immer wieder mit Recht darauf hin, dass gute deutsche Entscheidungen nicht wahrgenommen werden, weil sie schlicht keiner lesen kann.
9. Auch möchte ich nicht verhehlen, dass auch Bundesrichterinnen und -richter sich über gelegentliche Wertschätzung freuen und zwar eine solche, die die Aufgaben der Bundesgerichte, Grundsatzfragen zu klären, die Einheitlichkeit der Rechtsordnung zu wahren und die Fortentwicklung des Rechts zu gewährleisten, ernst nähme - und nicht aus Verlegenheit immer neue und unbehelfliche Rechtsmittel schafft, damit nach einer in der Regel ausgezeichnet arbeitenden Landesjustiz noch einmal jemand "drüberschaut". Dass der Bundesgerichtshof seit Jahren vergeblich für ein verstetigtes "Filtersystem" im Bereich der Nichtzulassungsbeschwerden kämpft, um das europäische Partner uns im Übrigen aus Gründen der Effizienz und Effektivität beneiden, gehört zu den Dingen, für die ich kein Verständnis mehr habe.
Ich habe, damit komme ich zum Schluss, in der guten alten Zeitschrift Die Öffentliche Verwaltung einen Aufsatz zur Theorie der "Public Service Motivation" gesehen und neugierig hineingeblättert. Dort ist in schönem Soziologendeutsch unter anderem dargelegt, dass der öffentliche Dienst, da er nicht mit Reichtümern und auch nicht mit individualisierten Anreizen der Bezahlung locken kann, auf andere Techniken der Motivation setzen muss. Das ist richtig und auch ich glaube, dass es vor allem die Menschenbildung ist, die im Richter- und Staatsanwaltsamt betont werden muss. Insofern ist intrinsische Motivation sicherlich ein Zauberwort. Gleichwohl schiene mir als letzter Aspekt eines Paktes für den Rechtsstaat die Rückführung der R-Besoldung in eine bundesweite Regelung notwendig. Wir haben einen Wettbewerb der Schäbigkeit bei der Besoldung erlebt, der zu erwartbaren, erheblichen Unterschieden zwischen den Ländern geführt hat. Neben allen ohnehin ausgeprägten Nachwuchsproblemen, die sich aus der Altersstruktur der Justiz und den Problemen der Altersentwicklung der Bevölkerung herleiten, wäre dies mit Sicherheit ein Aspekt, der Personalgewinnung erleichtern könnte - auch wenn ich sehe, dass hier es an diesem Ort wieder einmal anders sein dürfte: Bayern ist Spitzenreiter bei der Besoldung. Andere Bundesländer und Stadtstaaten indes haben ganz erhebliche Etatprobleme, die Justizminister gegen Finanzminister offenbar nicht allein lösen können.
3. Stabiler Rechtsstaat als Teil der europäischen Rechtskultur
Der Zustand der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Noch, davon bin ich überzeugt, lassen sich Ansehen und Reputation der Justiz in allen Instanzen verteidigen und ertüchtigen. Viel Zeit haben wir allerdings nicht mehr. Erforderlich sind jetzt erhebliche Anstrengungen des Bundes wie der Länder, wenn etwa der Pakt für den Rechtsstaat erfolgreich umgesetzt werden soll. Es wäre nicht nötig gewesen, aber die Entwicklungen in Ungarn, Polen, Rumänien und neuerdings in Tschechien, die Diskussionen in Frankreich, Belgien und den USA um eine unabhängige Justiz und nicht zu vergessen, all die vielen Länder, in denen es nie eine unabhängige dritte Gewalt gab, sollten uns Anlass genug sein, für einen selbstbewussten, stabilen Rechtsstaat als Teil einer europäischen Rechtskultur einzutreten.