Menu

Verantwortungsvolle Suizidberichterstattung in den Medien

Vom Werther-Effekt zum Papageno-Effekt

Mediale Suizidberichterstattung kann besonders auf Menschen, die sich in einer Bewältigungsphase von suizidalen Gedanken befinden gravierenden Einfluss nehmen. Die Art der Berichtersttatung ist in der Lage, den Leidensdruck dieser Menschen durch den Werther-Effekt zu verschlimmern oder durch den Papageno-Effekt zu lindern. Über die Konsequenzen, Herausforderungen und Chancen des sensiblen Themas Suizidberichterstattung haben Journalistinnen und Journalisten auf den 16. Tutzinger Radiotagen diskutiert.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 06.10.2021

Von: Carla Grund genannt Feist / Foto: Carla Grund genannt Feist

Programm: Tutzinger Journalistenakademie: 16. Tutzinger Radiotage: Brüche überwinden - Brücken bauen

16. Tutzinger Radiotage: Brüche überwinden - Brücken bauen

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

"Was unterscheidet einen Notarzt von einem Hausarzt und eine Taxi-Fahrerin von einer LKW-Fahrerin?", fragt Martin Eichhorn, Trainer für Kriminalprävention, die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der 16. Tutzinger Radiotage. Dennis Horn von der ARD weiß die Antwort: "Die einen können absehen mit wem und mit was sie es zu tun haben, die anderen sind tagtäglich mit Unabsehbarem konfrontiert." Der Beruf des Journalisten gehört in die letztere Kategorie. Durch den täglichen Umgang mit unerwarteten Menschen, Geschichten und Ereignissen laufen Journalistinnen Gefahr, unvorbereitet in Extremsituationen zu landen. Die Berufsgruppe ist aber nicht nur mit Unabsehbarem konfrontiert, sondern auch mit einer großen Verantwortung im Umgang mit ihren Eindrücken. Die Reaktion von Journalistinnen auf Extremsituationen nimmt in Form von Berichterstattung Einfluss auf ihre Außenwelt. Besonders viel Feingefühl verlangt dabei die Suizidberichterstattung. Wie ist eine gute Story mit pietätvoller Berichterstattung vereinbar? Wie detailliert darf informiert werden? Und vor allem, wie werden Nachahmungstaten verhindert? Über die Konsequenzen, Herausforderungen und Chancen des sensiblen Themas Suizidberichterstattung haben Medienvertreter deshalb auf den Tutzinger Radiotagen diskutiert.

Was ist der Werther-Effekt und wie beeinflusst er den Journalismus?

"Gleich springt er vom Dach", betitelte ein Boulevardblatt einen Suizid, ausgeschmückt mit Details und untermalt mit einer chronologischen Bildabfolge des Sprungs. Der Vorsitzende der Stiftung Deutschen Depressionshilfe, Ulrich Hegerl, erklärt den Journalisten, warum diese Art der Berichterstattung nicht nur pietätlos, sondern auch gefährlich ist. Mehr als 100 Studien belegen inzwischen, dass sensationsträchtige Formen der medialen Berichterstattung über Suizide weitere Selbsttötungen auslösen. Psychologen und Sozialpädagogen sprechen vom Werther-Effekt. Der Begriff wird 1974 vom Soziologen David Phillips eingeführt und basiert auf Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werther". Das 1774 veröffentlichte Werk wurde mit einer steigenden Suizidrate in Zusammenhang gebracht und daraufhin in einigen Städten verboten. 1813 sprach Goethe über die Urform des Werther-Effekts: "Wie ich mich [...] dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls selbst erschießen; und was hier im Anfang unter wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen Publikum und dieses Büchlein, was mir so viel genützt hatte, ward als höchst schädlich verrufen."

Über den Mechanismus, der dem Werther-Effekt zu Grunde liegt, ist nur wenig bekannt. Die Forschung geht jedoch von einem Lerneffekt aus. Menschen mit suizidalen Gedanken schwanken häufig zwischen lebenserhaltenden und Todesimpulsen. Sie sind dabei von hoher innerer Anspannung, Ambivalenz sowie Orientierungslosigkeit geplagt. Der Fokus dieser Menschen liegt auf der Suche nach Lösungsmodellen für Lebenskrisen, wobei der Einfluss von Medienberichte gravierend seien kann. Wird ein Suizid romantisiert und als einziger Ausweg beschrieben, kann das für einen Menschen, der nach einer Lösung für seine suizidalen Gedanken sucht, fatale Folgen haben. Zusätzlich steigt die Gefahr des Werther-Effekts, wenn Suizide durch aufmerksamkeitsheischende Schlagzeilen und Fotos ins Blickfeld von Menschen mit erhöhter Vulnerabilität gelangen. "Die detaillierte Beschreibung von Methode und Ort kann als Anleitung verstanden werden", erklärt Ulrich Hegerl.

Eine Studie des Ohio State University Colleges zeigt, dass eine ergreifende und ausführliche Beschreibung der Identität und der Motive des Suizidopfers besonders gefährlich ist. Nach der Veröffentlichung der Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" stieg die Suizidrate der zehn- bis 17-Jährigen in den USA signifikant. Auch die preisgekrönte Serie des ZDF "Tod eines Schülers" steht unter Verdacht, die erhöhte Selbstmordrate junger Männer, unmittelbar nach der Erst-und Zweitausstrahlung, zu verantworten. Aus der Medienforschung ist bekannt, dass Menschen sich beim Konsumieren von Medien automatisch mit dem Inhalt der Berichterstattung vergleichen. Je mehr sich eine Konsumentin mit der verstorbenen Person identifiziert, umso mehr läuft sie Gefahr, diese nachzuahmen.

1977 reagierte der deutsche Presserat auf den Werther-Effekt. "Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung", heißt es im deutschen Pressekodex. Trotzdem halten sich vor allem Boulevardmedien nicht zurück mit reißerischen Schlagzeilen und detaillierten Berichterstattungen. Besonders das Ausschlachten von Suiziden prominenter Persönlichkeiten hat fatale Folgen. "Enke-Effekt" wurde die Verdreifachung der Suizidrate betitelt, die in den Wochen nach dem Tod des bekannten Torwarts Robert Enke folgte. Schlagzeilen über dessen Suizid hatten zuvor die Titelseiten dominiert.

Soll überhaupt über Suizide berichten werden? Der Papageno-Effekt

Trotz der genannten Risiken, sollten Medien über Suizide berichten. Zum einen würde eine Restriktion zur Tabuisierung der Thematik im öffentlichen Bewusstsein führen. Zum anderen kann eine verantwortungsvolle und sinngemäße Berichterstattung Suizide auch verhindern. Ein Beispiel dafür ist die sinkende Suizidrate in den 1980er Jahren in Wien. Nachdem die Wiener Linien die österreichische Presse aufgefordert hatte, ihre Berichterstattung über Suizide im Schienenverkehr zu ändern, entwickelte ein Arbeitskreis der Österreichischen Gesellschaft für Suizidprävention gemeinsam mit dem Kriseninterventionszentrum die ersten Medienrichtlinien zur Suizidberichterstattung. Diese orientierten sich an Meinungen von Expertinnen, welche Berichtsmerkmale Imitation fördern und welche sie verhindern. Mittels Seminaren und persönlichen Kontakten wurde ein Leitfaden zur Berichterstattung über Suizid an die Medienwelt herangetragen, woraufhin die Suizidrate um über 70 Prozent sank.

Der Erfolg dieser Medienrichtlinien lässt sich durch den sogenannten Papageno-Effekt erklären. Der Name beruht auf einem der Charakter aus Mozarts Oper "Die Zauberflöte". Pagageno, wird bei seinem Suizidversuch von drei Knaben aufgehalten, die ihn an alternative Auswege aus seiner Krise erinnnern. Der Papageno-Effekt steht dem Werther-Effekt inhaltlich gegenüber und besagt, dass Berichterstattung Suizide verhindern kann. Die Frage ist also nicht, ob über Suizide berichtet werden soll, sondern wie. Ulrich Hegerl erklärt, dass es zur verantwortungsvollen Berichterstattung gehöre, Suizide immer als Folge eines mentalen und behandelbaren Leidensdrucks zu beschreiben. Dabei sei es wichtig, über das Krankheitsbild des Betroffenen zu informieren und Expertenmeinungen einzubeziehen. Besonders sollten Journalistinnen auf Lösungsansätze zur Krisenbewältigung im Rahmen von professionellen Hilfsangeboten eingehen. Auch Hinweise auf Hotlines und Beratungsstellen seien essentiell.

80 Prozent der Menschen, die mit suizidalen Gedanken kämpfen und sich gegen einen Suizid entscheiden, stehen kein zweites mal vor dieser Entscheidung. Sobald eine Krise erfolgreich bewältigt ist, besteht bei den meisten keine Suizidgefahr mehr. Da in der Bewältigungsphase äußere Einflüsse ausschlaggebend sind, können Medien einen bedeuteten Beitrag zur Suizidbekämpfung leisten, indem sie über behandelbare Krankheiten aufklären und Hilfestellung zeigen.

Kontakt
Weitere News

Mit den Userinnen und Usern auf Augenhöhe
Was Lokalmedien von guter Wissenschaftskommunikation lernen können


Russische Propaganda und Desinformation
Zwischen Staatsfunk und Internet-Trollen


Neue Formate für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
Akademie-Tagung entwickelt Sendungen und Tools für die Zukunft


So gelingt die investigative Recherche
Nachwuchsreporter lernen von Profis


Medien in der Corona-Pandemie
Symposium zum Abschied unseres Dozenten Michael Schröder