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Vom Mutterkult zum Feminismus

Der Marianismo in Lateinamerika

Feminismus kann verschiedene Formen annehmen. Entweder fordern Frauen Gleichberechtigung, indem sie ihre Gleichheit zu Männern betonen oder sie stellen ihre Andersartigkeit in den Fokus. Letzteres macht der Marianismo, der als komplementäres Konzept zum Machismo lateinamerikanische Frauen bemächtigte ihre gesellschaftliche Position zu stärken. Über den Mutterkult und die daraus entstehenden feministische Bewegungen Lateinamerikas hat die Historikerin Barbara Potthast auf der Tagung "Ein Kontinent voller Hoffnung? Politik und Gesellschaft in Lateinamerika" der Akademie für Poltische Bildung in Tutzing, des Katholischen Deutschen Frauenbunds, Landesverband Bayern e.V. und der Evangelischen Frauen in Bayern gesprochen.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 19.10.2021

Von: Carla Grund genannt Feist / Foto: Carla Grund genannt Feist

Programm: Ein Kontinent voller Hoffnung?

Ein Kontinent voller Hoffnung?

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

"Männlichkeit" prangt auf der ersten Folie, die Barbara Potthast, Historikerin mit Schwerpunkt Genderstudies und Lateinamerika an der Universität zu Köln, an die Wand wirft. Darunter das Bild eines braungebrannten, leicht untersetzen Mannes. Er raucht Zigarre und blickt selbstgefällig in die Kamera - ein echter Macho. "Übersteigertes Gefühl männlicher Überlegenheit und Vitalität", definiert der Duden den Begriff "Machismo". Obwohl sich in jeder Gesellschaft der ein oder andere Macho wiederfindet, ist es doch die lateinamerikanische Kultur, die das Konzept besonders hervorhebt und es durch ein komplementäres Konzept ergänzt. Der weitaus weniger bekannte "Marianismo", abgeleitet vom Terminus der Jungfrau Maria, beschreibt die Rolle der Frau in Lateinamerika. Über das Zusammenspiel und den Wandel dieser Rollenbilder, die Ermächtigung der Frau durch den Marianismo und moderne feministische Bewegungen Lateinamerikas hat Barbara Potthast gesprochen. Ihr Vortrag war Teil der Tagung "Ein Kontinent voller Hoffnung? Politik und Gesellschaft in Lateinamerika" der Akademie für Poltische Bildung, des Katholischen Deutschen Frauenbunds, Landesverband Bayern e.V. und der Evangelischen Frauen in Bayern.

Machismo vs. Marianismo

"Es gibt zwei Möglichkeiten", erklärt Barbara Potthast. "Entweder fordern Frauen Gleichberechtigung, indem sie ihre Gleichheit zu Männern betonen oder sie stellen ihre Andersartigkeit in den Fokus." Historisch sind Frauen die Rollen zugeschrieben, die der Männlichkeit gegenüberstehen. Während Männer etwas Mutiges, Wildes, Ungestümes und Starkes verkörpern sollten, galt es als weiblich, scheu, schön, unschuldig und rein zu sein. Mit der Kolonialisierung eroberten diese patriarchalen Strukturen Ende des 15. Jahrhunderts Lateinamerika. Der Geschlechterdualismus führte zu einer absoluten Trennung der männlichen und der weiblichen Sphäre, die sich gegenseitig ergänzten. Dies bezog sich zum einen auf die räumliche und gesellschaftliche Trennung. "La mujer en la casa, el hombre en la calle", besagt ein spanisches Sprichwort: "Die Frau im Haus, der Mann auf der Straße." Der weibliche Lebensraum war somit auf Heim, Familie und Kontrolle über den privaten Bereich festgelegt, in den alle häuslichen Tätigkeiten und die Erziehung der Kinder fielen.

Darüber hinaus hatte die Trennung der Geschlechterrollen spirituelle Züge. Die Rolle der Mutter wurde mystifiziert und zur Pflicht jeder Frau erklärt. Als Mutter gebührte einer Frau gesellschaftliche Anerkennung, die bis zur Verehrung reichte. Der Mutterkult als Sinnbild des Lebens und der Schöpfung, ist eine zentrale Eigenschaft des Marianismo. Der Begriff beschreibt ein reines, tugendhaftes Bild der Weiblichkeit. Der Bezug auf die katholische Glaubenslehre schafft Assoziationen mit einer spirituellen und moralischen Überlegenheit der Frau gegenüber dem Mann. Ihre spirituelle Stärke, Bedürfnisse zu kontrollieren, sich zurückzunehmen und aufzuopfern, soll die untergeordnete Position der Frau rechtfertigen.

Der Machismo stellt den Gegensatz zur weiblichen Spiritualität dar. Männer als Verkörperung des Weltlichen und der Unordnung dominieren triebgesteuert die Frauen. Da der Mann keine Fähigkeit zur Selbstkontrolle besitzt, trägt er weniger Verantwortung für seine Handlungen. Der Machismo beinhaltet nicht nur die Dominanz gegenüber der Frau, sondern auch gegenüber anderen Männern. "Die sexuelle Eroberung der Frau eines anderen ist im Machismo der absolute Ausdruck von Männlichkeit", erklärt Barbara Potthast. Männern war demnach viel daran gelegen, ihren Frauen den Zutritt zum öffentlichen Raum zu verwehren - teils um diese zu schützen, teils zum Schutz ihrer eigenen Position.

Der Geschlechterdualismus aus dem barbarischen Machismo als Idealbild des Mannes und dem heiligen Mariansimo als Vorbild für die Rolle der Frau spiegelt sich bis heute in den gesellschaftlichen Strukturen Lateinamerikas wider. Doch die Lateinamerikanerinnen nutzen den Marianismo zur Stärkung ihrer gesellschaftlichen Position. "'Wir sind etwas, dass ihr nicht seid und wir können Dinge, die ihr nicht könnt', wiesen Frauen auf ihre komplementäre gesellschaftliche Rolle hin und forderten damit ihre Rechte ein", erklärt Barbara Potthast den Zusammenhang zwischen dem Marianismo und den ersten feministischen Bewegungen in Mittel- und Südamerika.

Durch Mutterkult zum Feminismus

Auch nachdem die meisten lateinamerikanischen Staaten im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit erreicht hatten, verfestigten die neuen Konstitutionen der Länder die patriarchalen Strukturen der Kolonialzeit. Frauen waren nicht politikfähig und hatten im öffentlichen Raum nichts verloren. Das rasante Wachstum von Metropolen wie Buenos Aires und Rio de Janeiro Anfang des 20. Jahrhunderts führte jedoch zu gesellschaftlichen Herausforderungen in Bereichen der Krankenversorgung, der Wohnsituation und der Hygiene. Angesichts der heillosen Überforderung der Regierungen wurden Frauen aktiv und erkannten ihre Rolle als Expertinnen und Ansprechpartnerinnen in den Bereichen Gesundheit und Bildung.

1910 gab es in Buenos Aires den ersten internationalen Frauenkongress, auf dem Frauen rechtliche und soziale Reformen zu ihren Gunsten forderten, um sich an der Problembewältigung von Städten und Ländern zu beteiligen. Die Feministinnen argumentierten besonders für eine staatliche Unterstützung der Mütter. Diese seien die Erziehrinnen der zukünftigen Generation und somit verantwortlich für die Gesundung der der Gesellschaft. Die Mutterrolle zu betonen, um den Eintritt der Frau in den öffentlichen Raum zu legitimieren, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des lateinamerikanischen Feminismus.

Die Madres de Plaza de Mayo als Vorbild für den Kontinent

Als die Militärdiktaturen in Lateinamerika Mitte der 1970er Jahre begannen, ihre Gegner verschwinden zulassen, setzte das die bekannteste auf dem Mutterkult beruhende Frauenbewegung in Gang. Die "Madres de Plaza de Mayo" waren die Mütter der Verschwundenen, die im Zentrum von Buenos Aires mit Plakaten, Hungerstreiks und Unterschriftensammlungen für Informationen über den Verbleib der Gefangenen und deren Freilassung demonstrierten. Bei den Versuchen des Militärs, die Demonstrationen aufzulösen, spielten die Frauen ihre Mutterrolle aus. Heim und Familie zu bewahren, sei ihre Aufgabe. Die Politisierung der Mütter sei die einzig mögliche Reaktion auf die staatliche Zerstörung des häuslichen Raumes. Die Mutterrolle verlange es, gegen die Militärs vorzugehen. Wenn der Staat seinen schützenden Verpflichtungen nicht nachkäme, müssten es die Mütter tun, argumentierten die Madres. Eine Gewaltanwendung gegen die Frauen war den Soldaten unmöglich, denn ihrem vom Mariansimo geprägten Weltbild nach war die Mutter heilig und der Mann geschaffen, um die Frau zu beschützen. Mit Hilfe des Mutterkults schafften es die Madres, während der gesamten Militärdiktatur wöchentlich gegen die Vorgehensweise des Militärs zu demonstrierten und unnachgiebig die Freilassung der Gefangenen zu fordern.

Ausgehend von Argentinien breitete sich die Frauenbewegung in ganz Lateinamerika aus. Der 1987 veröffentlichte Song "They Dance Alone (Cueca Solo)" ist eine Homage des britischen Sängers Sting an den Mut und die Trauer der chilenischen Frauen, die aus Protest gegen den Diktator Pinochet mit Bildern ihrer verschwundenen Männer und Kinder öffentlich tanzten. Die Symbolkraft der Madres strahlte über das Ende der Militärdiktaturen hinaus und ist bis heute Sinnbild für den Kampf um die Rechte und Würde der Menschen.

Das Kopftuch für mehr Selbstbestimmung

Am 30. Dezember 2020 ist der Plaza de Mayo in Buenos Aires ein Meer aus jubelnden grünen Kopftüchern. Der Senat hatte mit 38 Ja- gegen 29 Nein-Stimmen für eine historische Legalisierung des Abtreibungsgesetzes im streng katholischen Argentinien gestimmt. Auf den Kopftüchern der Frauen steht:"Sexualkunde, um entscheiden zu können; Verhütungsmittel, um nicht abtreiben zu müssen; legale Abtreibung, um nicht sterben zu müssen".

Bisher kamen jedes Jahr 38.000 Frauen nach Komplikationen bei illegalen Abtreibungen ins Krankenhaus. Über 3000 Frauen sind seit 1983 an verpfuschten Eingriffen gestorben. Die Möglichkeit, bis zu 14. Schwangerschaftswoche legal abtreiben zu dürfen, ist eine Errungenschaft, die die katholische Kirche und viele Pfingstkirchen im Land ablehnen. Auch Papst Franziskus sprach sich am Abend vor der Abstimmung in einem Tweet deutlich gegen das Recht auf Abtreibung in seinem Heimatland aus: "Der Sohn Gottes wurde als Ausgeschlossener geboren, um uns zu sagen, dass jeder ausgeschlossene Mensch ein Kind Gottes ist."

Argentinien steht mit dem Recht auf Abtreibung zwischen den lateinamerikanischen Nachbarn fast allein da. In Guatemala, Honduras, Haiti und der Dominikanischen Republik herrscht ein absolutes Abtreibungsverbot. In El Salvador werden Frauen wegen Schwangerschaftsabbrüchen teilweise zu einer Haftstrafe von 35 Jahren verurteilt. Als Begründung dient die tief verankerte Darstellung der Frau als Mutter, der das Recht auf Abtreibung widerspricht.

Die grünen Kopftücher der feministischen Bewegung für die Legalisierung von Abtreibung sind eine Analogie zu den Madres de Plaza de Mayo. "Deren Kopftücher waren weiß, um an die Windeln ihrer Kinder zu erinnern", erklärt Barbara Potthast. Obwohl es paradox erscheinen mag, ein ehemaliges Sinnbild für Windeln zur Demonstration für Abtreibung einzusetzen, lässt sich eine gemeinsame Botschaft der Frauenbewegungen auf dem Plaza de Mayo damals und heute erkennen: Der Körper der Frau ist fähig, Leben zu schenken. Dies macht ihn heilig und schützenswert - vor militärischer Gewalt genauso wie vor der Kontrolle der Kirche und des Staates.

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