Die Zukunft der liberalen Demokratie
Forum Verfassungspolitik mit Wolfgang Schäuble
Die liberale Demokratie ist vielfach herausgefordert durch Entparlamentarisierung, gesellschaftlichen Wandel und Social Media. Die Corona-Pandemie hat diese Herausforderungen nochmals zugespitzt. Das diesjährige Forum Verfassungspolitik der Akademie für Politische Bildung und des früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat sich mit der "Zukunft der liberalen Demokratie" beschäftigt.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 20.07.2021
Von: Antonia Schatz / Foto: Beate Winterer
# Verfassungsfragen, Demokratie
Programm: Forum Verfassungspolitik: Die Zukunft der liberalen Demokratie
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"Die parlamentarische Demokratie und ihre Institutionen haben sich in der Bundesrepublik über sieben Jahrzehnte bewiesen", sagt Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestags. Auch in der Pandemie habe sie ihre Funktions- und Lernfähigkeit bewiesen, zum Beispiel indem das Parlament bei Bedarf gesetzgeberisch angezogen oder nachjustiert habe. "Dennoch mehren sich Zweifel an der Funktionsfähigkeit aller westlichen Demokratien. Bürger entziehen der Demokratie und ihren Mitbürgern das Vertrauen und stärken so populistische Vereinfacher." Das bestätigt Edgar Grande, Gründungsdirektor des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung: In der öffentlichen Debatte und der wissenschaftlichen Literatur herrsche eine enorme Verunsicherung über den Zustand der liberalen Demokratie. Nach den Themen Meinungsfreiheit und Sozialstaat in den vergangenen Jahren, hat das Forum Verfassungspolitik der Akademie für Politische Bildung und des früheren Vorsitzenden des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, in diesem Jahr "Die Zukunft der liberalen Demokratie" in den Blick genommen.
Entparlamentarisierung und Wandel der Demokratie
Edgar Grande beobachtet in modernen Demokratien einen irreversiblen Trend: "Die Regierungspraxis in der Corona-Pandemie wurde als Ausnahme legitimiert. Für mich zeigt sie aber exemplarisch den inneren Wandel der liberalen Demokratie, in der Parlamente immer mehr ersetzt werden durch 'Besprechungen im Hinterzimmer' oder die Mediendemokratie." Die Ministerpräsidentenkonferenz, die gemeinsam mit der Bundeskanzlerin und ohne den Bundestag über die Pandemiemaßnahmen entscheidet, sieht auch Hans-Jürgen Papier kritisch. Denn das Parlament ist in der liberalen Demokratie die einzige Institution, die direkt von den Bürgerinnen und Bürgern legitimiert wird und sorgt durch seine Prozesse für eine "gewisse Qualitätssicherung im politischen Betrieb", wie Stephan Thomae, Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag, ergänzt.
Grundrechtseingriffe in der Corona-Pandemie
Auch wenn die Grundrechtseingriffe während der Corona-Pandemie in der rechtsstaatlichen Demokratie bisher undenkbar waren, könne man nicht von einer Aufhebung der Grundrechte sprechen, meint Horst Dreier von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg . Woran der Jurist aber unter anderem Kritik übt, ist die Bundesnotbremse, die im April 2021 in das Infektionsschutzgesetz aufgenommen wurde. Sie regelt bis ins Detail die nun bundesweit einheitlichen Maßnahmen, die sich einzig an der Zahl der Neuinfektionen, also dem Inzidenzwert, orientieren. "Die Inzidenzzahl ist bei gleicher Infektionslage von der Anzahl der getesteten Personen abhängig. Alleine sagt das über die Gefährdungslage wenig aus, weil die Anzahl durchgeführter PCR-Tests überall unterschiedlich ist." Die Auslastung der Intensivstationen, die Anzahl der geimpften Personen und der Reproduktionswert R sollten deshalb neben Inzidenzen miteinbezogen werden, findet Dreier.
Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit habe außerdem kein Primat über die anderen Grundrechte. "In Deutschland sterben jeden Tag etwa 2500 Menschen. Aussagen wie 'jeder Tote ist einer zu viel' oder 'jeden Tag ein Flugzeugabsturz' während der Pandemie vermittelten den Eindruck, man dürfe in Deutschland an allem sterben, nur nicht an Corona." Es sei daher bei allen Maßnahmen, die andere Grundrechte einschränken, eine Prüfung auf Verhältnismäßigkeit nötig. Das heißt, die Schwere des Grundrechtseingriffes muss in einer adäquaten Relation zu den daraus entstehenden Vorteilen für die Allgemeinheit stehen. Dies sei vor allem eine gesellschaftspolitische Frage, bei der es andere Experten brauche, als nur Virologen: "Es geht darum, sich vom virologischen Tunnelblick auf reine Infektionszahlen zu lösen und zu einer Gesamtbetrachtung zu kommen", sagt Dreier. Die rechtsstaatliche Aufarbeitung der Geschehnisse der vergangenen anderthalb Jahre stünde zu großen Teilen noch bevor. Auch Susanne Gaschke, Journalistin und Autorin, macht sich Gedanken darüber, was die Einschränkungen in der Corona-Pandemie für die Zukunft bedeuten: "Das hat jetzt funktioniert, dann könnte es ja auch in Zukunft wieder funktionieren. Es gibt ja auch noch andere existenzielle Probleme, wie zum Beispiel den Klimawandel."
Repräsentation durch Parteien
Die Medien und der demokratische Dialog
Hochwertiger Journalismus sei deshalb notwendiger denn je. Es gilt, komplexe Fragen verdaulich aufzubereiten und eine multiperspektivische Debatte zu gewährleisten, die die Vielfalt der Gesellschaft darstellt, bei der es aber gleichzeitig noch ein gemeinsames Verständnis von Wirklichkeit und unumstößlichen Fakten gibt. Außerdem müsse Journalismus die Medienkompetenz fördern. "Es geht darum, dass Menschen ihre Smartphones und deren Inhalte nicht nur bedienen, sondern auch beurteilen können", sagt Katja Wildermuth. Der Journalismus müsse sich an das veränderte Mediennutzungsverhalten junger Menschen anpassen. "Nur noch 50 Prozent der jungen Leute konsumieren lineares Fernsehen. Wir müssen mit unseren Angeboten auch dort sein, wo die andere Hälfte Medien konsumiert", fordert Wildermuth. Das aktuelle Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl des SWR und des BR sei so ein Beispiel. Man sei selbst erstaunt über die hohe Resonanz zu den Posts, anhand derer die Abonenntinnen und Abonennten des Accounts die letzen zehn Monate im Leben von Sophie Scholl zeitgetreu nachverfolgen können.
Klimaschutz in der Verfassung
Auch beim Klimaschutz engangieren sich junge Menschen stärker als in den vergangenen Jahrzehnten. Das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts hat der Bewegung weiteren Auftrieb gegeben. Auf dem Weg in eine Ökodiktatur sei Deutschland dennoch nicht, ist Meinhard Schröder, Verfassungsrechtler an der Universität Passau, überzeugt. Das Gericht hat der Versuchung widerstanden, selbst konkrete Klimapolitik zu machen - im Gegenteil: Es betont die legislativen Spielräume des Gesetzgebers. Allerdings gilt für Art. 20a des Grundgesetzes, der die Lebensgrundlage künftiger Generationen schützt, auch der alte Satz: "Wer Verfassungsrecht sät, wird Verfassungsrechtsprechung ernten." Und die geht im Jahr 2021 sicher über das hinaus, was sich die Politik im Jahr 1994 bei der Aufnahme des Art. 20a ins Grundgesetz gedacht hat. Aber das zeigt, dass die Verfassung ein "lebendes Instrument" ist, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schreibt..
Die Zukunft der liberalen Demokratie
"Im Herbst werden die Länder das Heft des Handelns in der Hand halten." (Der Tagesspiegel)
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