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Neue Publikation zur Bundestagswahl 2017

Eine Analyse des deutschen Parteiensystems

Am 26. September ist die Bundestagswahl. Wie wird es nach der Ära von Angela Merkel weitergehen? Erste Entwicklungstendenzen liefert ein Blick zurück auf die Bundestagswahl 2017. Was war damals anders? Was begleitet uns noch heute? Die Publikation "Komplexe Farbenlehre: Perspektiven des deutschen Parteiensystems im Kontext der Bundestagswahl 2017" der Akademie für Politische Bildung analysiert die politische Ausgangslage und leitet erste Prognosen für die kommende Bundestagswahl ab. Die Veröffentlichung geht auf eine gemeinsame Tagung mit der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen zurück.

Tutzing / Publikation / Online seit: 15.07.2021

Von: Margareta Maier / Foto: Jörg Siegmund

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Ursula Münch, Heinrich Oberreuter, Jörg Siegmund (Hrsg.)
Komplexe Farbenlehre
Perspektiven des deutschen Parteiensystems im Kontext der Bundestagswahl 2017
[Einzelwerke – Campus Verlag], Frankfurt / New York, 2021


Am Abend nach der Bundestagswahl 2017 sitzen die Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien in der Berliner Runde der ARD. Das Wahlergebnis ist eine politische Zäsur. Die rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland (AfD) zieht mit rund zwölf Prozent erstmals in den Bundestag ein. Die SPD und die Unionsparteien verzeichnen große Stimmenverluste. Gleich zu Beginn der Talkshow greift SPD-Kandidat Martin Schulz Angela Merkel an und macht sie für den Erfolg der AfD mitverantwortlich. Einer erneuten Koalition mit der Union erteilt er eine Absage. Merkel steht eine schwierige Regierungsbildung bevor. Der Bundestag ist mit sieben Parteien und sechs Fraktionen fragmentiert. Eine Koalition mit der AfD schließen alle Parteien aus. Folglich bleiben als Regierungskonstellationen - abgesehen von einer Minderheitsregierung - nur zwei Optionen: eine Große Koalition aus Union und SPD oder die Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Bündnis 90/Die Grünen.

Die Verhandlungen gestalten sich schwierig: Zuerst scheitern die Sondierungsgespräche zwischen den Jamaika-Parteien. Dann verhandelt die SPD doch mit der Union, obwohl es parteiintern großen Widerstand gibt. Schließlich einigen sich beide Parteien. Fünf Monate nach der Wahl vereidigt Wolfgang Schäuble Angela Merkel erneut zur Bundeskanzlerin und die neue Regierung steht. Die Publikation "Komplexe Farbenlehre: Perspektiven des deutschen Parteiensystems im Kontext der Bundestagswahl 2017" widmet sich dieser schwierigen Ausgangslage. Sie zeichnet nach, wie es zu diesem Wahlergebnis kommen konnte und welche Nachwirkungen, Brüche aber auch Kontinuitäten folgten.

Wenn viele Parteien am Verhandlungstisch sitzen

Eine Ursache für die langwierige und komplizierte Regierungsbildung ist der parteipolitisch fragmentierte Bundestag. Viele Parteien und unklare Mehrheiten begünstigen lange Koalitionsaushandlungen. Schon lange schafft es keine einzelne Partei mehr, eine klare Mehrheit der Bevölkerung auf sich zu vereinen. Stattdessen vertreten im Bundestag immer mehr kleinere Parteien unterschiedliche Interessen. Dieser Wandel des Parteiensystems - von zwei Großparteien zu mehreren kleineren Parteien - ist ein fortschreitender Prozess seit den 1970er Jahren, schreibt der ehemalige Akademiedirektor Heinrich Oberreuter. Das ursprüngliche Parteiensystem sei unfähig auf gesellschaftlichen Wertewandel und Mentalitätswandel zu reagieren. Während Großparteien unterschiedliche Lebenswelten ansprechen müssten, um Mehrheiten zu gewinnen, können sich kleinere Parteien widerspruchsfrei ihrem Milieu anpassen. Oberreuter erwartet auch für die kommende Bundestagswahl, dass die Fragmentierung des Parteiensystems fortschreitet. Pluralisierung und Flügelbildung schwächen die großen Parteien weiter. Die Art der Kommunikation im Internet unterminiert die gesamtgesellschaftliche Konsensbereitschaft und politisches Agenda-Setting findet zunehmend auch über Mobilisierung im Netz statt. Gleichzeitig wollen immer mehr Akteure mitspielen. Es formieren sich soziale Bewegungen mit charismatischen Führungspersönlichkeiten, die im Vergleich zu Parteien an Attraktivität gewinnen, ihre Rolle im politischen Willensbildungsprozess aber nicht wirklich ersetzen können.

Reform der Reform der Wahlrechtsreform?

Mit der Bundestagswahl 2017 gerieten auch die Unzulänglichkeiten des deutschen Wahlsystems in den Fokus. "Das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag befindet sich in der Krise", verkündete das Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Mitte des Jahres 2019. Im Zentrum der Kritik steht der Modus, nach dem Wählerpräferenzen in Stimmen ausgedrückt und diese in Mandate übertragen werden. Denn dieses Wahlsystem hat in Kombination mit einer Veränderung im Wahlverhalten zu einer deutlichen Vergrößerung des Bundestages geführt. Statt wie vorgesehen 598, sitzen in der aktuellen Legislaturperiode 709 Abgeordnete im Bundestag. Die 111 zusätzlichen Sitze sind Überhangmandate und Ausgleichsmandate, die eingeführt wurden, um das Proporzmodell beizubehalten.

Jörg Siegmund geht auf den Entstehungsprozess und auf vergangene wie aktuelle Reformversuche des Wahlsystems ein. Eine generalisierende Bewertung ist angesichts der Komplexität und Wechselseitigkeit des Systems nicht einfach. Dennoch müssen die Inkonsistenzen und Defizite von Ausgleichsmandaten und Überhangmandaten behoben werden, da die Funktionsfähigkeit des Parlaments leidet, wenn es weiter wächst. Schon nach der Wahl 2021 könnten bis zu 800 Abgeordnete im Bundestag sitzen. Siegmund ruft deshalb zu Mut bei politischen Akteuren auf, die Defizite grundlegend anzugehen und diskutiert die bestehenden Vorschläge.

Digitale Manipulationsversuche im Wahlkampf

Die vergangenen Wahlen in den USA und in Großbrittanien haben gezeigt, dass die Verbreitung von Falschinformationen Wahlausgänge beeinflusst. Thorsten Quandt, Tim Schatto-Eckrodt, Svenja Boberg, Florian Wintterlin und Lena Frischlich haben digitale Manipulationsversuche aus dem Bundestagswahlkampf 2017 dokumentiert und wissenschaftlich untersucht. Die gute Nachricht: Groß angelegte digitale Manipulationsversuche gab es nicht. Dennoch gehen die Autorinnen und Autoren auf drei dokumentierte Manipulationsversuche ein.

Ein Bundestagskandidat der Freien Wähler verwendete 20 Social Bots, um den Themen seiner Partei eine größere Reichweite zu geben. Social Bots sind automatisierte Programme, die sich als Social-Media Accounts ausgeben und versuchen, das Verhalten eines menschlichen Nutzers zu imitieren. Im Fall des Kandidaten der Freien Wähler waren diese sehr leicht zu erkennen, da sie alle auf das gleiche Posting-Verhalten programmiert waren. Sie hatten nicht das Potential, die öffentliche Wahrnehmung zu lenken. Beispiele aus anderen Staaten mit besser programmierten Social Bots zeigen aber durchaus eine Gefahr für die freie demokratische Willensbildung.

Das ultrarechte Kollektiv Reconquista Germanica rief außerdem zu einem "War of Memes" (Krieg der Memes) auf. Memes sind Bilder, die auf humoristische oder ironische Art und Weise mit einem Text kombiniert werden und im Netz häufig viele Menschen erreichen, da sie oft geteilt werden. Mitglieder von Reconquista verbreiteten parallel zum TV-Duell der Kanzlerkandidaten Memes und Beiträge mit dem Hashtags #merkelmussweg, #verräterduell und #höckeforkanzler. Forscher des Digital Forensic Research Lab stellten zudem fest, dass auch fremdstaatliche Akteure sich an digitaler Wahlmanipulation beteiligten. Kurz vor der Wahl verbreitete ein russisches Bot-Netz Beiträge mit dem Hashtag #wahlbetrug in großer Zahl.

Diese drei Fälle sind besorgniserregend. Jedoch hatte keiner davon das Potential, das öffentliche Meinungsbild zu ändern. Die Autorinnen und Autoren führen das darauf zurück, dass das Misstrauen gegenüber Nutzerkommentaren bei Rezipienten hoch ist. Ihr Fazit: Es ist nicht davon auszugehen, dass Deutschland künftig von großflächigen Manipulationsversuchen verschont bleibt. Besonders enge Wahlen sind ein attraktives Ziel für Wahlbeeinflussung.

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