Menu

Vom Merkel-Bonus zum Merkel-Malus

Akademie-Kurzanalyse 1/2018 von Ulrich Berls

Der Aufsatz "Vom Merkel-Bonus zum Merkel-Malus - Die CSU vor der Landtagswahl" von Ulrich Berls* wurde im Juni 2018 als Akademie-Kurzanalyse veröffentlicht.

Tutzing / Publikation / Online seit: 21.06.2021

Von: Ulrich Berls / Foto: Laura Hoffmann, Wikimedia Commons, CC-BY-2.0

Ulrich Berls
Vom Merkel-Bonus zum Merkel-Malus – Die CSU vor der Landtagswahl
Akademie-Kurzanalysen, Tutzing, 2018

PDF Download


Nur vier Jahre lagen zwischen den Wahlkampagnen 2013 und 2017 - dennoch können Wahlkämpfe kaum unterschiedlicher aussehen. Während sich 2013 die CSU geradezu klein neben Merkel gemacht hatte und der Freistaat mit Merkel-Plakaten übersät war, hatte man 2017 den Eindruck, die Christsozialen würden die gemeinsame Kanzlerkandidatin am liebsten verstecken. Merkel wurde eher kleinformatig in Bayern plakatiert. Bei der Bundestagswahl 2013 hatte die CSU mit fulminanten 49,3 an der mythischen 50-Prozent-Marke gekratzt, vier Jahre später stürzte sie mit 38,8 Prozent auf ihr schlechtestes Ergebnis nach 1949 ab. Das Spitzenpersonal war in beiden Wahlen dasselbe. Was war in der kurzen Zeitspanne geschehen?

Wiedergewonnener Stolz

Einer Laune des politischen Kalenders war es zu verdanken, dass im Herbst 2013 die fünfjährige Legislatur in Bayern und die vierjährige im Bund gleichzeitig zu Ende gingen. Am 15. September wählten die Bayern ihren Landtag, nur eine Woche später folgte die Bundestagswahl. Die CSU hatte sich fünf Jahre lang auf die Landtagswahl 2013 hin gezittert, denn bei der Wahl zuvor, im Jahr 2008, hatte sie nach beinahe 50 Jahren Alleinregierung ihre absolute Mehrheit verloren. Das glücklose Tandem mit Ministerpräsident Günter Beckstein und Parteichef Erwin Huber hatte nur noch 43,4 Prozent der Stimmen eingefahren.

Sofort hatte die Partei die beiden Verlierer gestürzt und aus Berlin als Retter in höchster Not ihren erfahrensten Bundespolitiker, Horst Seehofer, herbeigerufen. Ihm gelang es, rasch eine Koalition mit der machtentwöhnten bayerischen FDP zu zimmern, und seine Partei einstweilen vor dem Schlimmsten zu bewahren.

Bei der Landtagswahl am 15. September 2013 gewann die CSU mit 47,7 Prozent der Stimmen dann eine stabile absolute Mehrheit der Sitze zurück. Der damalige Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks, Sigmund Gottlieb, ließ sich in der Wahlsendung der ARD zu der später gerne karikierten Äußerung hinreißen, Horst Seehofer sei der Mann, der der CSU ihren Stolz zurückgegeben habe. Etliche Wahlforscher und Leitartikler sahen das ähnlich: "Rückkehr zur Normalität" lautete der publizistische Tenor nach der bayerischen Wahl 2013.1 Eine Fehlinterpretation, wie die folgenden Jahre zeigen sollten.

Der Wahlsieg der CSU bei der Landtagswahl 2013 hatte einen weitgehend "unbayerischen" Grund: die Koinzidenz zur Bundestagswahl. Die Formschwäche der nationalen SPD und der Bundes-Grünen übertrug sich auf ihre Ableger im Freistaat. 2013 war zudem das Annus horribiles der FDP. Sowohl in der Bundesregierung als auch in der Landesregierung hatten sich die Liberalen eher blamiert als profiliert. Mit 3,3 Prozent exekutierten die bayerischen Wähler die Liberalen geradezu.

Superstar aus dem Norden

Die zeitliche Nähe zur Bundestagswahl war ein einziger Glücksfall für die CSU! Die Kanzlerin - im Zenit ihres Ansehens - war im bayerischen Landtagswahlkampf präsenter denn je, niemals zuvor hatte sie so viele Auftritte im Freistaat gehabt. Sie wollte eine Vorlage aus dem flächenmäßig größten und bevölkerungsmäßig zweitgrößten Land der Republik für "ihre" Wahl am 22. September. In allen Umfragen in Bayern lag Angela Merkel damals auf den gleichen, überaus hohen Zustimmungswerten wie im Rest der Republik. Und - in jeder Umfrage lag Horst Seehofer deutlich hinter den Werten der Kanzlerin. Die bayerische Landtagswahl 2013 brachte ein Novum: Eine CDU-Kanzlerin verhalf einem CSU-Ministerpräsidenten zur Wiederwahl. Jahrzehntelang war es eher umgekehrt gewesen, der überproportional starke CSU-Stimmenanteil brachte CDU-Kanzler ins Amt oder hielt sie dort, zu Hause kam die CSU immer gut und gerne ohne Schützenhilfe aus nördlicheren Gefilden klar.

Für die letzten Zögernden unter den CSU-Sympathisanten, denjenigen, denen Angela Merkel vielleicht doch ein bisschen zu preußisch daherkam, hatte die CSU auf der Zielgeraden noch einen Wahlkampf-Gimmick parat: die PKW-Maut für Ausländer. Ganz im Sinne der CSU-Wahlkampfstrategen schüttelte das politische Berlin die Köpfe über die Maut-Idee, nicht jedoch die Wähler in Bayern, wo gerade die Sommerferien zu Ende gegangen waren und sich hunderttausende Urlauber wieder einmal darüber geärgert hatten, dass sie überall in Europa Autobahngebühren bezahlen müssen, während die Ausländer unsere Straßen ganz gebührenfrei verstopfen dürfen. Die Maut war ein Angebot an die immer noch recht große heimische Wählergruppe, die es schätzt, wenn in Bayern die Uhren etwas anders als im Rest der Republik gehen. Die Kanzlerin wiederum, der die Maut herzlich gleichgültig war, fand zu einem aalglatten "Jein" in Sachen Autobahngebühr.

Völlig ungewöhnlich in diesem Wahlherbst 2013: Die CSU schnitt bei der Bundestagswahl besser ab als bei der Landtagswahl eine Woche zuvor. Weitere 1,6 Prozent gab es zusätzlich, als es um den Bundestag ging. Traditionell war es seit 1970 immer so gewesen, dass die CSU bei Landtagswahlen deutlich erfolgreicher war als bei Bundestagswahlen.2

Bereits diese Seltsamkeit widerlegt die These von der "Rückkehr zur Normalität". Ob die CSU ohne den Merkel-Faktor bei den beiden Wahlen im September 2013 so gut abgeschnitten hätte, ist mehr als fraglich. Nur ein halbes Jahr später, bei den bayerischen Kommunalwahlen (bei denen es grundsätzlich keine Kanzler-Effekte gibt) im März 2014 erreichte die CSU mit 39,7 Prozent jedenfalls ein historisch schwaches Resultat. Ein Negativtrend, der durch die mühsamen 40,5 Prozent der Christsozialen weitere acht Wochen später bei der Europawahl bestätigt wurde. Es zeigte sich: Die Zeiten einer totalen CSU-Hegemonie in Bayern sind vorbei, die Partei bleibt dominant, unbesiegbar ist sie nicht mehr. Doch alle Warnschüsse verhallten im Franz-Josef-Strauß-Haus, zu beseelt war die Partei noch von ihrem Triumph im "Goldenen September", wie Horst Seehofer den Wahl-Herbst 2013 getauft hatte.

Mit Merkel ist alles möglich

Erst bei Hintergrundgesprächen mit Journalisten, dann ganz offiziell in der Bild-Zeitung verkündete CSU-Chef Horst Seehofer, das Ziel der beiden Unionsparteien für die Bundestagswahl 2017 müsse die absolute Mehrheit sein.3 Einen einzigen Grund gab er dafür an: Angela Merkel. Seehofer vertraute ein Jahr nach der Doppelwahl in Bayern unverändert auf die Wahlkampflokomotive aus dem Kanzleramt. Mit dieser beliebten Spitzenkandidatin sei schlichtweg alles möglich, sagte er immer wieder.

Die Rolle des Merkel-Bewunderers hatte Horst Seehofer erst einmal lernen müssen. 2004, als die CDU-Vorsitzende auf ihrem Parteitag in Leipzig ein radikales Programm zum Umbau des Sozialstaats auf den Weg brachte, war sie mit dem damaligen gesundheitspolitischen Sprecher der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag, Horst Seehofer, vor allem beim Thema "Kopfpauschale" heftig aneinandergeraten. Seehofer trat aus Protest gegen diese "neoliberale Wende" von seinem Sprecheramt zurück. Ein Jahr später begegneten sich die beiden wieder: Seehofer nahm an Merkels Kabinettstisch als Bundesagrar- und Verbraucherschutzminister Platz. Sie hätte das gerne verhindert, aber der damalige CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber beharrte darauf, dass die CSU alleine entscheide, wen sie ins Bundeskabinett schicke.

Im Jahr 2008, als Seehofer als Ministerpräsident und Parteichef von Berlin nach München wechselte, wurden die Vorsitzenden der beiden Unionsparteien zu ständigen Zwangspartnern, die sich aneinander zu gewöhnen lernten. Die Frau aus dem Nordosten hatte längst begriffen, was ihre Vorgänger von Adenauer bis Kohl immer beherzigt hatten: Die CSU muss nicht bequem sein, die CSU muss erfolgreich sein. Der bayerische Stimmenanteil ist zu wichtig, als dass die große Schwester die kleine spüren lassen sollte, wer das Sagen hat.

Enttäuschte Liebe

Bei CSU-Chef Seehofer war es mehr als pragmatische Gewöhnung. Seehofer imponierte zunehmend der Politikstil der Kanzlerin, zumal sie eine Tugend verkörperte, die ihm immer gefehlt hatte: Berechnende Geduld. Spätestens als Merkel dann zu seiner alles entscheidenden Wahlhelferin geworden war, zählte Horst Seehofer fraglos zum Kreis ihrer Bewunderer.

All dies, Nähe, Hoffnungen, Ziele, Bewunderung, zerbrach in wenigen Stunden, und zwar in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015, in dem Moment, als die Kanzlerin die Grenzen für hunderttausende von Flüchtlingen aufmachte (beziehungsweise nicht schloss, wie sie selber gerne betont, was im Ergebnis freilich keinen Unterschied machte). Was Seehofer vermutlich mitgetragen hätte, wäre eine einmalige Übernahme von zusätzlichen Flüchtlingen gewesen. Wenn die Kanzlerin gesagt hätte, wir helfen Ungarn, wir nehmen Druck vom Kessel und holen ein paar zehntausend Flüchtlinge zu uns, wäre Seehofer womöglich einverstanden gewesen. Doch Merkel ging es nicht darum, punktuell zu helfen, ihr ging es ums ganz und gar Grundsätzliche: Entweder ein Menschenrecht ist universell, oder es ist es nicht. Im Gegenzug sprach Seehofer von einem historischen Fehler.

Das Unionsduo Merkel / Seehofer zerbrach. Da ging es um weitaus mehr als den individuellen Konflikt zweier Alphatiere, das Persönliche und das Politische überlappten sich: Die schwerste Zerreißprobe in der Geschichte der Unionsgemeinschaft von CDU und CSU begann buchstäblich über Nacht.

Die Legende vom verpassten Telefonanruf

Über das verpasste Telefonat zwischen Angela Mer­kel und Horst Seehofer in der Nacht der Grenzöffnung ist viel geschrieben worden. Seehofer habe sein Handy abgestellt, heißt die häufig kolportierte Geschichte, deshalb habe ihn Merkel nicht informieren können.4 Das gehört ins Reich der Legendenbildung. Die mächtigste Frau Europas erreicht den Vorsitzenden einer ihrer Koalitionsparteien nicht? Auch wenn Seehofer sein persönliches Handy abstellt oder wenn er schläft, bleibt der bayerische Ministerpräsident selbstverständlich immer erreichbar. Im Übrigen hat der Mann rundum Personenschutz, wenn es eine Bundeskanzlerin wirklich will, kann sie dafür sorgen, dass über die Leibwächter der Kontakt hergestellt wird.

Die Wahrheit ist, Angela Merkel hat Seehofer damals gerne übergangen, weil sie genau wusste, dass er widersprechen würde. Ins Bild passt auch, wie Merkel die CSU bereits am Vortag düpiert hatte, demonstrativ war sie dem großen Festakt zum 100. Geburtstag für Franz Josef Strauß ferngeblieben. Eine Provokation sondergleichen, die CDU-Vorsitzende konnte eine solche Gedenkfeier für den nach Konrad Adenauer prägendsten Kopf der frühen Unionsgeschichte einfach nicht schwänzen. Der i-Punkt: Merkel war an diesem Tag sogar in München unterwegs gewesen.5 Der Affront war eindeutig von der CDU-Vorsitzenden ausgegangen.

Ob es ihr in diesen Tagen wirklich um eine christlich-humanitären Barmherzigkeitspolitik ging oder ob Merkel nur eine Politur des eigenen Images wollte, wird vielleicht für immer unklar bleiben. Eines ist auffällig, das Ansehen der Triumphatorin vom Wahlherbst 2013 war im Sommer 2015 im Sinkflug. In der griechischen Währungskrise galt die deutsche Regierung als kalt und hartherzig. Hinzu kam eine unter PR-Gesichtspunkten komplett missglückte Begegnung zwischen einer peinlich empathielos wirkenden Kanzlerin und einem Flüchtlingsmädchen, die Wellen im Internet schlug. "Eiskönigin" taufte sie daraufhin die Presse.6 Was immer auch ihre Motivation bei der großherzigen Grenzöffnung war, sie wollte sich beim womöglich wichtigsten Schritt ihrer Kanzlerschaft von der Schwesterpartei aus Bayern keinesfalls reinreden lassen.

"Herrschaft des Unrechts"

Seehofer und weite Teile der CSU waren in Rage. Für den CSU-Chef war die anhaltende Nichtsicherung der Landesgrenzen schierer Rechtsbruch, er sprach von der "Herrschaft des Unrechts".7 Die beiden ehemaligen Verfassungsrichter und überaus renommierten Staatsrechtslehrer Hans-Jürgen Papier und Udo di Fabio sprangen ihm zur Seite.8 Die CSU drohte mit einer Verfassungsklage gegen die eigene Kanzlerin. Bei ihrem traditionellen Gastauftritt auf dem CSU-Parteitag im November 2015 demütigte Seehofer die CDU-Vorsitzende, indem er sie minutenlang auf dem Podium stehen ließ, während er ihre Flüchtlingspolitik hart attackierte.

Selten deckten sich Rollenklischees der Politik so sehr mit der Wirklichkeit: Seehofer, der rüpelhafte Grantler, Merkel, die kühle Physikerin der Macht, die alle Kritik an sich abperlen lässt. Merkel ahnte, wie der Streit ausgehen würde: Wem sollten die Bayern denn an ihrer Stelle die nächste Kanzlerkandidatur anvertrauen? Die CSU bellt, aber sie beißt nicht, mag sie sich wohl gedacht haben. Und so war es denn auch.

Kreuth redivivus?

1976 hatten Franz Josef Strauß und seine Partei bei einer Klausurtagung in Wildbad Kreuth ernsthaft erwo­gen, die Unionsgemeinschaft mit der CDU aufzukündigen. Um was hatte sich damals doch der Streit gedreht: um wahlstrategische Lappalien. Doch jetzt ging es um nicht weniger als das Jahrhundertthema Migration in einer gleichermaßen über­bevölkerten wie globalisierten Welt. Es ging um ein Megaproblem, das weit mehr als irgendeine temporäre "Flüchtlingskrise" war. Doch die Bayern hatten den Eindruck, dass ihre Schwesterpartei darauf nur mit einer naiven Wir-schaffen-das-schon-Haltung reagierte. Exakt 40 Jahre nach Kreuth war die Frage brisanter denn je: Passen diese beiden Unionsparteien noch zueinander?

Niemand gab es zu, aber selbstverständlich wurde hinter den Kulissen der CSU ein Kreuth II in Erwä­gung gezogen. Auch in der Öffentlichkeit wurde darüber spekuliert. Umfragen zu den Chancen einer bundesweiten CSU oszillierten Mitte 2016 zwischen 16 und 19 Prozent.9 So unterschiedlich Themendruck und Ausgangslage zwischen 1976 und 2016 auch waren, die CSU kam beide Male zum gleichen Schluss. Eine Ausdehnung der CSU auf ganz Deutschland zöge umgehend die Gründung eines Landesverbandes der CDU in Bayern nach sich, was für immer das Ende der Allmacht der CSU im Freistaat bedeuten würde.

Hinzu kam: Der Aufbau von 15 neuen CSU-Landesverbänden nur ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl wäre eine kaum organisierbare Herkulesarbeit gewesen. Doch vor allem die Angst, ihr Bollwerk Bayern zu verlieren, dominierte alle CSU-Überlegungen. Man kann das auf die Formel zuspitzen, die CSU ist lieber die Nummer eins in Bayern als auf Platz drei oder vier in Deutschland. Niemand wusste das von Anfang an besser als Angela Merkel. Die CSU saß in der Zwickmühle, man könnte auch sagen - in der Merkel-Falle.

Gefecht um die "Obergrenze"

Horst Seehofer erweckte 2016 den Eindruck, er sei der einzige, der die Kanzlerin zur Vernunft bringen könnte. Die symbolhafte Debatte drehte sich immer und immer wieder um eine "Obergrenze" von höchstens 200.000 Flüchtlingen pro Jahr. Spätestens als nach den Silvesterereignissen von Köln die Willkommenseuphorie in der Bevölkerung kippte, lenkte Merkel in Detailfragen ein, sie spürte nun auch, dass es ohne Begrenzung nicht gehen könne. Gleichwohl übernahm sie das CSU-Zauberwort "Obergrenze" geradezu trotzig nie. Die CSU berichtete dennoch von Fortschritten im Detail.

Ende 2016 traute sich die CSU-Führung nicht, die Vorsitzende der Schwesterpartei zum angestammten Grußwort auf ihrem Parteitag einzuladen, weil das Risiko einfach zu groß war, dass die Delegierten die Kanzlerin niederpfeifen würden. Nichtsdestoweniger verkündete Parteichef Seehofer kurz darauf, die "Gesamtentwicklung ist gut, die CDU bewegt sich auf die CSU zu".10 Selten traf die Allerweltsmetapher von den unter den Teppich gekehrten Problemen so ins Schwarze. Wenig später, am 6. Februar 2017 wurde die Frau, die man vorsichtshalber vom Parteitag ferngehalten hatte, ausgerechnet in der CSU-Parteizentrale in München zur gemeinsamen Kanzlerkandidatin ausgerufen. Das Streitthema der vergangenen anderthalb Jahre versteckten die Unionsparteien dann im Wahlprogramm auf Seite 63.11 So viel Hin und Her musste schiefgehen.

Rechts von der Union

Die Gaukelei mit dem in der Nacht zum 5. September 2015 telefonisch nicht erreichbaren Parteivorsitzenden mögen viele Christsoziale Angela Merkel verzeihen, nie jedoch ihre, nach CSU-Lesart, tätige Beihilfe für den Wiederaufstieg der AfD. Bereits 2014 hatte die AfD der CSU bei der Europawahl erstmals einen gewaltigen Schrecken eingejagt: Aus dem Stand war sie auf 8,0 Prozent in Bayern gekommen und die CSU konnte nur noch fünf Abgeordnete nach Brüssel und Straßburg schicken, so wenige wie nie zuvor. Ein Jahr später schien das AfD-Gespenst jedoch schon wieder gebannt. Nachdem der Parteigründer Bernd Lucke im Sommer 2015 in einem Putsch entmachtet worden war, dümpelte die AfD in allen Umfragen nur noch zwischen 3 und 4 Prozent.12

Alexander Gauland bezeichnete später die Merkel'sche Flüchtlingspolitik als Geschenk des Himmels, ohne das ein schnelles Comeback seiner Partei nicht gelungen wäre.13 Viele in der CSU sehen das bis heute genauso und geben Merkel die Hauptschuld dafür, dass der ehernste aller Grundsätze von Franz Josef Strauß gebrochen wurde: Rechts von der Union darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben.

Gleichwohl bleibt die Frage offen, ob die CSU angesichts der Tiefe der Meinungsverschiedenheit 2016 nicht doch den Sprung raus aus Bayern hätte wagen müssen. Wenn die AfD überhaupt noch zu stoppen gewesen wäre, dann durch eine bundesweite CSU. So hatte beispielsweise Infratest dimap im Auftrag der ARD-Sendung "#Beckmann" im April 2016 herausgefunden, dass nicht nur 49 Prozent der Unionsanhänger eine Trennung der beiden C-Parteien gut fänden (43 Prozent dagegen), sondern sage und schreibe 68 Prozent der AfD-Sympathisanten dies begrüßt hätten. In Ostdeutschland hätten es 52 Prozent gut gefunden, wenn man in ganz Deutschland CSU wählen könnte.14 Der weltanschauliche Platz zwischen einer immer linksliberaleren CDU auf der einen und einer klar reaktionären AfD auf der anderen Seite war frei. Die CSU als letzte Hüterin eines wahren Konservatismus hätte Chancen gehabt.

Doch das Unionsschisma fand nicht statt und der AfD fiel es im bayerischen Bundestagswahlkampf 2017 leicht, die CSU genüsslich vor sich herzutreiben. Mit zwei ganz simplen Parolen traf sie die schaukelnden Christsozialen ins Herz: "Die AfD hält, was die CSU verspricht", hieß der eine, "Wer CSU wählt, bekommt Merkel", der andere. 12,4 Prozent holte die AfD in Bayern, ihr bestes Ergebnis auf dem Gebiet des ehemaligen Westdeutschlands. Im Bundestag sitzt sie jetzt mit doppelt so vielen Abgeordneten wie die CSU.

Pflicht und Kür

Muss man der CSU Feigheit und Versagen in einer womöglich historischen Stunde vorwerfen? Die Entscheidung, am Ende doch lieber eine Regionalpartei zu bleiben, war und ist durchaus plausibel. Schließlich geht es um die erfolgreichste Partei in der Geschichte der Bundesrepublik. Errechnet man den Durchschnittswert aller bayerischen Landtagswahlen seit 1946, landet die CSU oberhalb von 50 Prozent. Das Gleiche gilt für den Durchschnittswert in Bayern bei allen Bundestagswahlen seit 1949. Keine andere Partei hierzulande kann da mithalten. Warum sollte die CSU also mit deutschlandweiten Abenteuern ihr felsenhaftes Fundament in Bayern gefährden?

Das Entsetzen in der CSU über das für ihre Verhältnisse schwache Ergebnis bei der Bundestagswahl 2017 hat wenig mit der Angst vor einem Bedeutungsverlust in der Berliner Republik zu tun. Zweimal bereits war die CSU sogar schon in der Opposition im Bund (1969 – 1982 und 1998 – 2005). Das empfand sie zwar als ärgerlich, schädlich war es aber ganz und gar nicht. In beiden Perioden fuhr die Partei zu Hause Traumergebnisse ein, unter Alfons Goppel in den 1970er-Jahren und unter Edmund Stoiber zu Beginn des neuen Jahrhunderts. Die Wahrheit ist: Bundestagswahlen sind nur sekundär für die CSU. Der Schock vom September 2017 bezog sich vielmehr auf die kommende Landtagswahl im Oktober 2018, denn ein ähnliches Ergebnis würde den Verlust der absoluten Mehrheit im Münchner Maximilianeum bedeuten. Edmund Stoiber brachte es einmal schlicht auf den Punkt: "Bundestagswahlen sind für die CSU die Kür, die Wahl in Bayern ist die Pflicht."15

Wenn überregionale Parteien Wahlen verlieren, dann ist das schmerzhaft, aber nicht existenzbedrohend. Als etwa die CDU 2011 nach einem halben Jahrhundert aus ihrer Festung Baden-Württemberg vertrieben wurde oder die SPD 2005 und nochmals 2017 in ihrer angeblichen Herzkammer Nordrhein-Westfalen den Kürzeren zog, waren das Einschnitte für die Landesverbände, die auch die Gesamtpartei erschütterten. Doch diese Parteien ruhen auf mehr als einem Fundament, es gibt für sie kaum Alles-oder-Nichts-Wahlen.

Für die CSU ist die bayerische Landtagswahl hingegen immer eine Schicksalswahl, verlöre sie Bayern, verlöre sie alles.16 Diese Besonderheit des deutschen Parteiensystems fiel früher niemandem auf, weil es jahrzehntelang im Freistaat nur darum ging, um wie viele Punkte die CSU bei der nächsten Wahl wohl wieder über 50 Prozent liegen wird. Mit der Schlappe bei der Landtagswahl 2008 wurde erstmals, mit dem Ergebnis der Bundestagswahl 2017 vollends sichtbar, dass die so übermächtig scheinende CSU eine Achillesferse hat.

Menetekel?

Der Verlust von 10,5 Prozent der Stimmen zwischen den Bundestagswahlen 2017 und 2013 zog ein Stühlerücken nach sich. Der seit Jahren schwelende Machtkampf zwischen Horst Seehofer und Markus Söder wurde vor allem mit Hilfe der Landtagsfraktion rasch zugunsten von Söder entschieden. Mit einem neuen, jungen Spitzenkandidaten will die CSU in die Landtagswahl 2018 ziehen. Der Parteivorsitzende ging (wie einst Franz Josef Strauß und Theo Waigel) in die Bundeshauptstadt. Die Rivalen Söder und Seehofer müssen nun gemeinsam um die Zukunft ihrer Partei kämpfen. Der Ausgang der Bundestagswahl war durchaus ein Menetekel für die CSU, am Abgrund, wie es häufig heißt, steht sie dennoch nicht.17

Zwischen 2008 und 2013 war die Situation für sie weitaus gefährlicher gewesen. Damals wäre eine "Servus-CSU-Koalition" politisch möglich gewesen - heute ist sie das jedoch nur arithmetisch. Alle aktuellen Umfragen sagen ein Sechs-Parteien-Parlament aus CSU, SPD, Grüne, Freie Wähler, FDP und AfD nach dem 14. Oktober 2018 für Bayern voraus. Das hat es im Nachkriegsbayern noch nie gegeben, nicht einmal in den frühen 1950er-Jahren, als noch Gruppierungen wie der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten oder die Bayernpartei stattliche Fraktionen stellten. In einem Sechs-Parteien-Parlament kann die CSU die absolute Mehrheit nicht halten. Das heißt freilich auch, solange die AfD nicht koalitionsfähig ist, wird es keine Koalition ohne CSU geben.

Es ist also wie in Berlin, wo trotz aller Unionsverluste an Merkel nicht vorbeiregiert werden kann. 44,2 Prozent der Erststimmen hat die CSU bei der Bundestagswahl geholt, das ist ihr Potenzial, nicht die 38,8 Prozent ihrer Zweitstimmen. Viele Stammwähler hatten Leihstimmen der FDP gegeben. Die CSU wird die Liberalen deshalb bekämpfen, wo sie nur kann. Scheitert die bayerische FDP, wie so häufig in den vergangenen 40 Jahren, wo sie es nur dreimal überhaupt in den Landtag schaffte, wäre ein absolute Mehrheit der Sitze vielleicht doch noch möglich. Und die CSU wird versuchen, die AfD unter 10 Prozent zu drücken. Ihre Hauptgegner bei dieser Wahl stehen also nicht unbedingt "links".

Und wenn es am Ende doch zu einer Koalitionsregierung in Bayern kommen sollte, hätte die CSU eine hochinteressante, durch und durch "bayerische" Option. Eine Koalition mit der SPD, eine Übertragung der welken Großen Koalition vom Bund auf Bayern wird sie meiden. Der Kulturbruch einer Koalition mit den Grünen, der Refugee-Welcome-Partei schlechthin, wäre nichts anderes als das nächste Konjunkturprogramm für die bayerische AfD. Auch eine Wiederauflage des Bündnisses mit der FDP wird sie sich dreimal überlegen, die Bayern-Außenstelle der Lindner-FDP wäre nie so pflegeleicht wie damals die der Westerwelle-Truppe. Nicht erwähnenswert: eine Koalition mit der AfD, was sowieso politischer Selbstmord wäre.

Es bleiben - die Freien Wähler. Ein Unikum des Parteiensystems ganz so wie die CSU selbst. Und eine Partei, die völlig zu Unrecht bei Analysen der politischen Statik im Freistaat gerne übersehen wird, schließlich stellt sie seit zehn Jahren die drittstärkste Fraktion im Landtag. Bisher galt in der CSU ein Berührungsverbot gegenüber den Freien Wählern: Fleisch vom Fleische der CSU sei das, man dürfe diese bürgerliche Alternative zur eigenen Dauerregierungspartei niemals stärken. Doch auch hier hat die AfD die Karten neu gemischt, zumal die neue Rechte auch den Freien Wählern Anhänger abspenstig macht. Die CSU wäre gut beraten, ihr arrogantes Verhältnis zu den Freien Wählern schleunigst zu überdenken.

Die CSU und die Freien Wähler trennen etliche Ansichten im Detail, in der Schlüsselfrage unserer Tage, der Zuwanderungspolitik, sind sie jedoch nicht weit auseinander. Und - was die Freien Wähler wie nichts anderes mit der CSU verbindet - sie sind Bayern pur. Ihre Parteizentrale steht im Gegensatz zu der aller anderen möglichen Koalitionspartner nicht in Berlin! "Mir san mir" müsste man den Freien Wählern nicht auf Hochdeutsch übersetzen.

Kontakt
Weitere News

Das Thüringen-Projekt
Wie wehrhaft ist unsere Demokratie?


Wählen ab 16 oder ab Geburt?
Verfassungsrechtliche Spielräume für eine Wahlrechtsreform


Gemeinsinn in der Krise?
Diskussion über gesellschaftlichen Zusammenhalt in Demokratien


Wie umgehen mit Protestwahl?
Akademiegespräch im Landtag mit Michel Friedman, Thomas Petersen und Astrid Séville


Regionale Hochburgen der Parteien in Bayern
Episode 25 unseres Podcasts mit Jörg Siegmund


Das perfekte Wahlsystem
Was Wahlberechtigte sich für die Stimmabgabe wünschen