Erinnerungskultur in Polen und Russland
Wie der Zweite Weltkrieg die Politik bis heute prägt
Der Zweite Weltkrieg prägt die gegenwärtige Politik Polens und Russlands stärker als noch in den 90er Jahren. Kriegsverbrechen dienen zur Legitimierung nationalistischer Positionen. Um die Deutungshoheit über das Narrativ von Opfer und Täter ist ein Wettstreit entbrannt. Die Tagung "Polen zwischen Deutschland und Russland" der Akademie für Politische Bildung und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat sich mit der Rolle der Erinnerungspolitik in Polen und Russland und der Frage nach einer Versöhnung mit Deutschland beschäftigt.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 03.05.2021
Von: Sara Ritterbach Ciuró / Foto: Sara Ritterbach Ciuró
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Das heutige monoethnische, katholisch geprägte Polen "ist ein Ergebnis von Krieg und kommunistischer Gewaltherrschaft", sagt Basil Kerski, Direktor des Europäischen Solidarnosc-Zentrums in Danzig. Seit dem Wahlsieg der PiS 2015 wird das Land von einer nationalistischen und populistischen Partei regiert. Um ihre Politik zu legitimieren, greift die Regierung oft auf Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zurück. Auch in Russland steht die Erinnerung zunehmend im Fokus der Politik, die einen Opferdiskurs führt. Über die aktuelle Erinnerungspolitik in den beiden Ländern, über Kontroversen um das Massaker von Katyn und die Frage nach der Versöhnung mit Deutschland haben neben Kerski drei Historikerinnen auf der Tagung "Polen zwischen Deutschland und Russland" der Akademie für Politische Bildung und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gesprochen.
Polen: vom multiethnischen zum monoethnischen Staat
Über Jahrhunderte war Polen ein multiethnischer Staat und mehr eine politische als ethnische Nation. Doch durch die europäische Geschichte und die Transformationsprozesse des 20. Jahrhunderts ist laut Kerski ein neues Produkt entstanden: ein monoethnischer, katholisch geprägter Staat. Die Frage nach der Identität des Landes ist weiterhin zentral in der polnischen Gesellschaft. Besonders, da sie durch die europäische Integration sowie durch Digitalisierung und Globalisierung in einen anderen zivilisatorischen Rahmen gesetzt wurde, als nach der Entstehung der Dritten Polnischen Republik im Jahr 1989 erwartet.
Der Systemwechsel 1989 ebnete Polen den Weg zu einer zensurfreien und pluralistischen Debatte über die eigene Geschichte und Identität. Zu den politisch Verantwortlichen des Systemwechsels zählten unter anderem Intellektuelle, Historiker und Publizisten. Sie spürten in den vergangenen 30 Jahren den Wunsch nach einer stärkeren Verbindung zu Europa, sehnten sich nach der verlorenen Multikulturalität Polens und lebten in dem Bewusstsein, dass die kritische Reflexion der Geschichte die Demokratie stärke. Aus diesen Vorstellungen bildete sich eine kulturelle Welle, welche in den vergangenen drei Jahrzehnten den nationalen und internationalen Dialog prägte.
Als Reaktion auf die Debatte um das Massaker von Jedwabne, bei dem 1941 mehrere Hundert jüdische Bürgerinnen und Bürger von Polen ermordet wurden, entstand jedoch eine Gegenkultur zum offenen Umgang mit der eigenen Geschichte. Durch den Wahlsieg der PiS 2015 und die Präsidentschaft von Andrzej Duda wurde diese zusätzlich gestärkt. Die PiS, eine nationalkonservative und populistische Partei, führt seit 2005 eine nationalistische Revolution an, welche die Grundlagen der Dritten Republik infrage stellt. Dabei wird laut Kerski auch der Dialog mit den Nachbarn infrage gestellt. So wird in Polen beispielsweise kritisiert, dass die Staatsgründer von 1989 keinen revisionistischen Kurs eingeschlagen und von Deutschland eine Kriegsentschädigung verlangt haben, sondern sich schnell in Europa verankern wollten. Um den polnischen Nationalismus zu legitimieren, spielt die Interpretation des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle. Ihren Euroskeptizismus begründet die PiS-Regierung unter anderem damit, dass Polen von Europa verlassen worden sei, als es zum Opfer des Hitler-Stalin-Pakts wurde.
Opferdiskurs in Russland
Nicht nur Polen führt derzeit einen Opferdiskurs. "Auch die russische Erinnerungspolitik wendet sich zu einer opferzentrierten Erinnerungspolitik", betont Ekaterina Makhotina von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Der Begriff des Opfers werde in Russland nicht nur zunehmend von Putin verwendet, sondern auch durch die Massenmedien verbreitet. Das Land sei nicht mehr ausschließlich Sieger oder Held, sondern "an erster Stelle Opfer der deutschen Besatzungspolitik in der Sowjetunion".
Laut Makhotina hat das zwei Gründe: Zum einen ist diese Haltung eine Antwort auf die mediale Darstellung Russlands als Täter, zum anderern eine "Rezeption des gesellschaftlichen Wunsches" an die russische Erinnerungspolitik. Die Kriegsgeneration stirbt aus, die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg werden nur noch von ihren Angehörigen weitergetragen. Die imposanten Kriegsgeschichten geraten gegenüber individuellem Leid und schrecklichen Erinnerungen in Vergessenheit. Dabei stehen auch verstärkt Genozide an der sowjetischen Bevölkerung im Fokus, erklärt Makhotina.
Das Massaker von Katyn und die Täterrolle Russlands
Ein Ereignis, das sich nur schwer in den russischen Opferdiskurs einreihen lässt, ist das Massaker von Katyn. Zwischen 3. und 11. Mai 1940 erschossen Angehörige des sowjetischen Volkskommissariats für innere Angelegenheiten rund 4400 Polen in einem Wald in der Nähe von Smolensk. Die Sowjetunion behauptete bis 1990, dass es sich bei dem Völkermord um ein deutsches Kriegsverbrechen gehandelt habe. Die Anerkennung der russischen Täterschaft wurde zu einer der grundlegenden Forderungen der Solidarnosc-Bewegung und belastete das polnisch-sowjetische Verhältnis, erklärt die Historikerin Claudia Weber von der Europa-Universität Viadrina.
Das Schuldeingeständnis sei für die Sowjetunion schwierig gewesen, denn es ging um den Platz des Hitler-Stalin-Pakts in der sowjetischen und russischen Erzählung des Zweiten Weltkriegs, sagt Weber. Als Gorbatschow schließlich die Verantwortung für die Massenmorde einräumte, habe er das in der Hoffnung getan, eine osteuropäische Diskussion über die sowjetische Kriegsgewalt zu verhindern. Weber glaubt jedoch, dass die polnische Geschichtspolitik in den vergangenen Jahren versucht hat, die Ereignisse von Katyn wieder stärker ins Bewusstsein der Menschen zu rücken. Auf russischer Seite ginge es hingegen weniger um das Vertuschen des Massakers, sondern darum, das Narrativ zu bestimmen.
Versöhnung mit Deutschland
Auch die Beziehung von Russland und Polen zu Deutschland ist heute zum Teil noch angespannt. Laut Makhotina ist die Versöhnung als Kollektiv nicht möglich, sondern nur zwischen Menschen. Sie als Russin könne sich beispielsweise nicht mit Deutschland versöhnen. Denn es gehe in diesem Fall um Opfer und Täter und mit Tätern könne man sich nicht versöhnen - zumindest wenn eine Gesellschaft diese Werte mit Radikalität vertrete - so wie die russische Gesellschaft.
Kerski widerspricht dem und glaubt, dass Deutschland und Polen sich versöhnt haben. Er sieht die Aufgabe der Nachkriegsgenerationen darin, die Verständigung und Interaktion mit den Nachbarn zu fördern. Dies sei künftig besonders herausfordernd, da man gemeinsame Interessen erhalten müsse. Rechte Parteien wie die PiS wollten das allerdings verhindern, sagt Kerski.
Annemarie Franke vom Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität sieht es als Defizit, dass in den derzeitigen Diskussionen die Geschichte der Versöhnung zu sehr in "den Bereich des kanonischen" gehoben werde. Sie glaubt, dass dadurch produktive Kontroversen vergessen werden. Meilensteine im deutsch-polnischen Dialog wie der Warschauer Kniefall von Willy Brandt konnten ihre Wirkung nur durch die Kontroversen und öffentlichen Diskussionen entfalten, die sie begleitet haben. Franke sieht es als Aufgabe derjenigen, die sich um die nachbarschaftlichen Beziehungen kümmern, neue Angebote zu schaffen, die historische Ereignisse einbetten und diese in den gegenwärtigen "konfliktbeladenen Dialog" vermitteln.