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Weltwirtschaft in der Corona-Pandemie

Akademie-Kurzanalyse 3/2020 von Wolfgang Quaisser

Der Aufsatz "Weltwirtschaft in der Corona-Pandemie" von Wolfgang Quaisser wurde im November 2020 als Akademie-Kurzanalyse veröffentlicht.

Tutzing / Publikation / Online seit: 03.01.2021

Von: Wolfgang Quaisser

Wolfgang Quaisser
Weltwirtschaft in der Corona-Pandemie
Akademie-Kurzanalysen, Tutzing, 2020

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Die Ökonomie der Coronakrise: Exit wohin?

Nach mehr als einem Jahrzehnt steht die Welt erneut vor einer globalen Wirtschaftskrise. Lässt man die wirtschaftlichen Folgen des Zweiten Weltkrieges für Europa außer Acht, dann erschien die Finanz- und Wirtschaftskrise beginnend mit dem Jahr 2008 als die größte Verwerfung nach der Großen Depression von 1929. Doch die Auswirkungen der jetzigen Pandemie haben das Potenzial, sie noch zu übertreffen. Es ist allerdings nicht so, dass es nach 1945 nur bergauf ging. Größere Konjunkturschwankungen in den 1970er-Jahren, der Ölpreisschock, die Stagflation (hohe Inflation und geringes Wachstum) in den 1980er-Jahren, der Börsencrash von 1987, die Asienkrise 1997/98 und schließlich die Transformationskrise der ehemals sozialistischen Länder in den 1990er-Jahren spiegelten das Auf und Ab des Wirtschaftsgeschehens wider. Es folgten das Platzen der Internetblase im März 2000 (Dot-Com-Crash) sowie die Anschläge auf das World Trade Center im September 2001.

Die dadurch verursachten Wirtschaftseinbrüche waren jedoch nicht mit der tiefen Krise von 2008 und den Folgen der jetzigen Pandemie vergleichbar und ihrer Natur nach anders gelagert. Vor zehn Jahren hat der Autor dieser Zeilen eine Kurzanalyse geschrieben und die Frage gestellt, welchen Ausgang die damalige Weltwirtschaftskrise von 2008 nehmen könnte.1 Diese Frage soll angesichts der neuen Ereignisse wieder gestellt werden, wobei an einigen Stellen auf die frühere Studie Bezug genommen wird. Wie damals werden historische Vergleiche gezogen, um vermeintliche Fehler der Vergangenheit und Gefahren für die Zukunft aufzuzeigen. Wird die Erholung wieder so rasch einsetzen wie 2008? Können wir aus den vergangenen Krisen lernen?

Charakter des Wirtschaftseinbruchs

Grundsätzlich unterscheidet sich die jetzige durch die Pandemie ausgelöste Weltwirtschaftskrise von allen vorhergehenden ökonomischen Einbrüchen. Die Große Depression begann im Jahr 1929 durch einen Nachfrageschock, der seinen Ausgangspunkt in einem Börsencrash und in verschiedenen nachfolgenden Wellen von Bankenpleiten hatte. Die Krise zog sich faktisch die gesamten 1930er-Jahre hin. Hintergrund waren der in Spekulationsblasen endende Wirtschaftsboom in den USA und ein spezifisches Politikversagen, auf das noch einzugehen sein wird. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise des Jahres 2008 hatte dagegen ihren Ursprung in massiven Fehlbewertungen im amerikanischen Immobiliensektor. In beiden Krisen hatten sich zudem im "Maschinenraum" des Kapitalismus Fehlfunktionen offenbart, aus denen sich systemische Krisen im Finanz­sektor entwickelten. Das Platzen von Spekulationsblasen zog in den 1930er-Jahren den Finanzsektor in den Abgrund, weil Investment- und Geschäftsbanking eng verwoben waren. Die wichtige Funktion von Banken zur Finanzierung der Wirtschaft und Haushalte konnte nicht mehr wahrgenommen werden. Als Reaktion darauf führte man mit dem Glass-­Eagel-Act von 1932 und 1933 ein Trennbankensystem ein, das erst unter Bill Clinton in den 1990er-Jahren wieder aufgehoben wurde.

Im Nachhinein scheint die umfassende Finanzmarktliberalisierung ohne weitere Regulierungs­sicherungen ein fataler Fehler gewesen zu sein, denn auch 2008 drohte das Platzen einer Spekulationsblase (diesmal bei Immobilien) das gesamte Finanzsystem in den Abgrund zu reißen. Zudem offenbarten sich weitere systemische Defizite, die auf neuartige synthetische Finanzprodukte zurückzuführen waren. Sie schienen die normalerweise geltenden Sicherungen bei der Kreditvergabe zu umgehen, allerdings um den Preis, dass Risiko und Haftung auseinanderfielen und die toxischen Finanzprodukte nach dem Zusammenbruch der Spekulationsblase das weltweite Finanzsystem infizierten. Zwar führte man das strikte Trennbankensystem nicht mehr ein, doch man reagierte mit einem umfangreichen Regulierungsprogramm. Im zweiten Schritt war dann sowohl bei der Großen Depression als auch bei der Krise 2008 die Realwirtschaft betroffen, weil der Finanzsektor vor dem Zusammenbruch stand und jegliches Vertrauen in den Zahlungsverkehr schwand, sodass sich folglich der wirtschaftliche Austausch stark verlangsamte.2

Der Pandemieschock

Die jetzige Pandemiekrise ist ganz anderer Natur. Das Auftreten des Virus ist zwar als exogener Schock zu werten, doch die wirtschaftlichen Folgen auf der Angebotsseite sind von den Regierungen gewollt beziehungsweise aufgrund der allgemeinen Verunsicherung durch den "Lockdown" herbeigeführt worden. Fabriken, Geschäfte und Lokale mussten zwecks Pandemiebekämpfung schließen oder machten aufgrund wegbrechender Nachfrage von alleine zu. Gleichzeitig wurden internationale Lieferketten unterbrochen. Etwas Vergleichbares gab es in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte bisher nicht. Dies verbindet sich mit einem negativen Nachfrageschock. Viele Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz und ihr Einkommen. Auch sind sie aufgrund der Restriktionen für Läden und Restaurants gezwungen, weniger zu konsumieren oder unterlassen es aus Sorge vor Ansteckung.

Psychologische Effekte verstärkten in der Pandemie die massiven Unsicherheiten und der Wirtschaftseinbruch breitete sich nach Sektoren differenziert über Länder und Kontinente aus. Der Ausgangspunkt war China, dann erfasste das Virus Asien, Europa und schließlich die USA sowie die Schwellenländer. Einigkeit besteht darin, dass eine nachhaltige Stabilisierung erst möglich sein wird, wenn wirksame Medikamente und Impfstoffe vorhanden sind. Doch das Problem besteht darin, dass es im Moment nicht klar ist, wann ein sicherer und effektiver Impfstoff vorhanden sein wird und wie lange er immunisiert. Mitte bis Ende 2021 hofft man, soweit zu sein. Gleiches gilt zudem für eine schon einmal durchlaufene Infektion, sodass eine Herdenimmunität so schnell nicht zu erreichen ist, das heißt es besteht die Gefahr, dass wir noch lange mit dem Virus und möglichen Einschränkungen leben müssen.3

Epidemien in der Geschichte

Aus der Geschichte kennt man die verheerenden ökonomischen und sozialen Auswirkungen von Epidemien wie beispielsweise in der Antike und im Mittelalter. Sie veränderten die jeweiligen Gesellschaften nachhaltig, indem bestehende Routinen und Orientierungsmuster infrage gestellt wurden und eine neue modifizierte Ordnung an ihre Stelle trat.4 In einigen Fällen trugen Epidemien maßgeblich zur Schwächung, teilweise sogar zum Untergang von Imperien bei. Sogar der Niedergang des Römischen Reiches wird neben Klimaveränderungen auch Seuchen zugeschrieben. So verstärkte ab 541 die justinianische Pest den sich lang hinziehenden Niedergang des Oströmischen Reiches.5 Bewaffnete Konflikte, Bürger- und Glaubenskriege sowie Gesundheitskatastrophen führten in Kombination mit Seuchen zu nachhaltigen Zerstörungen wie beispielsweise im Dreißigjährigen Krieg. Dabei verstärkten sich die einzelnen negativen Geschehnisse gegenseitig, sodass eine Quantifizierung des kausalen Einflusses einzelner Faktoren auf die sozialökonomische Entwicklung nicht möglich ist.

Historische Vergleiche sind für die moderne Welt jedoch nur begrenzt hilfreich und wirtschaftspolitische Empfehlungen zur Pandemiebekämpfung lassen sich deshalb daraus schon gar nicht ableiten. Selbst die Spanische Grippe im Jahre 1918 kann nicht als "Referenzmodell" dienen. Mitten in einem Weltkrieg waren die Regierungen nicht bereit, Wirtschaft und öffentliches Leben stillzulegen. Das Ergebnis waren etwa 40 Millionen Tote. Die daraus resultierenden unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen sind jedoch schwer zu kalkulieren beziehungsweise sie wurden durch die allgemeinen Kriegsfolgen überlagert. Einige Schätzungen gehen von 6 Prozent bis 8 Prozent des Sozialproduktes der betroffenen Länder aus.6 Für moderne, zumal demokratische Gesellschaften, aber selbst für autoritäre Regierungen ist es nicht möglich, eine hohe Sterblichkeit im Gegenzug zu einem vermeintlich geringeren Wirtschaftseinbruch in Kauf zu nehmen. Die Zusammenhänge zwischen Pandemiebekämpfung und ihren sozioökonomischen Auswirkungen sind heutzutage komplexer, denn es zeigt sich, dass die Eindämmung des Virus die Wirtschaft mittel- und langfristig stabilisiert.

Schwarzer Schwan?

Die jetzige Pandemiekrise wird vielfach als "schwarzer Schwan" bezeichnet, das heißt als unerwartetes negatives Ereignis.7 Doch Nassim Taleb, der in seinem gleichnamigen Buch solche Ereignisse analysiert, lehnt die Metapher für die jetzige Pandemie ab, denn völlig unvorhergesehen kam sie nicht. Es sei deshalb nicht einfach entschuldbar, darauf unvorbereitet gewesen zu sein. Die Gefahr einer Pandemie sei vielmehr ein "weißer Schwan" gewesen, denn sie lag im Rahmen der globalisierten Welt durchaus im Bereich des Möglichen und Vorhersehbaren.8 Die verschiedensten Erreger hatten das Potenzial, weltweite Pandemien auszulösen. So hatte man schon die Erfahrungen mit dem Sars-1-Virus gemacht, das weniger ansteckend, aber tödlicher war. Zudem warnten etliche Experten vor einer Wiederholung im weltweiten Maßstab, auch wenn die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines solchen Ereignisses als gering eingeschätzt wurde. Sogar in einem Katastrophenbericht für die Bundesregierung aus dem Jahr 2012 wird das Szenario einer sich ausbreitenden Pandemie (allerdings mit tödlicheren Folgen) beschrieben.9

Erweitert man den Blick auf große Krisen in der Wirtschaftsgeschichte, dann wurden sie oft durch unerwartete Naturereignisse, also durch exogene Schocks ausgelöst. Meist führten sie im Verbund mit ökonomischen und sozialen Verwerfungen zu grundlegenden Änderungen der Gesellschaft und Wirtschaftspolitik.10 Der Wirtschaftshistoriker Harold James führt als Beispiel die durch schlechte Witterungsbedingungen ausgelöste Hungerkrise von 1845 und 1846 an, die maßgeblich die schon lange gärende politische Unzufriedenheit in Europa verstärkte. Hinzu kamen die Spekulationskrisen bei Getreide und Eisenbahnaktien.11 Angebotsschock und Finanzkrise erschütterten das Ancien Regime und befeuerten die bürgerliche Revolution von 1848, aber auch die Fundamentalkritik am Kapitalismus von Karl Marx und Friedrich Engels. Die größte Krise entstand jedoch mit dem Ersten Weltkrieg. Regierungen stellten die zivile Produktion auf militärische um (ein negativer Angebotsschock) und die schon recht weitgehende Globalisierung wurde unterbrochen. Die Staaten finanzierten die Kriegskosten über Zwangsanleihen, die dann in den Bilanzen der Zentralbanken auftauchten und damit zu einer Monetarisierung der Schulden führten. Der Geldschwemme begegneten die Länder unterschiedlich. So verfolgten die USA und Großbritannien zunächst eine strenge Fiskalpolitik, dagegen Deutschland, Österreich und Ungarn eine expansive Geld- und Fiskalpolitik. Mögliche finanzpolitische Probleme wurden in Kauf genommen, um revolutionäre Gefahren zu bannen. Die Hyperinflation der 1920er-Jahre und politische Instabilität waren schließlich die Folge.

Die wirtschaftlichen Folgen

Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Coronakrise sind dramatisch. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartete in seiner Prognose vom Oktober 2020 die tiefste Rezession der Weltwirtschaft seit einem Jahrhundert. Obwohl die Zahlen gegenüber der vorherigen Prognose etwas günstiger ausfallen, wird für 2020 mit einem Minus von 4,4 Prozent des Sozialproduktes gerechnet, beim Welthandel von 10,4 Prozent. Ein erhebliches Risiko besteht darin, dass es auch schlimmer kommen könnte. Die OECD schätzte in ihrer Prognose vom Juni 2020 den weltweiten Rückgang auf 7 Prozent, bei einer zweiten Welle der Pandemie auf 7,6 Prozent. Die Prognosen vom September zeichnen mit einem Rückgang der weltweiten Wirtschaftsleistung von 4,5 Prozent ein etwas günstigeres Bild. Für das nächste Jahr wird zwar von einer Erholung ausgegangen, unklar ist jedoch, wie stark sie ausfällt. Alle Regionen der Weltwirtschaft werden erfasst, doch hat es Europa, vor allem aber Südeuropa und Großbritannien besonders hart getroffen. Für Italien und Spanien wird ein Rückgang von 10,6 beziehungsweise 12,8 Prozent erwartet. Auch Deutschland wird wirtschaftlich stark in Mitleidenschaft gezogen (IWF-Prognose: -6 Prozent.), vor allem wegen der starken Exportabhängigkeit. Jüngste Prognosen der Bundesregierung sehen die deutsche Wirtschaft in einem rascheren Aufwind und sagen "nur" einen Rückgang des Sozialproduktes von 5,8 Prozent (-5,4 Prozent Gemeinschaftsprognose der führenden deutschen Wirtschafsinstitute) voraus.12

Das Epizentrum der Pandemie hat sich von China über Europa in die USA und nach Lateinamerika sowie in andere Schwellenländer verlagert. Die USA sind noch immer die größte Volkswirtschaft der Welt. Die Arbeitslosenquote ist dort zwischenzeitlich auf den sehr hohen Wert von fast 15 Prozent (Schätzung für Ende 2020: 9 Prozent) gestiegen. Da keine umfassende Sozialabsicherung besteht, sind die sozialen Auswirkungen dramatisch, was zu politischen Spannungen führt. Angesichts solcher Unsicherheiten ist es verwunderlich, dass die Wall Street nicht stärker eingebrochen ist. Die Auswirkungen der Pandemie auf die Schwellenländer, unter anderem Brasilien und Indien, sind nicht absehbar. Eine starke Kapitalflucht, sinkende Rohstoffpreise und eine geringere weltwirtschaftliche Verflechtung lassen das Schlimmste befürchten. Dies erklärt den enormen Druck, möglichst bald weitgehende Lockerungen vorzunehmen, zumal angesichts der prekären sozialen Lage manche Maßnahmen kaum wirken beziehungsweise hohe Kollateralschäden verursachen. Es ist fraglich, ob das gut geht, denn die Pandemie verstärkt sich beziehungsweise flammt weiter auf. Einige positive Nachrichten gibt es aber auch, zum Beispiel erholen sich die chinesische Wirtschaft und langsam auch wieder die deutsche Ökonomie. Falls es gelingt, die Pandemie einzudämmen, besteht die Chance, dass auch die Schwellenländer im nächsten Jahr wieder ein Wachstum erzielen.

Weltwirtschaftskrisen - ein Vergleich

Während der Weltwirtschaftskrise 1929 und der Finanzkrise 2008 konnte man durchaus auf historische Erfahrungen zurückgreifen, auch wenn man im ersten Fall nicht die richtigen Schlüsse daraus zog. Auf Fehlspekulationen (Blasen) zurückzuführende Finanzkrisen gab es in der Wirtschaftsgeschichte zuhauf. Carmen Reinhard und Kenneth Rogoff beschreiben in ihren Buch Diesmal ist alles anders die lange Geschichte solcher Krisen.13 Deren gemeinsames Merkmal ist, dass sie meist länger dauern als andere Nachfrageschocks (im Schnitt sieben Jahre). Platzen Spekulationsblasen und erfassen diese den Banken- und Finanzsektor, dann droht eine Bilanzrezession. Durch den Wertverlust von Finanzpapieren und Aktien versuchen dann Banken und Unternehmen ihre Bilanzen zu verkürzen, um zu überleben. Es drohen Kreditklemme und geringere Investitionen im Unternehmenssektor, die sich wie in Japan in den 1990er-Jahren lange hinziehen können.

Vergleicht man den Verlauf der Großen Depression, die Finanzkrise 2008 und die jetzige Coronakrise, dann fällt Folgendes auf: Der Börsencrash überstieg in der Coronakrise den der beiden anderen Einbrüche, doch erholten sich die Kurse rasch. Die Weltwirtschaftskrisen von 1929 und 2008 zeigen insofern Parallelen, als überschuldete Haushalte, geplatzte Spekulationsblase, globale Ungleichgewichte mit einer Banken- sowie Finanzkrise einhergingen. In der Großen Depression fielen die Börsenkurse über zehn Jahre mit einigen Wellenbewegungen, in der Finanzkrise setzte die Erholung nach zwei bis drei Jahren ein, wobei die Aktien- und Immobilienmärkte dann einen anhaltenden Boom erlebten und deutlich das Ausgangsniveau von 2007 überschritten. In der Coronakrise erlebte die Industrie­produktion zunächst einen wirtschaftshistorisch beispiellosen Absturz. In der Großen Depression ging sie langsamer zurück, in der Finanzkrise 2008 schneller, sank jedoch nicht so tief wie in der jetzigen Krise. Erst langsam zeichnet sich in der Corona-Pandemie ab Mitte 2020 eine Konsolidierung ab, aber wann sich die Wirtschaft dauerhaft stabilisiert, ist noch völlig offen. In der Großen Depression erholten sich Produktion und Beschäftigung über viele Jahre kaum. Die Depression hielt in den 1930er-Jahren 48 Monate an. So erreichte in den USA die Arbeitslosenquote fast 30 Prozent (2009: circa 9 Prozent). In der Finanzkrise endete die Rezession etwa nach 20 Monaten. Viele Industrieländer mit Ausnahme etlicher EU-Südländer (vor allem Italien) erlebten einen rezessionsfreien fast zehnjährigen Aufschwung und starken Beschäftigungszuwachs. Dennoch zeigte die Weltwirtschaft schon vor dem Ausbruch der Coronakrise Schwächen. Der Welthandel wuchs nicht mehr so schnell wie in den Jahrzehnten zuvor, es gab Anzeichen einer Rezession, die auch auf Strukturprobleme hindeuteten. Auch Deutschland verzeichnete schon ab Herbst 2019 eine deutliche Abschwächung der Konjunktur. Anhaltende Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen charakterisierten die Weltwirtschaft und führten zu handelspolitischen Spannungen.14

Unterschiede zur Corona-Pandemie

Bei näherer Betrachtung sind deutliche Unterschiede zwischen den Weltwirtschaftskrisen 1929 und 2008 erkennbar: 1929 platzte die Aktienblase, 2008 dagegen fiel nach dem US-Immobilienboom die Kreditexpansion in sich zusammen. 1929 implodierte zunächst die Spekulation, die Bankenkrise folgte erst mit zwei Jahren Verzögerung. 1931 muss als der eigentliche Beginn der weltweiten Krise angesehen werden, denn nach dem Zusammenbruch der europäischen Banken geriet der amerikanische Finanzsektor in Not und ein lang anhaltender Produktionsrückgang setzte ein. In der Finanzkrise 2008 waren beide Entwicklungen, das heißt das Platzen der Spekulationsblase und die Bankenkrise, sehr eng miteinander verflochten, was ihre hohe Intensität und Geschwindigkeit erklärt. Erst relativ spät erfolgte der Aktiencrash und zwar nach dem Platzen der Immobilienblase und nach der Leh­man-Pleite im Oktober 2008.

Die jetzige Coronakrise ist dagegen ein exogener Schock, der auf die Angebots- und Nachfrageseite wirkt und sich mit den anderen Krisen nicht gleichsetzen lässt. Dennoch entsprechen die Reaktionen der Wirtschaftspolitik denen nach 2008. Im entscheidenden Unterschied zur Großen Depression, als die amerikanische Zentralbank die Geldversorgung einschränkte, wurde diese nach 2008 und in der momentanen Weltwirtschaftskrise ausgedehnt. Ähnliches gilt für die Fiskalpolitik, die Anfang der 1930er-Jahre restriktiv, dann mit Franklin D. Roosevelt verhalten expansiv, 2008 und in der aktuellen Krise expansiv ausfiel sowie für den Protektionismus, der sich in den 1930er-Jahre verschärfte, jetzt nur moderate Tendenzen zeigt. Deshalb ist die Hoffnung begründet, dass die derzeitige Krise kürzer und weniger tief verlaufen könnte als in den 1930er-Jahren, also einen ähnlichen Verlauf nimmt wie 2008. Sorgen bereiten allerdings die Kollateralschäden der Krisenbewältigung. Ähnlich wie nach der letzten Finanzkrise wird der Preis eine rasch ansteigende Verschuldung sein.

Rettungspolitik

Die zentrale Frage ist, ob eine früher erfolgreiche Politik der Wirtschaftsstabilisierung in der jetzigen Situation wiederholt werden kann beziehungsweise welche Maßnahmen erfolgversprechend sein können. Clemens Fuest unterscheidet in diesem Kontext drei Phasen, auf die mit entsprechenden wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen reagiert werden sollte.15 In der ersten Schockphase müssen durch großzügige Liquiditätsbereitstellung die unmittelbaren negativen Auswirkungen aufgefangen werden. Da es sich um eine kombinierte Angebots- und Nachfragekrise handelt, ist in der Lockdown-Phase entscheidend, dass die durch das Einfrieren des Wirtschaftslebens verursachten Unternehmenspleiten und Liquiditätsengpässe zunächst verhindert werden. Dahinter steht die Überlegung, dass es sich um einen exogenen Schock handelt, der die Angebotsseite und insbesondere einige Sektoren stark trifft, ohne dass der Auslöser auf tiefgreifende strukturelle Probleme zurückzuführen ist. Gehen Unternehmen in der Krise pleite, wird organisatorisches und institutionelles Kapital vernichtet, das nicht so schnell wieder aufgebaut werden kann. Außerdem wird eine Kettenreaktion in Gang gesetzt: Durch den Verfall der Assetpreise (Aktien, Anleihen) werden Löcher in die Bilanzen der Finanzinstitute gerissen, die immer schwerer auszugleichen sind und die dann die Krise in fataler Weise beschleunigen. In einem solchen Fall müsste dann eine Rekapitalisierung von Unternehmen und Banken erfolgen, um diesen Brandbeschleuniger der Krise einzudämmen.

Es ist daher richtig gewesen, dass sowohl die Geld- als auch die Fiskalpolitik aggressiv reagierte, um die Liquidität aufrechtzuerhalten und einen Verfall der Vermögenswerte zu unterbinden. Zudem wurde verhindert, dass sich eine negative Erwartungshaltung wie in der Großen Depression festsetzt. Die Summen, die bewegt werden, sind allerdings beachtlich: Allein die Europäische Zentralbank hat zusätzliche 1,3 Billionen Euro für das spezielle Aufkaufprogramm PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme) zur Verfügung gestellt. Alle anderen Zentralbanken handelten ähnlich. Hinzu kamen Rettungsprogramme, die sich in Deutschland alleine auf 1,2 Billionen Euro belaufen, in den USA auf 2 Billionen US-Dollar. Um die Arbeitnehmer zu unterstützen, reagierten einige Länder (allen voran Deutschland) mit Kurzarbeiterprogrammen, die Arbeitslosigkeit vermeiden, den Rückgang der Einkommen zumindest etwas aufhalten und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage damit stabilisieren. Zugleich haben solche Maßnahmen den Vorteil, dass bei einer Stabilisierung der Konjunktur, die Produktion rasch ohne größere Reibungsverluste wieder anspringen kann. Deutschland hat damit gute Erfahrungen gemacht und unterstützt dies nunmehr auch teilweise finanziell auf europäischer Ebene.

Verlauf der Erholung: V, U oder L?

Welchen Verlauf wird die Erholung nach der Krise haben? Wird sie eher einem V, einem U oder einem L gleichen? Wäre die Pandemie nur ein kurzer exogener Schock, dann könnte man auf ein V hoffen, das heißt einem dramatischen Einbruch folgt eine ebenso rasche Erholung. Stabilisiert sich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, dann würde die Erholung deshalb rasch an Fahrt gewinnen, weil brachliegende Produktionskapazitäten sofort wieder genutzt werden können. Die Produktion wächst dann schneller als in normalen Zeiten, bis die Grenze des Produktionspotenzials wieder erreicht ist. Das Wirtschaftswachstum könnte sich auch deshalb wieder schnell beleben, weil das Finanzsystem bei gelungenen Rettungsmaßnahmen nicht infiziert und die Kreditvergabe nicht gestört wäre. Die Frage der Zeitdimension ist deshalb entscheidend. Zunächst ist einleuchtend, dass Unternehmen und Arbeitsplätze nicht über längere Zeit künstlich am Leben erhalten werden können, wenn die Wirtschaft nicht anspringt. Sollte sich gleichzeitig die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nicht nachhaltig erholen, droht ein weiterer dauerhafter Verlust eines Teils des Produktionspotenzials, oder sogar eine geringere Wachstumsrate. In beiden Fällen werden die wirtschaftlichen Verluste nicht mehr kompensiert.16 Hans-Werner Sinn geht für viele Länder von einem Krisenverlauf in Gestalt eines umgekehrten Wurzelzeichens aus, das heißt einem starken Einbruch und einer raschen Erholung auf niedrigerem Niveau.17

In diesem Kontext muss die Frage gestellt werden, wie wirksam die nunmehr in teilweise gigantischem Ausmaß angestoßenen Konjunkturprogramme überhaupt sind. Deutschland hat 130 Milliarden Euro mobilisiert. Es liegt in der Natur der Pandemie beziehungsweise ihrer Bekämpfung, dass die Angebotsseite durch Lockdown-Maßnahmen, Kontaktverbote, Grenzkontrollen etc. geschädigt wird. Hier kommt wieder der Zeitfaktor ins Spiel: Je kürzer die Begrenzung, desto größer ist die Chance, dass die Produktion rasch wieder anspringen wird und desto geringer sind die negativen Nachfrageeffekte durch den Ausfall von Einkommen. Vor diesem Hintergrund ist auch der starke Druck der Wirtschaft zu verstehen, Restriktionen rasch zu lockern und die Wirtschaft wieder hochzufahren. Die Problematik liegt jedoch darin, dass ein erneutes, durch verfrühte Lockerungsmaßnahmen induziertes Aufflammen der Infektionen, das heißt eine zweite und dritte Welle, wie sie sich jetzt abzeichnen, einen enormen wirtschaftlichen Schaden verursachen würde, der weit über dem durch eine konsequente Pandemiebekämpfung entstandenen läge. Daraus kann man schlussfolgern, dass es sich um einen scheinbaren Gegensatz zwischen den Zielen der Pandemiebekämpfung und der Wirtschaftsbelebung handelt. Regierungen, die zu früh auf die Öffnung setzten, mussten sich korrigieren. Es geht vielmehr um ein abgestimmtes Vorgehen (Hammer and Dance), um die Pandemie in Schach zu halten und gleichzeitig die Wirtschaft zu beleben.18

Langsamere Erholung wahrscheinlich

Nach allem, was wir über dieses Virus wissen, wird es nicht so schnell verschwinden und die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen braucht Zeit. Es kann deshalb sein, dass wir länger mit dem Virus leben müssen. Entscheidend ist deshalb, ob es nach Abschwächung der Pandemie gelingt, die Wirtschaft wieder zu aktivieren und die Verbreitung des Virus unter Kontrolle zu halten (nach Clemens Fuest: Phase 3 der Wirtschaftsbelebung). Dies bedeutet auch, dass trotz der Lockerungen die Angebotsseite nicht so flexibel reagieren kann, weil Beschränkungen noch bestehen oder wieder eingeführt werden können. Dies gilt auch für den langsamen Aufbau von Lieferketten, sodass erwartet werden kann, dass sich der Welthandel erst langsam wieder erholt. Einige Bereiche des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft (Gastgewerbe, Tourismus, Kultur) werden noch länger in Mitleidenschaft gezogen. Es drohen auch teilweise nachhaltige Verluste auf der Angebotsseite. Dies heißt aber auch, dass die Konjunkturprogramme nicht so stark wirken wie man es sonst erwarten könnte, zumal die Pandemie in gewisser zeitlicher Verzögerung einzelne Regionen der Welt trifft und sich damit die Dauer der Rezession verlängert.

Wir müssen deshalb eher davon ausgehen, dass Wirtschaft und öffentliches Leben nur langsam hochgefahren werden können und die Krise länger anhalten wird. Dauerhafte Angebotsverluste werden sich trotz der Rettungsmaßnahmen nicht gänzlich vermeiden lassen. Ein Beispiel dafür ist die Luft- und die Kreuzfahrtindustrie. Ferner muss berücksichtigt werden, dass sich die deutsche Wirtschaft und die Weltwirtschaft schon vor der Pandemie in einem Abwärtstrend befanden. Für Deutschland sind hier besonders die strukturellen Probleme der Automobilindustrie und des Maschinenbaus kennzeichnend.19 Wir haben es also mit einem Dreiklang zu tun: mit einem Angebots- und Nachfrageschock sowie mit einer Strukturkrise. Hinzu kommen die Probleme des ökologischen Umbaus der Wirtschaft sowie des demografischen Wandels. Für die Rettungsmaßnahmen gibt es in dieser Krise keine klare Blaupause. Vieles ist vage und verändert sich mit der Zeit, doch gilt es auch, die Kollateralschäden im Auge zu behalten.

Gefahr eines wachsenden Staatseinflusses

Der Staat ist in der Bewältigung der Pandemiekrise der zentrale Akteur, genauso wie in der Finanzkrise 2008. Jetzt rettet er Unternehmen und Arbeitsplätze direkt, damals Banken. Dabei vollzieht er eine gefährliche Gratwanderung zwischen notwendigen, zeitlich begrenzten Interventionen zum Schutz von Unternehmen und somit von Arbeitsplätzen sowie der Erhaltung von nicht überlebensfähigen Strukturen. Ein Königsweg ist schwer zu finden, denn vielfach überlagern sich konjunktur- und strukturpolitische Probleme und jeder Einzelfall erfordert schwierige Abwägungen. Um nur einige Probleme zu nennen: Soll man Lufthansa oder TUI mit vielen Milliarden Euro retten? Wie stark soll dann der Einfluss des Staates auf das Unternehmen sein? Wie lange wird das Kurzarbeitergeld gezahlt oder eine Mehrwertsteuersenkung gewährt? Die Rettungspolitik bringt es unweigerlich mit sich, dass der staatliche Einfluss stark ansteigt, denn eigentlich insolvente Unternehmen überleben allein aufgrund von Liquiditätshilfen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass schon vor der Krise sogenannte Zombi-Unternehmen nur wegen niedriger Zinsen nicht pleitegegangen sind. Zudem wurde das Insolvenzrecht bis Ende 2020 außer Kraft gesetzt. Droht danach eine Insolvenzwelle? Die Zahl der Arbeitslosen kann deutlich steigen, denn unbegrenzt fließt die staatliche Unterstützung nicht. Abgesehen von den begrenzten finanziellen Möglichkeiten, würden damit teilweise Firmen am Leben erhalten, deren Geschäftsmodell ohnehin obsolet ist. Ein solches Vorgehen würde jedoch die Grundprinzipien einer freien Marktwirtschaft, das heißt den freien Wettbewerb, das Produktivitätswachstum und damit den künftigen Wohlstand unterminieren.20

Vielfach wird die Forderung erhoben, die wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Minderung der ökonomischen Folgen der Pandemie so auszurichten, dass sie einen Beitrag zur Lösung langfristiger Probleme leisten. Es klingt zunächst plausibel, die vielen Milliarden Euro einzusetzen, um die Resilienz der Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber bekannten und unbekannten Bedrohungen zu stärken, zumal sich einige Trends (unter anderem die Digitalisierung) durch die Pandemie verstärken. Doch die grundsätzliche Frage bleibt bestehen, ob solche an strukturpolitischen Zielen ausgerichtete Maßnahmen wirklich in der Lage sind, kurzfristig die Wirtschaft zu stützen, denn hier handelt es sich ja eher um Rettungsmaßnahmen. Sie zielen eigentlich darauf, das bestehende Produktionspotenzial zu schützen und auf diesem Fundament die Konjunktur anzukurbeln. Denkt man über die mittel- und langfristig angelegten Programme nach, die sowohl auf Bundesebene als auch im EU-Rahmen angestoßen werden, dann sieht die Sache anders aus. Doch auch hier stellt sich die Frage, ob der Staat wirklich in der Lage ist, so zielgenau den Strukturwandel zu fördern und sich damit als besserer Unternehmer erweist. Dies gilt auch für die langfristigen Probleme des Klimawandels, der demografischen Veränderung und der Digitalisierung in Wirtschaft und öffentlicher Infrastruktur. Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Maßnahmen sollten deshalb unabhängig von der jetzigen Krise konzipiert beziehungsweise die Schnittmengen und Anknüpfungspunkte sehr genau überlegt werden.

Überforderung des Sozialstaates

Wesentliche Folgen der Coronakrise sind, dass die soziale Ungleichheit sich verstärkt und verschiedene Branchen unterschiedlich stark getroffen werden. Teilweise stehen kleine Unternehmen, Gastwirtschaften und Selbstständige in den Reise-, Musik- und Kulturbranchen vor existenziellen Bedrohungen. Zwar werden sie mit Überbrückungshilfen unterstützt, doch dauert die Krise länger, stehen sie zwangsläufig vor dem Aus, während Großunternehmen (zumindest teilweise) dies besser verkraften oder mehr politische Macht zu ihrer Unterstützung mobilisieren können. Gleichzeitig sind die abhängig Beschäftigten in einigen Branchen mit existenziellen Problemen konfrontiert, während gleichzeitig Aktien- und Immobilienbesitzer (zumindest bis jetzt) weiterhin beachtliche Vermögenszuwächse oder zumindest keine größeren Verluste erleiden mussten. Zudem sind nachweislich Kinder aus Familien mit niedrigen Einkommen in der Bildung stärker betroffen, da sie einer intensiveren Betreuung bedürfen. All dies verstärkt die gesellschaftlichen Spannungen, die sich teilweise auch (verbunden mit allerlei Verschwörungstheorien) in offenen Protesten niederschlagen.

Der Vorteil der Sozialen Marktwirtschaft ist, dass die sozialen Sicherungssysteme gut ausgebaut sind, um die gröbsten Härten zu mildern. In einigen Bereichen gibt es hingegen markante Defizite, so im Bildungssektor, die es in den nächsten Jahren im Sinne der Betroffenen, aber auch der Wirtschaft abzumildern gilt. Bildung ist insbesondere in unserer hochentwickelten Volkswirtschaft die Garantie für Wohlstand und Chancengerechtigkeit. Der Sozialstaat fördert zwar die soziale Gerechtigkeit und schützt vor temporären Krisen, doch seine Ausdehnung ist nicht unproblematisch. Schon vor der Krise wurde ein Drittel des Staatshaushaltes für soziale Aufgaben verwendet. Solche Ausgaben wirken in der Krise auch als sogenannte automatische Stabilisatoren, welche die Nachfrage stützen. Die Sozialausgaben wurden in den letzten Jahren durch die Rente mit 63 (keine Abzüge bei 45 Beitragsjahren) und die Mütterrente sowie andere Regelungen ausgedehnt. Jetzt kommen noch die Ausgaben für die Coronakrise hinzu. Die Steuer- und Sozialabgabenlast, die in Deutschland ohnehin schon sehr hoch ist, droht weiter anzusteigen und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu unterlaufen. Es drohen auch Anreizprobleme, wenn die soziale Absicherung zu lange gewährt wird. Das Kurzarbeitergeld ist für eine kurzfristige Absicherung in der Krise wichtig und hilft den Beschäftigten sowie Unternehmen gleichermaßen, vorausgesetzt die Produktion wird bald wieder hochgefahren. Diese Überbrückungshilfe kann nicht ewig gezahlt werden, wurde jedoch auf 24 Monate ausgedehnt. Sollte es zu mittel- und langfristigen Änderungen in der Nachfragestruktur kommen, dann wäre das Kurzarbeitergeld das falsche Instrument und könnte sich sogar als kontraproduktiv erweisen.21

Wachsende Verschuldung und Hilfen aus Brüssel

Durch die Ausdehnung des staatlichen Einflusses sind weitere Folgeschäden zu befürchten, die bereits nach der Finanzkrise 2008 entstanden und bis heute fortwirken. Die enormen Ausgaben- und Rettungsprogramme ließen die öffentliche Verschuldung bis 2014 anschwellen, in den fortgeschrittenen G-20-Ländern von 77 Prozent auf 112 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, aber auch die Schulden der Unternehmen und Haushalte stellten ein großes Problem dar. In Deutschland stieg die Staatsverschuldung von 2007 bis 2010 von 64 Prozent auf 81 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in der Eurozone von 65 Prozent auf 93 Prozent im Jahr 2014. Nach der Konsolidierung konnten einige Länder die Verschuldung zurückführen, wie zum Beispiel Deutschland auf die ursprüngliche Marke von etwa 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (Eurozone 84 Prozent), doch stieg sie insbesondere in wichtigen EU-Ländern bis 2019 weiter, in Frankreich von 82 Prozent im Jahr 2010 auf 98 Prozent, in Italien im gleichen Zeitraum von 115 Prozent auf 135 Prozent. In der jetzigen Krise werden sich durch die Rettungs- und Konjunkturprogramme die Staatsdefizite deutlich stärker erhöhen als in der Krise 2008. Sie werden sich meist im zweistelligen Prozentbereich bewegen. Folglich steigen die Schuldenstände weiter dramatisch. Nach Schätzung des Internationalen Währungsfonds wird sich weltweit die Verschuldung von 83 Prozent im Jahr 2019 auf 100 Prozent (2021) des weltweiten Bruttoinlandsprodukts erhöhen. In Deutschland wird diese Quote voraussichtlich wieder auf 72 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen. Die Bundesrepublik konnte dank des Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre und der vorsichtigen Ausgabenpolitik vergleichsweise solide Staatsfinanzen erreichen und besitzt jetzt in der aktuellen Krise größere finanzielle Spielräume. Ganz anders sieht es in den hart von der Pandemie getroffenen südeuropäischen Ländern aus. Von 2019 bis 2021 wird der Schuldenstand in Italien voraussichtlich von 135 Prozent auf 158 Prozent, in Spanien von 96 Prozent auf 121 Prozent und in Frankreich von 98 Prozent auf 119 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anschwellen.

Die Europäische Union wird durch die Pandemie in eine schwere sozialökonomische Krise geraten, der vor allem die südeuropäischen Länder ausgeliefert sein dürften. Die ohnehin schwachen Ökonomien sind wirtschaftlich schwer angeschlagen und es ist klar, dass es einer europäischen Antwort bedarf, um Solidarität zu zeigen, aber auch um die EU vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren. Emmanuel Macron und Angela Merkel hatten sich schon vor dem entscheidenden Ratsgipfel am 21. Juli 2020 auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt. Es stellt einen Paradigmenwechsel in der deutschen Politik dar, denn erstmals sollen gemeinsame Schulden der EU zulässig sein. Der Vorschlag sah vor, dass die EU für 750 Milliarden Euro Anleihen auf den Kapitalmärkten ausgibt. Sie sollen dann aus dem EU-Budget zurückgezahlt werden, das heißt die Mitgliedsländer sollten diese gemäß ihres Beitrags zum EU-Budget (Deutschland bei einem bisherigen Finanzierungsanteil von 22 Prozent, in etwa 165 Milliarden Euro, künftig nach dem Brexit von circa 24 Prozent) finanzieren. Die "Sparsamen Vier" (Öster­reich, Dänemark, Schweden und Niederlande) bestanden zunächst auf Kredite anstatt direkter Zuwendungen. Nach langem Streit konnte man sich auf dem Juli-Gipfel darauf einigen, dass 390 Milliarden als Zuschüsse (deutscher Anteil circa 93,6 Milliarden Euro) und der Rest als Kredite ausgezahlt werden.22 Es haftet zwar die EU, aber die einzelnen Mitgliedsländer müssen die Zuschüsse über das EU-Budget anteilsmäßig finanzieren.

Mit gemeinsamen Schulden in Richtung Vereinigte Staaten von Europa?

Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz zog im Kontext der Etablierung des europäischen Wiederaufbaufonds den Vergleich zur Gründungsphase der USA. Europa könne nunmehr einen "Hamilton-Moment" nutzen. Dies bezieht sich darauf, dass der damalige erste Finanzminister der USA, Alexander Hamilton, die durch den Unabhängigkeitskrieg entstandenen Schulden der US-Gliedstaaten im Jahr 1790 in Bundesschulden überführte und eine zentralisierte Finanzverwaltung aufbaute. Europa könne nun auch diesen Weg gehen und die Vereinigten Staaten von Europa bilden. Es bleibt dahingestellt, ob ein solcher Vergleich dienlich ist. Mittel- und langfristig könnte, wie der bekannte Wirtschaftshistoriker Harold James betont, auch großer Streit ausbrechen, wenn eine sorglose Fiskalpolitik gefördert wird. Bei näherer historischer Betrachtung wird nämlich deutlich, dass die junge Union sich zunächst stabilisierte und tatsächlich Schulden bis 1812 zurückgezahlt wurden, doch später förderte die laxe Ausgabenpolitik einzelner Gliedstaaten eine Finanz- und Bankenkrise und politischen Streit. Einige sagen sogar, dass diese Ereignisse neben anderen Fragen (etwa der Sklaverei) zum Amerikanischen Bürgerkrieg beigetragen hätten.23 Die amerikanische Finanzverfassung wurde daraufhin reformiert und die finanzielle Eigenverantwortung der einzelnen Gliedstaaten gestärkt. Seitdem gibt es keine automatische Haftung des Bundes mehr, sondern einzelne Staaten können insolvent werden, was dann auch einige Male geschah. Es gibt zwar Bundesprogramme für in Not geratene Staaten, diese werden jedoch einzeln und situationsbedingt entschieden. Diese Konstruktion verhindert eine überbordende Verschuldung einzelner Staaten zulasten des gesamten Bundesstaates.

Abgesehen von diesen historischen Einwänden wäre es dennoch denkbar, dass der nunmehr ausgehandelte Kompromiss für die Zukunft der EU richtungsweisend ist, nämlich insofern, als er Ansätze zu einer nachhaltigen Finanzarchitektur im Sinne eines fiskalischen Föderalismus in sich trägt und gleichzeitig permanenten Streit verhindert. Daher kann man nur mit Wolfgang Schäuble hoffen, dass die jetzige große Krise genutzt wird, eine solche Finanzverfassung anzugehen. Die einzelnen Mitgliedsländer sollten demnach Souveränität abgeben, der EU für europäische Projekte eigene Kompetenz gewähren und ihr dafür auch eigene Einnahmequellen zugestehen.24 Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hat jedoch Zweifel. So käme es in diesem Kontext darauf an, die EU-Rettungsprogramme so zu konstruieren, dass sie den drei großen Zielsetzungen, die üblicherweise mit dem Projekt der europäischen Fiskalunion verknüpft werden, entsprächen: erstens der Milderung asymmetrischer Schocks, zweitens der Finanzierung von Projekten mit europäischem Mehrwert, drittens der Hilfe zur Überwindung von Strukturproblemen und Wachstumshindernissen. Das erste Ziel ist mit dem EU-Programm praktisch kaum zu erreichen, denn vor allem die armen Länder profitierten unabhängig von der Intensität, mit der sie von der Pandemie getroffen seien. Der Fonds sei deshalb nichts anderes als die Neuauflage der EU-Kohäsionspolitik zur Angleichung des Wirtschafts- und Lebensstandards und nicht ein innovatives fiskalisches Versicherungsinstrument. Bei dem zweiten Kriterium bezüglich des "europäischen Mehrwertes" gäbe es einige positive Elemente (unter anderem in der Klimapolitik), andere wesentliche Elemente, etwa die Stärkung des EU-Gesundheitsbudgets, seien dagegen gestrichen worden. Noch deutlicher, so Heinemann, verfehle man das dritte Ziel, nämlich die Bewältigung von Strukturproblemen und die Überwindung von Wachstumshemmnissen. Zwar sollten die Mittel länderspezifischen Empfehlungen folgen, doch diese seien vage und es fehlten effektive Kontrollmechanismen zu deren Einhaltung. Alles in allem sei der Corona-Wiederaufbauplan der EU eine Enttäuschung und die Chance für ein besseres EU-Fiskalsystem sei nicht genutzt worden.25

Lockere Geldpolitik

Unterstützt wird die Rettungspolitik durch die Zentralbanken, die weltweit der Wirtschaft fast unbegrenzt Liquidität zuführen. Die Bilanzen der Zentralbanken werden sich demnach weiter in bisher unbekannte Höhen aufblähen. Während die amerikanische Zentralbank (Federal Reserve) nach dem Ausbruch der Wirtschaftskrise noch Spielraum hatte, die Zinsen Anfang und Mitte März 2020 auf faktisch null nach unten zu drücken, hatte die Europäische Zentralbank aufgrund der Nullzinspolitik der letzten Jahre diese Option nicht mehr. Die einzige Möglichkeit war, das ohnehin seit 2015 laufende, schon recht umfangreiche Programm zum Aufkauf von Anleihen weiter auszudehnen und die Bilanz der Europäischen Zentralbank weiter zu erhöhen. Das im März 2020 aufgelegte Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) umfasst über 1,3 Billionen Euro. Zusammen mit den anderen Programmen hielt die Europäische Zentralbank im März 2020 bereits insgesamt über zwei Billionen Euro an Staats- und Unternehmensanleihen in ihrer Bilanz. Dabei wurden gleichzeitig die bisher geltenden Obergrenzen zum Kauf von Anleihen von internationalen Organisationen erhöht und die Staatsanleihen einzelner Länder gelockert.26

Die stark expandierende Liquidität bremst zwar den Fall der Börsenkurse und stabilisiert indirekt den Finanzsektor sowie die Schuldenfinanzierung der Staaten, zumal die Spreads zwischen den europäischen Staatsanleihen gering blieben. Damit wird zumindest kurz- und mittelfristig die stark steigende Verschuldung des Staates, der Unternehmen und der Haushalte durch die Geldpolitik abgesichert. Mittel- und langfristig besteht jedoch die Gefahr, dass bei einem Anziehen der Konjunktur die ohnehin hohe Vermögenspreisinflation weiter an Fahrt aufnimmt und sich Spekulationsblasen verschärfen. Denkbar ist auch, dass die expandierende Liquidität zu stärkeren Preissteigerungen führt, da die Angebotsseite aufgrund der Pandemiebeschränkungen sowie zusätzlicher staatlicher Regulierungen, steigender Kosten sowie einer geringeren Globalisierung nicht mehr flexibel ist. Gleichzeitig scheinen die Zentralbanken ohnehin einen Paradigmenwechsel zu vollziehen. Der Förderung des Wirtschaftswachstums und des Beschäftigungsaufbaus wird offensichtlich mehr Priorität eingeräumt als der Bekämpfung von Inflationsgefahren. Im Kontext dieser Gesamtlage könnte das Phänomen der Stagflation, also hohe Inflation und hohe Arbeitslosigkeit, wie schon in den 1980er-Jahren, wieder auftauchen.27

Optionen des Schuldenabbaus

Der Königsweg einer vergleichsweise schmerzarmen Entschuldung wäre es, mit den vielen Milliarden Euro einen Wachstumsschub auszulösen, der dann die Staaten mittel- und langfristig von den Schulden befreit. Im Kern ist dies auch der Gedanke der Rettungspolitik, denn bevor die Wirtschaft weiter ins Bodenlose einbricht, soll der Einsatz der Gelder die Voraussetzungen für eine rasche Wirtschaftsbelebung schaffen. Mehrere Ziele würden damit erreicht. So wäre der Wirtschaftseinbruch geringer und es käme schneller zu einer Erholung, die im günstigsten Fall wieder in ein anhaltendes Wachstum mündet. Dann wäre es möglich, die erfolgreiche Entschuldung zu wiederholen, wie sie Deutschland nach der Finanzkrise 2008 aber auch viele Länder nach dem Zweiten Weltkrieg eingeschlagen haben. Die Voraussetzung wäre allerdings, dass der Schuldendienst (Zinsen und die Aufnahme neuer Schulden) unterhalb des Wirtschaftswachstums liegt, sodass sich über die Zeit der Schuldenstand in Relation zum Sozialprodukt vermindert.28 Nicht überall hat ein solcher Weg nach der letzten Krise in Europa funktioniert und schon vor dem aktuellen Einbruch sind die Verbindlichkeiten bedenklich stark gestiegen. Eine sparsame Ausgabenpolitik ist nicht nur wegen des Krisenausmaßes und dessen ökonomischer sowie sozialer Kosten problematisch, sondern auch wegen des enormen Investitionsbedarfs aufgrund der vielen offenen Strukturprobleme schwierig.

Zieht das Wirtschaftswachstum wieder an, so birgt die enorm aufgeblasene Geldmenge ein Inflationspotenzial. Einer Geldentwertung müssten die Zentralbanken entgegenwirken, doch es ist fraglich, ob dies dann in ausreichendem Maße geschieht. In einem solchen Fall wäre die Inflation eine Option zur Reduktion der Schulden, aber auch spiegelbildlich zur Reduktion von Reallöhnen und Sparguthaben, wenn Löhne und Zinsen unterhalb der Inflationsrate liegen. Im Moment ist zwar keine Inflation in Sicht. Es stellt sich aber die Frage, ob diese noch aufflammen könnte, sollte das Wachstum anziehen. Gegenwärtig signalisieren die Finanzmärkte keine zu erwartende Inflation, denn die Spreads zwischen Staatsanleihen mit oder ohne Inflationsindexierung sind vergleichsweise gering. Daraus lässt sich ableiten, dass die Finanzmärkte für die nächsten Jahre zwischen 0 und 1 Prozent Inflation prognostizieren. Clemens Fuest betont, dass die niedrigen Inflationserwartungen der Finanzmärkte natürlich falsch sein könnten. Allerdings müsste es für solch eine abweichende Einschätzung gute Gründe geben.29 Eine weitere Option zur Reduktion der Verbindlichkeiten wäre ein Schuldenschnitt (mit oder ohne Währungsreform), wobei man dann die Auswirkungen auf die Gläubiger berücksichtigen müsste. Banken und die Stabilität des Finanzsystems sowie Teile der Altersabsicherung wären gefährdet, denn die Rentenfonds und die Ersparnisse breiter Bevölkerungsschichten würden entsprechend reduziert. Aus dem historischen Erfahrungsschatz ließe sich noch eine Vermögensabgabe oder ein Lastenausgleich für Reiche wie nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland hervorzaubern, wie ihn die Linke in Deutschland bereits fordert. Solche massiven Eingriffe in die Eigentumsrechte hätten jedoch weitreichende Auswirkungen auf die Akzeptanz und Grundwerte der demokratischen Gesellschaft und wären wohl nur im äußersten Notfall eine Option.30

Monetarisierung der Schulden?

Will man nicht auf hohe Inflation mit negativen Realzinsen (finanzielle Repression) zum Abbau der Verbindlichkeiten setzen, dann wäre noch eine dauerhafte Monetarisierung der Staatsschulden möglich. Japan scheint diesen Weg zu gehen. Clemens Fuest sieht allerdings Parallelen zu Baron Münchhausen, der angab, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen zu haben.31 Nun hat der moderne Staat über seine Zentralbank als "Lender of Last Resort" tatsächlich die Möglichkeit, soviel Geld zu drucken wie er für nötig erachtet. Es hat den Anschein, als sei überall auf der Welt diese Methode sehr beliebt, ohne dass es zur Inflation oder anderen Verwerfungen käme. Zwar wird meist mit geldpolitischen Zielen zur Vermeidung der Deflation argumentiert, doch hilft diese Politik auch die stetig steigenden Staatsschulden immer wieder zu revolvieren und neue aufzunehmen. Dies wäre ein Perpetuum mobile solange die Anleger darauf vertrauen, von den Zentralbanken Zinsen (solange es noch welche gab) oder wenigstens den Geldbetrag zurück zu erhalten, das heißt solange eine Schuldentragfähigkeit besteht. Denkbar wäre natürlich, die nach den Inflationserfahrungen der Zwischenkriegszeit mühsam erlangte politische Unabhängigkeit der Zentralbanken zu beschneiden und den kurzen, meist nur einige Tage dauernden Zwischenschritt des Kaufes der Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt zu überspringen. Dies wäre dann die klassische direkte monetäre Staatsfinanzierung durch die Zentralbank. Ein solches Vorgehen würde an den Fundamenten der Geldpolitik rütteln und bis jetzt ist man nicht bereit, das vorherrschende Paradigma der Unabhängigkeit der Notenbank aufzugeben. Es gibt jedoch schon radikalere Vorschläge der "Modern Monetary Theory", die genau solches vorsehen.32 Sicherlich gibt es Nationalstaaten, die in ihrer souveränen Entscheidung einen solchen Weg gehen möchten, um den zunächst schmerzhafteren Weg einer soliden Finanz- und Fiskalpolitik nicht einschlagen zu müssen. Bezogen auf die Eurozone wäre dies schon im Ansatz nicht möglich und würde dem Maastricht-Vertrag widersprechen, zumal die EU in überschaubarer Zukunft kein Staat, sondern ein Staatenverbund sein wird. Otmar Issing weist zu Recht darauf hin, dass eben wegen der fehlenden politischen Union in der EU entsprechende Fiskalregeln eingeführt werden mussten.33

Ein indirekter Weg wäre, die EU-Staaten würden beliebig langfristig laufende Staatsanleihen wie beispielsweise 100-jährige Papiere zu festgelegten niedrigen Zinssätzen ausgeben, welche die Europäische Zentralbank dann nach dem kurzen Zwischenschritt in der Bilanz der Zentralbank "versenkt", beziehungsweise in eine Art Bad Bank auslagert. Der Schuldendienst (Zinsen und Tilgungen) fiele dann über einen langen Zeitraum sehr niedrig aus. Radikaler wäre es, die Schulden im Rahmen eines Aktivgeldsystems (unter anderem Vollgeld oder dezentrales Aktivgeld) auf die Aktivseite der Zentralbankbilanz einzustellen und die Kreditschöpfung den Geschäftsbanken zu entziehen und sie durch Zuteilung der Zentralbank zu steuern. Ein solcher Schritt wäre indes nur einmal möglich, aber die Schulden wären in der Zentralbankbilanz neutralisiert.34 Einen eleganteren Weg stellt die Monetarisierung der Schulden über die Einführung eines verpflichtenden digitalen Zentralbankgeldes dar. Damit wären der Zugriff auf die Geldvermögen und die Einführung einer negativen Verzinsung (finanzielle Repression) sehr einfach möglich.35 Sogar der liberale Ökonom Daniel Stelter fordert angesichts der überbordenden Staatsschulden die EU-Länder dazu auf, Anleihen herauszugeben, die die Europäische Zentralbank erwirbt und auf mehrere hundert Jahre zins- und tilgungsfrei stellt.36 Das Auslagern alter Verbindlichkeiten in einem Europäischen Schuldentilgungsfonds würde, so Daniel Stelter, den EU-Staaten einen größeren Spielraum für die notwendigen Investitionen ermöglichen. Die Sprengkraft der ausufernden Staatsverschuldung scheint sich in der Vielfalt der "kreativen Vorschläge" widerzuspiegeln. Eine schmerzfreie Lösung bleibt allerdings eine Illusion: "There's no such thing as a free lunch".37

Drohende Finanzkrise?

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass niemals in der Geschichte sich die Finanzmärkte derart massiv von der Entwicklung der Realwirtschaft abgekoppelt haben. Obwohl die Wirtschaft einbricht, haben die Aktienmärkte fast schon wieder die alten Höchststände erreicht. Es sind die Rettungspakete, aber vor allem die Interventionen der Zentralbanken, die mit ihrem Ankauf von Staatspapieren und Unternehmensanleihen die positiven Erwartungen der Finanzmärkte ausgelöst haben. Dies ist zunächst positiv zu bewerten, denn in der ersten Krisenphase gilt es, negative Abwärtsspiralen bei Kursverfall von Wertpapieren aufzuhalten, andernfalls verlangen die Gläubiger von hoch verschuldeten Investoren vielfach, dass sie weitere Wertpapiere abstoßen.38 Man hat allerdings das Gefühl, dass die Interventionen vor allem deshalb gefährliche Dimensionen annehmen, weil sie schon vor der Krise zur Konjunkturstabilisierung und angebliche Deflationsbekämpfung massiv eingesetzt wurden. Erweisen sich diese Investments der Zentralbanken allerdings als Ausfälle, dann haben die Steuerzahler dafür aufzukommen.

Eine sehr gefährliche Entwicklung entstünde, wenn der Einbruch der Realwirtschaft zeitverzögert mit einer erneuten Finanzkrise einherginge. Ein solches Szenario wäre möglich, wenn die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie länger andauern und damit einschneidender werden. Häufen sich Unternehmenspleiten und damit größere Kreditausfälle, dann werden enorme Löcher in die Bilanzen der Banken und bald auch in die der Zentralbanken gerissen. Auch eine Staatsschuldenkrise in einem der größeren Euroländer könnte Verwerfungen auf den Finanzmärkten auslösen, denn zwischen Banken und Staat besteht aufgrund des hohen Anteils von Staatspapieren in den Bilanzen der Finanzinstitute eine enge wechselseitige Beziehung. Dies könnte das Ende von Spekulationsblasen, die sich über die letzten Jahrzehnte auf den Aktien- und Immobilienmärkten aufgebaut haben, einläuten. Für einige wäre dies dann schon das Ende der jahrzehntelangen "Great Moderation", die durch mäßige Zinserhöhungen, eine expansive Geldpolitik und die Deregulierung im Finanzsektor zwar Konjunkturverläufe glättete, aber gleichzeitig die Anfälligkeit für große Spekulationskrisen wie 2008/2009 erhöhte.39 Zwar hat man danach versucht, die außer Kontrolle geratenen Geldjongleure mit einer detaillierten Finanz­marktkontrolle wieder einzufangen, doch sind Zweifel angebracht, ob 40.000 Seiten Regelwerk wirklich zu einer angemessenen Bewertung der Kreditrisiken führen. Oder werden die zahllosen Bankregulierer dann "den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen"?

Größte Gefahr: Deglobalisierung

Vergessen ist vielfach, dass im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die erste moderne Globalisierungswelle begann, die jedoch mit dem Ersten Weltkrieg 1914 jäh zu Ende ging und sich danach nicht wieder erholte. Im Zusammenspiel politischer und sozialer Verwerfungen nach dem Ersten Weltkrieg und trotz zwischenzeitlicher kurzer Prosperitätsperioden ("goldene Zwanzigerjahre") prägten Protektionismus und Abwertungswettbewerb die Wirtschaftspolitik der Zwischenkriegszeit. In der Folge erstarkten der Nationalismus in Europa und der Isolationismus in Amerika. Die bittere Erfahrung aus der Großen Depression war, dass nach dem Börsencrash von 1929 in Amerika und Europa die Regierungen unfähig waren, das internationale Finanzsystem in den 1930er-Jahren zu stabilisieren. Dies verstärkte die Wirtschaftskrise und die protektionistischen Tendenzen, in deren Folge in Deutschland auch der Nationalsozialismus zur Macht gelangte.40 Glücklicherweise hatten die Verantwortlichen in der Finanzkrise 2008, aber auch in der nachfolgenden Verwerfung des Euroraumes, diese historische Lektion beherzigt und Geld- und Fiskalpolitik expansiv ausgerichtet, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stützen und das Bankensystem zu retten. Entscheidend war, dass man auch über die Systemgrenzen hinweg international koordiniert reagierte. So war beispielsweise das chinesische Konjunkturpaket infolge der Krise 2008 von über 1,2 Billionen Euro wesentlicher Grund dafür, dass die Weltwirtschaft wieder Fahrt aufnahm.41

Gefährlich in der jetzigen Coronakrise ist deshalb die geschwächte internationale Kooperation. Diese Tendenzen waren schon zuvor unter anderem in den Handelskonflikten zwischen den USA und China, aber auch zwischen den USA und Europa zu beobachten. Innerhalb der EU hatten die Spannungen im Zusammenhang mit dem Brexit sowie mit den mittel- und osteuropäischen Ländern zugenommen. In der ersten Phase der Coronakrise machte die EU zudem keine gute Figur und die gegenseitigen Vorwürfe und Ressentiments nahmen zu. Dieser Eindruck verblasst langsam, denn ein europaweites umfassendes Wiederaufbauprogramm soll den europäischen Zusammenhalt stärken, auch wenn zwischenzeitlich Konflikte über dessen Ausgestaltung und Finanzierung aufflammten. Die Frage bleibt indes offen, ob ausreichend Stimulus ausgelöst wird und welche Wirkungen es auf den europäischen Zusammenhalt mittel- und langfristig haben wird. Die Beziehungen Europas zu China und den USA bleiben spannungsbeladen. Die durch die Pandemie verursachten wirtschaftlichen und sozialen Krisen werden auch weitreichende gesellschaftliche und politische Auswirkungen in den jeweiligen Gesellschaften haben. Dabei ist nicht abzuschätzen, in welche Richtung diese Veränderungen gehen werden. In einigen Ländern geraten populistische Strömungen unter Druck, weil sie die Pandemie verharmlost haben (USA, Brasilien). In anderen Ländern (zum Beispiel Frankreich) könnte die ökonomische Krise europafreundliche Regierungen gefährden. Immer deutlicher wird auch, dass die Schwellenländer stark betroffen sind und sich die dortige, teilweise ohnehin prekäre Lage weiter dramatisch verschärft. In diesem Wechselspiel von internen und äußeren Krisenentwicklungen wäre ein Zurückdrehen der Globalisierung - so wichtig Korrekturen in einzelnen Bereichen sein mögen - eine der größten Gefahren mit unabsehbaren Folgen. Internationale Kooperation bleibt essenziell für die Pandemiebekämpfung und die wirtschaftliche Erholung.

Schluss: Terra incognita

Die Weltwirtschaft steht vor drastischen Herausforderungen. Die Pandemie löst einen Angebots- und zugleich Nachfrageschock aus. Hinzu kommen mögliche strukturelle Verwerfungen, deren Richtung und Nachhaltigkeit schwer abschätzbar sind. Sie werden durch längerfristige Strukturumbrüche des ökologischen Umbaus und durch die Digitalisierung der Wirtschaft sowie den demografischen Wandel der Gesellschaft überlagert. Die Rettungspolitik hat zu Recht massiv mit einer lockeren Geld- und Fiskalpolitik reagiert, doch gibt es in dieser Krise bezüglich der einzelnen Maßnahmen keine klare Blaupause, wie sie optimal zu bewältigen ist. Ein bewährtes und wichtiges Mittel ist in Deutschland das Kurzarbeitergeld, das sowohl die Beschäftigung und die Nachfrage stützt, doch seine Ausdehnung auf 24 Monate erscheint problematisch. Neu ist, dass Unternehmen und Selbstständige direkt gestützt werden. Zudem stellt sich die Frage, welche Kollateralschäden entstehen und welche mittel- und langfristigen Folgen die Krise haben wird.

Ferner bleibt offen, ob die Pandemie, wie geschichtliche Vergleiche es nahelegen, auch dieses Mal zu tiefgreifenden Umbrüchen gesellschaftspolitischer und ökonomischer Natur führen wird. Folgende Fragen ergeben sich: Wird die Dynamik des Kapitalismus durch den wachsenden Staatseinfluss gehemmt? Wird die wachsende Verschuldung noch tragfähig zu bewältigen sein oder über den Weg der Monetarisierung zu einer offenen Inflation und/oder einem Währungsschnitt führen? Wird durch eine Vergemeinschaftung der Schulden bis hin zu einer Fiskalunion, die EU eher gestärkt oder der Streit zwischen den Mitgliedsländern so intensiviert, dass mittel- und langfristig ein Auseinanderbrechen der Eurozone und der EU zu befürchten ist? Wird die Globalisierung dauerhaften Schaden nehmen und im Verbund mit anderen Faktoren zu einer langanhaltenden Depression wie in den 1930er-Jahren führen? Schließlich: Werden die internationalen Machtverhältnisse neu gemischt? Vieles ist im Nebel der Ungewissheit verborgen oder mit Stefan Zweigs Worten formuliert: "Noch stehen künftige Gewitter unsichtbar hinter dem Horizont."42

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