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Gutes Regieren im 21. Jahrhundert

Werkstatt Demokratie diskutiert über Schutz und Freiheit

Mehr Bürgerbeteiligung, transparente Kommunikation, direkte Demokratie, Kontrolle des Lobbyismus und gerechtere Repräsentanz von Interessen: So stellen sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Werkstatt Demokratie gutes Regieren vor. In der Diskussionsveranstaltung der Süddeutschen Zeitung, der Nemetschek Stiftung und der Akademie für Politische Bildung haben sie in virtuellen Arbeitsgruppen Verbesserungsvorschläge für das politische System entwickelt. Manfred Weber, Saskia Esken und Katrin Habenschaden reagierten auf ihre Ideen und Utopien.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 22.12.2020

Von: / Foto: Beate Winterer

Programm: Werkstatt Demokratie digital: Schutz und Freiheit - was bedeutet gutes Regieren im 21. Jahrhundert?

Werkstatt Demokratie digital: Schutz und Freiheit - was bedeutet gutes Regieren im 21. Jahrhundert?

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

Leserinnen und Leser der Süddeutschen Zeitung hatten im Oktober die Wahl zwischen drei Themenvorschlägen für die diesjährige Werkstatt Demokratie. Mit großem Abstand gewann "Schutz und Freiheit - was bedeutet gutes Regieren im 21. Jahrhundert?". Fast 200 Interessenten hatten sich für die Tagung beworben. Nach verschiedenen Kriterien wie Alter, Geschlecht, Beruf und Region wählte das Organisationsteam 40 Menschen aus. Teilnehmer aus Frankreich und Österreich gaben der Tagung eine internationale Komponente. In vielfacher Hinsicht war diese Werkstatt Demokratie Experiment und Premiere: Unsere Akademie war zum ersten Mal Partner des Diskursprojekts der Süddeutschen Zeitung und der Nemetschek Stiftung. Die Veranstaltung musste wegen der Corona-Beschränkungen in digitaler Form stattfinden. Und zum ersten Mal reagierten Politiker und Politikerinnen unterschiedlicher politischer Ebenen auf die Fragen und Ideen aus den fünf Workshops.

"Mitmachen beim Bessermachen" - so umriss Peter Lindner, Politikredakteur der Süddeutschen Zeitung und Mitglied des Organisationsteams, das Ziel und Konzept des zweitägigen Workshops. Sehr schnell kristallisierten sich bei den Gesprächen in den virtuellen Arbeitsgruppen die Schwerpunkte heraus, bei denen es offenkundig Diskussionsbedarf gibt: mehr Bürger-, insbesondere Jugendbeteiligung an politischen Prozessen, die transparentere Gestaltung der Kommunikation zwischen Politikern und Bürgerschaft, der Wunsch nach mehr direkter Demokratie, die Kontrolle des Lobbyismus und die gerechtere Repräsentanz von Interessen.

Mehr oder weniger Staat?

Zwei Vorträge gaben weitere Impulse für die Debatten in den Gruppen: Akademiedirektorin Ursula Münch plädierte dafür, die durch die Corona-Krise gestiegene Staatsquote, also das Verhältnis von Staatsausgaben zum Bruttoinlandsprodukt (vorher 45 Prozent, derzeit bis zu 55 Prozent), nach dem Ende der Pandemie wieder auf das alte Maß zurückzuführen. "Das halte ich für angemessen", sagte Münch. Denn der Staat sei kein guter Unternehmer und es bestehe "die Gefahr, dass da was aus dem Ruder läuft". Man gewöhne sich an die Überschuldung nach dem Motto "Jetzt geht alles". Bereits jetzt gingen 60 Prozent der Staatsausgaben in den Sozialbereich. Man dürfe den "fürsorglichen Staat" nicht übertreiben. Zwar sei vieles an bürokratischen Regulierungen sinnvoll, aber "manches droht überzuborden". Und große Konzerne würden trotzdem immer noch juristische Schlupflöcher finden, die dem Normalbürger nicht offen stünden. Münch sprach sich für "mehr Innovationskraft statt mehr Staat" aus. Herausforderungen gebe es dafür wahrlich genug.

Demokratisierung der Demokratie

Der Münchner Soziologe Stephan Lessenich hält den vermeintlichen "Rückzug des Staates" in den vergangenen Jahren für einen "Mythos". Der freie Markt sei eine "Utopie". Es brauche den Staat, "um die Märkte in Gang zu halten". Er plädiert für einen anderen Staat mit einer höheren Staatsquote. "Die aktuelle Krise als Dauerzustand braucht mehr Staat." Wir hätten es aktuell mit "sozial-heterogenen Bedarfs- und Interessenlagen" zu tun. Die gegenwärtige Gesellschaft habe eine große Staatsbedürftigkeit. "Weniger Staat muss man sich leisten können", sagte Lessenich. Der deutsche Sozialstaat sei doch sehr "Mittelschicht-zentriert". Die Superreichen würden "parasitär leben und die Wirtschaftsinteressen treiben ein doppeltes Spiel mit dem Staat". Lessenich nannte als Beispiel die Lufthansa: "In der Krise rufen sie nach dem Staat, wenn es gut geht, soll sich der Staat raushalten." Schulen, Verkehr und Gesundheit seien Beispiele, dass "wir mehr Staat für eine bessere öffentliche Infrastruktur brauchen". Er forderte eine "Demokratisierung der Demokratie" im Sinn der Anerkennung des gleichen Rechts für alle an der kollektiven Gestaltung der Lebensverhältnisse.

Mehr Bürgernähe

Der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament, Manfred Weber (CSU), sieht durchaus Probleme bei der "Übersetzung europäischer Politik". "Wir führen oft abstrakte Diskussionen, die mit ihren technisch-theoretischen Inhalten weit weg sind vom Bürger. Das Problem sind nicht die Inhalte selbst, sondern die Kommunikation, der Transmissionsriemen zum Wähler." Die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 sieht er skeptisch: "Wir müssen solche Rechte auch zusammen sehen mit entsprechenden Pflichten."

Weber blickt seit der letzten Europawahl vor 18 Monaten optimistischer auf die europäische Demokratie, vor allem wegen der verhältnismäßig hohen Wahlbeteiligung. Er betont, die Demokratie auf EU-Ebene sei "sehr, sehr lebendig und funktionsfähig". Bezüglich der Besetzung des EU-Kommissionspräsidenten gesteht er ein, dass man "als Wähler verdammt noch mal vor der Wahl wissen" wolle, wer das Amt anschließend übernehme. Er setzt sich für 2024 dafür ein, dass der Kommissionspräsident zukünftig vom Parlament gewählt wird. Auch eine Direktwahl sei denkbar: "Wir brauchen eine größere Identifikation des Volks mit dem Amt."

Regulierung der Internetkonzerne

Manfred Weber, der auch stellvertretender CSU-Vorsitzender ist, treibt die Herausforderung um, den demokratischen Diskurs in den sozialen Netzwerken zu führen: "Wir müssen als Gesetzgeber handeln", sagt er. Man müsse die Macht der Algorithmen regulieren: "Es kann nicht sein, dass die Algorithmen dazu führen, dass wir uns alle nur noch in unserer Blase bewegen." 2016 habe der "Twitter-Populismus" dazu geführt, dass Donald Trump und Boris Johnson an die Macht gekommen seien.

Weber gesteht, dass man in Europa einen "langem Atem" brauche, gerade durch den Druck von Nationalisten, die zurückwollten "zum Nationalstaat und zum Egoismus", sagte der CSU-Politiker. Er appellierte an die Bürgerinnen und Bürger "nicht an Europa zu verzweifeln" und weiter mitzuarbeiten und sich für Europa zu engagieren.

Grenzen der Beteiligung

Gutes Regieren, das heißt für die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, dass die Kommunikation mit den Bürgern über die sozialen Netzwerke an Bedeutung gewinnen wird: "Es darf nicht sein, dass dort Rechte und Extremisten dominieren. Wir müssen da mehr rein." Das gelte auch für die regelmäßige Kommunikation mit den Parteifunktionären aller Ebenen: "Früher haben wir uns einmal im Jahr in Berlin getroffen - jetzt einmal im Monat im Netz." Die Interna der Meinungs- und Willensbildung müssten mehr an die Öffentlichkeit, sagte die SPD-Vorsitzende im virtuellen Dialog mit den rund 50 Teilnehmern der Werkstatt Demokratie.

Auf die Etablierung von Bürgerräten angesprochen, zeigte sie sich zurückhaltend: Es gebe zwar gute Beispiele und Erfahrungen mit solchen Beiräten. Allerdings müssten diese in einer beratenden Funktion sein und gewählte Parlamente und Regierungen ergänzen, statt sie zu ersetzen. "Wir dürfen dadurch nicht die Rechte der frei gewählten und nur ihrem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten beschränken."

Lobbyismus transparenter machen

In der SPD soll es künftig ein Gremium aus 20 zufällig ausgesuchten Parteimitgliedern geben. Dieser Mitgliederbeirat habe nicht die Aufgabe, "den Parteivorstand auszuhebeln", sondern solle eine andere Perspektive auf die Themen ermöglichen.

Beim Lobbyismus sprach Esken sich für mehr Transparenz aus: "Das einzig Gute, was uns der Fall Philipp Amthor gebracht hat, sind die begonnenen Verhandlungen über ein Lobbyregister. Auch Ministerien und Behörden sollen ihre Kontakte zu Lobbyisten offenlegen." Sie möchte, dass ein Informationsfreiheitsgesetz, wie es Hamburg hat, auch auf Bundesebene eingeführt wird. Das Zusammenspiel von Parlament, Ministerien und Kabinett müsse besser funktionieren und vor allem müsse man es den Bürgerinnen und Bürgern besser erklären.

Niedrigschwellige Angebote

Mit Bürgerbeteiligung kennt sich Katrin Habenschaden gut aus. Die 2. Bürgermeisterin der Landeshauptstadt München sagt: "Ich brauche für meine Politik die Rückkopplung, um ein Meinungs- und Stimmungsbild zu bekommen - zum Beispiel bei der umstrittenen Verkehrspolitik." Es dürfe aber keine Pseudo-Beteiligung sein, sondern echte Mitbestimmung. Digitale Formate seien dafür eine große Chance, aber: "Wir brauchen nach wie vor Orte der direkten Begegnung." Es könnten auch hybride Formen - also eine Mischung aus analog und digital - sein. Wichtig sei, dass die Angebote niedrigschwellig seien. Die grüne Kommunalpolitikerin wünscht sich, dass man auch nach der Corona-Pandemie Bürgerversammlungen digital abhält. Denn so, meinte Habenschaden, hätten auch etwa alleinerziehende Elternteile die Chance zur Teilnahme.

Sie nennt Vertrauen, Transparenz und Verbindlichkeit als wesentliche Merkmale für gutes Regieren. Dazu gehöre auch, dass man sich als Kommunalpolitikerin morgens in der U-Bahn die Sorgen und Nöte seiner Mitfahrer anhöre.


Videos

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