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Die Soziale Marktwirtschaft in der Krise?

Bilanz und Perspektiven des deutschen Modells

Mit der Sozialen Marktwirtschaft haben die Deutschen Wiedervereinigung und Finanzkrise gemeistert. Doch der Corona-Pandemie könnte die schwerste Rezession der Nachkriegsgeschichte folgen. Ist das deutsche Modell dafür gewappnet? In der Tagung "70 Jahre Soziale Marktwirtschaft und 30 Jahre Deutsche Wiedervereinigung" haben Ökonomen und Politikwissenschaftler darüber diskutiert - und sich von Wolfgang Quaisser verabschiedet. Er leitete seine letzte Fachtagung vor dem Ruhestand.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 09.07.2020

Von: Beate Winterer, Janina Böttger / Foto: Beate Winterer

Programm: 70 Jahre Soziale Marktwirtschaft und 30 Jahre Deutsche Wiedervereinigung

70 Jahre Soziale Marktwirtschaft und 30 Jahre Deutsche Wiedervereinigung

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

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Für den Titel der Tagung "70 Jahre Soziale Marktwirtschaft und 30 Jahre Deutsche Wiedervereinigung" hat Wolfgang Quaisser "ein bisschen geschummelt", denn tatsächlich sind es 72 Jahre Soziale Marktwirtschaft. "Aber 72 und 30 hört sich einfach nicht so gut an." Und bei seiner letzten Fachtagung sollte alles perfekt sein. Denn mit der Bilanz des deutschen Wirtschaftsmodells verabschiedet sich der Dozent aus der Akademie für Politische Bildung in den Ruhestand. Viele Weggefährten aus Ökonomie und Politikwissenschaft sind nach Tutzing gekommen, um mit ihm über sein Lieblingsthema zu diskutieren, das durch die Coronakrise kaum aktueller sein könnte.

Corona als Herausforderung für die Soziale Marktwirtschaft

"Die Corona-Krise ist eine große Bewährung für die Soziale Marktwirtschaft - die Weltwirtschaft ist in Schockstarre", sagt Hans-Werner Sinn. Der ehemalige Präsident des ifo-Instituts München war der Tagung über Zoom zugeschaltet. Weltweit platzte durch Corona die Finanzblase, die seit der Weltwirtschaftskrise 2008 aufgepumpt wurde. Der Dow-Jones ist eingebrochen, die Kurse befinden sich in einer Seitwärtsbewegung und die große Angst vor einer zweiten Corona-Welle geht um. Der aktuelle weltweite Wirtschaftsabsturz ist laut dem Wirtschaftshistoriker Harold James von der Princeton University der schwerste seit der Hungersnot 1709 in Großbritannien. Fast alle Regierungen haben coronabedingt nationale Abmilderungsgesetze erlassen. "Dass Dauerschuldverhältnisse nicht bedient werden müssen und eine Stundung bis 50 Millionen Euro Umsatz in Deutschland erlaubt ist, gab es nur im Ersten und Zweiten Weltkrieg", sagt Hartmut Bechtold von True Sale International.

Wir befinden uns aber nicht erst seit Ausbruch der Pandemie in einer Konjunkturkrise. Zwar hat Corona die deutsche Industrie stark getroffen, gerade in der Elektronik und im Fahrzeugbau, wo viel aus China importiert wird. Die deutsche Wirtschaftsleistung sinkt aber bereits seit dem ersten Quartal 2018, das Produktionspotential ist nicht ausgelastet. Michael Grömling vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln nimmt an, dass der Tiefpunkt der Krise im zweiten Quartal 2020 liegt und glaubt nicht an eine schnelle Erholung: "Bei der Finanzkrise dauerte es zwei Jahre, bis wir hinausgewachsen sind, nicht drei Wochen." Auf Dauer werde man von einer Struktur- und nicht Konjunkturkrise sprechen, denn Deutschland steht vor massiven Herausforderungen wie der Digitalisierung und dem demographischen Wandel.

Strukturwandel durch Corona

"Wir erleben einen beschleunigten Strukturwandel durch Globalisierung, Digitalisierung und Dekarbonisierung", sagt Ulrich Walweil vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Er sieht speziell den Arbeitsmarkt vor neuen Herausforderungen. Coronabedingt wurden über elf Millionen Kurzarbeitsanträge gestellt. Schätzungen zufolge gab es an der Spitze der Krise im April zwischen sechs und sieben Millionen Kurzeitarbeitende. Das Problem: Das Virus kann nicht wirtschaftspolitisch, sondern nur mit Medikamenten in den Griff bekommen werden.

Hartmut Bechtold geht nach dem Höhepunkt der Corona-Pandemie von einer großen Anzahl an Insolvenzen, einer Stagnation des Wirtschaftswachstums und steigenden Inflationsraten aus. Hans-Werner Sinn sieht das anders: "Die Wirtschaft kann sich schnell wieder erholen. Man spricht von einem umgedrehten Wurzelzeichen. Zwar wird Deutschland erstmal nicht mehr ganz auf das alte Niveau kommen, aber den ifo-Konjunkturwerten zufolge sind wir wieder im Aufschwung."

Die anderen europäischen Länder sind zum Teil noch stärker betroffen - mit Italien als Schlusslicht. Die Corona-Krise hat Spaltpotenzial für die Europäische Union: Auf der einen Seite stehen die Länder Nordeuropas, die die Finanzkrise 2008 gut verkraftet haben und jetzt finanziell gut aufgestellt sind. Auf der anderen Seite der Süden Europas, dem dies nicht gelungen ist und dem jetzt durch europäische Wiederaufbaufonds geholfen werden soll. "Wir können von einer Krise der Globalisierung sprechen, Lösungen sind nur gemeinsam zu schaffen", sagt Harold James. "Es ist eine Lehre, dass sich diese Erholung nur mit einer Weltkooperation machen lässt."

Die wirtschaftliche Transformation des Ostens

In einer schlechten wirtschaftlichen Lage war auch Ostdeutschland nach der Deutschen Wiedervereinigung. Denn die wirtschaftsschwache DDR trat zu westlichen Bedingungen in die Soziale Marktwirtschaft ein. 30 Jahre nach Wiedervereinigung und Transformation bestehen noch immer starke Ungleichheiten zwischen den beiden Teilen Deutschlands. Die ostdeutsche Wirtschaftskraft und der Wohlstand sind wesentlich geringer als im Westen. "Und die regionalen Disparitäten werden tendenziell bestehen bleiben", sagt Joachim Ragnitz vom ifo-Institut Dresden. Obwohl die Soziale Marktwirtschaft 30 Jahre verankert ist, fühle man sich im Osten noch nicht darin verhaftet. Auch das ist ein Grund für die Wahl extremer Parteien, die strukturelle Änderungen versprechen.

Auch auf europäischer Ebene gibt es diese Tendenzen, vor allem in Ungarn und Polen mit ihren antieuropäischen Regierungen. "Die EU muss auf sich aufpassen", sagt der ehemalige polnische Finanzminister und stellvertretende Premierminister Leszek Balcerowicz. Klaus Ziemer, ehemaliger Direktor des Deutschen-Historischen Instituts in Warschau, erklärt, dass mit dem Jahreswechsel 1989/90 ein komplett neues System in Polen eingeführt wurde, in das die Bevölkerung nur wenig Vertrauen hatte. Er sieht dies als "Schocktherapie mit hohen sozialen Kosten". Trotzdem würde in Polen keiner die Frage stellen, ob sich der Wechsel der Grundordnung gelohnt hätte, da dort heute eine hohe Akzeptanz gegenüber der Sozialen Marktwirtschaft besteht. Piotr Pysz von der Hochschule für Finanzen und Management in Białystok sagt, dass Deutschland als Land des wirtschaftlichen Erfolges gilt. Polen hätte sich viel von Deutschland abgeschaut und sei auch deshalb heute Mitglied der Europäischen Union.

Wandel durch Handel von Ost nach West

In China sind nach dem Tod Mao Zedongs 1976 langsam Bottom-up-Unternehmen entstanden und ab 1992 hat sich das Land in Richtung Marktwirtschaft und Kapitalismus orientiert. Seit drei Jahren liegt der deutsche Wirtschaftssektor nun hinter China. Das asiatische Land hat viele unserer Prinzipien übernommen, Teile aus dem Konkurs- und Privatrecht sogar komplett. Unter dem Motto "Wandel durch Handel" verstehen wir, unsere bewährten Prinzipien an andere Länder zu übermitteln. Die Länder interpretieren diese aber vielleicht ganz anders - so im Fall Chinas. Markus Taube von der Universität Duisburg-Essen nennt dies einen "institutionellen Wandel". Heute bewegt sich China weg von unseren Vorstellungen von Markt und Handel und fährt eine proaktive und aggressive Schiene. Ein Beispiel dafür ist die neue Seidenstraße, ein Transportweg mit Schienen nach Europa als Teil der Belt and Road Initiative, an der rund 145 Staaten beteiligt sind. Positiv sieht Taube den neuen Handelsweg erst dann, wenn die Züge in den lokalen Volkswirtschaften halten, damit sich diese einklinken und am internationalen Handel teilnehmen können. China verankert aktuell eigene Ordnungselemente entlang der Schienen. Das Land setzt auf chinesische Qualitätsstandards, andere ökologische Faktoren und eigene technische Normen. Viele Volkswirtschaften orientieren sich mittlerweile an China. Taubes These: "Wandel durch Handel passiert heute nicht mehr von West nach Ost, sondern von Ost nach West - durch ökonomische Anreize." Der Systemwechsel findet entlang der neuen Seidenstraße statt. Europa müsse sich künftig dem chinesischen Einfluss stellen und sich mit der Belt and Road Initiative auseinandersetzen.

Festschrift zu Ehren von Wolfgang Quaisser

Damit Wolfgang Quaisser sich auch nach seiner aktiven Zeit an der Akademie an seine Kolleginnen und Kollegen und den Austausch über die Soziale Marktwirtschaft erinnert, brachten ihm die Referenten ein Geschenk mit nach Tutzing: eine Festschrift ihm zu Ehren mit dem Titel "Reflexionen zur Sozialen Marktwirtschaft".

Markus Taube von der Universität Duisburg-Essen
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