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In Bayern gehen die Uhren anders

Die Sonderrolle des Freistaats in der Bundesrepublik

Die Sonderrolle Bayerns versetzt Beobachter der deutschen Politik oft in Erstaunen. Woher stammt das Selbstbewusstsein bayerischer Politiker? Wie unterscheiden sich Eigen- und Fremdwahrnehmung Bayerns? Und wie geht der Freistaat mit den globalen Herausforderungen von Klimawandel und Umweltschutz um? Darüber haben wir mit den Stipendiaten des Max Weber-Programms und der Studienstiftung des deutschen Volkes diskutiert. Die jährliche Veranstaltung trug dieses Mal den Titel "Perspektive Bayern: Weshalb im Freistaat die Uhren (nach wie vor) anders gehen" und fand coronabedingt als Online-Format statt.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 29.06.2020

Von: Carina Utz, Maximilian Michel / Foto: Maximilian Michel

Programm: Tutzinger Nachwuchsakademie: Perspektive Bayern

Malerische Landschaften, Volksfeste mit Dirndl und Lederhosn, niedrige Arbeitslosenzahlen durch erfolgreiche Konzerne und die CSU als ewig regierende Alleinpartei. Das haben viele Leute vor Augen, wenn sie an Bayern denken. Und in der Tat scheint der Freistaat in vielen Bereichen anders zu sein als der Rest der Bundesrepublik, ob nun in Bezug auf Landschaft, Politik oder Selbstverständnis. "Mia san Mia" ist zum Chiffre der bayerischen Andersartigkeit geworden. Die diesjährige Tagung der Akademie für Politische Bildung mit dem Max Weber-Programm und der Studienstiftung des deutschen Volkes ist deshalb den Wurzeln und Facetten der bayerischen Sonderrolle nachgegangen. Die interdisziplinäre Veranstaltung befasste sich mit Geschichte und aktuellen Themen Bayerns - in Form von Experten-Vorträgen, einer Diskussion mit Politikern und Workshopeinheiten der Stipendiaten. Coronabedingt ersetzte ein Online-Format die übliche Tagung in Tutzing.

Besonderheiten bayerischer Landespolitik

Die wohl unbestrittenste Besonderheit Bayerns ist die lange, fast ununterbrochene Regierung der CSU. Zwischendurch zwar in Partnerschaft mit der FDP - die aber von der CSU "totgekuschelt" wurde, wie es Susann Enders, Generalsekretärin der Freien Wähler, formulierte - und erst seit Kurzem in der "Vernunftehe" mit ihrer Partei. In einer Online-Diskussion debattierte Enders mit Politikerinnen und Politikern von CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen über die Sonderrolle Bayerns in Deutschland. Die durchgehende Regierungsherrschaft hat das Selbstbewusstsein der CSU angefeuert. Das "Durchregieren" entspricht aber nicht jedermanns Demokratieverständnis. Die CSU hat zum Beispiel bundesweit einen Sonderstatus, da sie auch als eine im Bundestag vertretene Partei eigens für Bayern durch die Wählerpauschalen Geld bekommt. Im Gegensatz dazu müssen andere Parteien das Geld bundesweit aufteilen.

Auf dem Podest Deutschlands?

Verspielt sich Bayern seine eigentlich vorteilhaften Karten in anderen Bereichen? Nach Meinung der SPD-Landesvorsitzenden Natascha Kohnen wäre da zum Beispiel die Bildungspolitik Bayerns, die ein sehr hohes Niveau anstrebt und Schülern die schwersten Prüfungen Deutschlands schreiben lässt. Eine niveauvolle Schulbildung ist an sich ein erstrebenswertes Ziel, aber viele Kinder würden auf der Strecke bleiben, wenn die Unterstützung von zu Hause fehlt.

Oder da wäre Markus Söder, der sein Bundesland mit den Worten "Bayern ist Sprungbrett und Schutzschild, Bundesländer wie Berlin sind dagegen die Resterampe der Republik" aus der Masse hervorhebt. So entstehe das Bild der überheblichen Bayern - nicht in Bezug auf die CSU, sondern auch auf alle anderen bayerischen Parteien.

Nicht nur CSU - Oppositionspolitik in Bayern

Markus Söder verstehe es geschickt, selbst die aktuellen Themen nach vorne zu stellen und die mediale Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen, sagt Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag. Das macht es für die Opposition schwieriger, diese Themen zu ihren eigenen zu machen. Andererseits gelte es noch die Diskrepanz zwischen Worten und Taten zu überwinden. Katharina Schulze sieht zum Beispiel Markus Söder einen Baum umarmen, aber sucht vergebens nach einem bayerischen Klimaschutzprogramm. Sie betont, dass gerade auf Landes- und auf Kommunalebene die konkrete Umsetzung geschieht.

Schützenswerte Alpen

Während in Bayern ein Klimaschutzprogramm fehlt, findet sich zum Schutz der Alpen auf staatenübergreifende Ebene ein konkreter Plan: der Alpenplan. Denn nach dem Skiboom der 60er und 70er Jahre war klar: Wenn es so weiter geht, sind die Alpen nicht mehr zu retten. Getrieben durch den Deutschen Alpenverein (DAV) entstand 1968 die Idee zu einem Alpenplan. Dieser teilt die Alpen in drei Bereiche. Für Zone A sind Infrastrukturvorhaben unter bestimmten Bedingungen erlaubt, während in Zone C - abgesehen von Alm- und Forstwegen - keine Verkehrsvorhaben erlaubt sind.

Die Alpenkonvention vereint Arbeitsgruppen verschiedenster Anrainerstaaten und schafft damit eine grenzüberschreitente Politik zugunsten der Wahrung der einzigartigen Alpenlandschaft und der wirtschaftlichen Interessen aller Länder. Diese Art von Zusammenarbeit hat internationale Aufmerksamkeit erregt. In den Karpaten wurde ein ähnliches Projekt in Anlehnung an die Alpenkonvention geschaffen.

Doch seit 1986 hat sich der Alpenplan nicht an die neuen Herausforderungen angepasst. So schaffen Alm- und Forstwege eine Grauzone für den Individualtourismus, indem zum Beispiel Mountainbiker diese Strecken nutzen und dazu verleiten, diese auch in geschützten Bereichen auszubauen. Zudem kommen rechtliche Schwächen, durch die sich Infrastruktur und Tourismus in andere Länder verlagern. Und auch der Klimawandel ist nicht genug berücksichtigt. Es müsste zum Beispiel viel mehr aufgeforstet werden, um die zunehmenden Erdrutsche abzufangen. Fazit der Teilnehmer: Die Alpenkonvention sollte den Alpenplan an die neuen Herausforderungen durch den Klimawandel anpassen und zum Beispiel einen konkreten Plan zur Aufforstung gefährderter Alpenhänge beschließen.

"Mia san mia" - und zwar schon immer? Der bayerische Eigenstaatlichkeitsgedanke

Im Laufe der Tagung wurden auch die identitätspolitischen Grundlagen der "bayerischen Andersartigkeit" untersucht. Wie konnte sich in der bayerischen Bevölkerung ein Selbstverständnis herausbilden, das den Freistaat in ihren Augen vom Rest der Bundesrepublik abhebt? Der bayerische Exklusivitätsgedanke hat eine lange Tradition, wie der Politikwissenschaftler Peter Kraus von der Universität Augsburg in seinem Vortrag zeigt. So ist nicht nur die geographische Ausdehnung Bayerns fast deckungsgleich mit seinen historischen Grenzen der letzten Jahrhunderte, auch der Ruf nach Eigenstaatlichkeit wurde immer wieder vernommen. Angefangen mit dem sozialdemokratischen Politiker Kurt Eisner, der 1918 den "Freien Volksstaat Bayern" ausrief, über die Ablehnung des in bayerischen Augen zu zentralistischen Grundgesetzentwurfs 1949 bis hin zu CSU und Bayernpartei, die mal mehr, mal weniger offen mit dem Eigenstaatlichkeitsgedanken flirten. Identitätspolitik würde in Bayern eine so große Rolle spielen wie in keinem anderen Bundesland, und der CSU sei es die meiste Zeit gelungen, dieses Politikfeld nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Kraus bezeichnet das bayerische "Mia san mia" dahingehend treffend als erfolgreiches staatliches "Identitätsprojekt".

Gemeinschaft durch Sprache?

Die Stipendiaten haben in Kleingruppen die Facetten der bayerischen Identität herausgearbeitet und festgestellt, dass sie sich von Region zu Region unterscheiden kann. Dabei beschäftigten sie sich unter der Moderation des Sprachwissenschaftlers Sebastian Franz von der Universität Augsburg mit verschiedenen Aspekten des bayerischen Selbstverständnisses. Ein wichtiges Distinktionsmerkmal der bayerischen Kultur seien beispielsweise die verschiedenen Dialekte, die der Bevökerung ein Gefühl von Zugehörigkeit vermittelten. In den Augen der Stipendiaten ist die Sprache allerdings nicht nur ein Ausdruck der Gruppenzugehörigkeit, sondern auch ein wichtiger Bestandteil der Vermarktungskultur: Welcher Tourist stellt sich schon beim Gedanken an Biergärten hochdeutsch sprechende Bedienungen vor? Auf regionale Dialektunterschiede wird dabei außerhalb Bayerns kaum geachtet, sondern es wird vielmehr das Bild eines allgemeinen "Kunstbairisch" bedient, das dem Oberbairischen am nächsten kommt. Dass die bayerischen Dialekte langsam, aber sicher aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwinden und damit auch ein Stück Kultur verloren geht, bedauern die meisten Stipendiaten. Dem könnte man zum Beispiel durch die Thematisierung, aber auch Entstereotypisierung der Dialekte im Schulunterricht entgegenwirken.

Erfolgreiche Selbstvermarktung - Bayernbilder in Film und Fernsehen

Eng mit dem Image der bairischen Sprache ist auch die Darstellung Bayerns in Film und Fernsehen verbunden. Damit beschäftigte sich die zweite Kleingruppe um den Redaktionsleiter Kino vom Bayerischen Rundfunk Carlos Gerstenhauer. Was macht einen bayerischen Film aus? Und welches Bild von Bayern wird darin vermittelt? Fast jedem dürfen Werke wie Marcus H. Rosenmüllers Kultfilm "Wer früher stirbt, ist länger tot", die Eberhofer-Krimis oder "Monaco Franze" bekannt sein. In diesen Filmen lassen sich in den Augen der Stipendiaten Versatzstücke bayerischer Kultur beobachten, die immer wieder auftauchen. So fehlen weder die Kulisse von Bergen, Wiesen und Seen noch das typische Filmbairisch, bayerische Grantler und eine Situationskomik mit derbem Humor. Immer wieder würden zudem stereotype bayerische Sitten und Gebräuche auftauchen wie Schuhplatteln, Blasmusik oder eine ausgeprägte Trinkkultur. Generell sind die Stipendiaten der Ansicht, dass bayerische Filme ihre eigene Realität schaffen und weitverbreitete Klischees von einem homogenen Bayern bestätigen, das so nicht existiert.

Identität und Identitätspolitik in Bayern

Gibt es überhaupt eine bayerische Identität? Und wer bestimmt, was "bayerisch" ist? Mit diesen Fragen beschäftigte sich die dritte Gruppe der Stipendiaten unter der Moderation von Peter Kraus. Zentrale Pfeiler des exklusiven bayerischen Selbstverständnisses sind ihrer Meinung nach die von Eigenstaatlichkeit geprägte Geschichte, eine starke Wirtschaft und die bayerische Kulinarik. All diese Komponenten müssten sich aber an die immer stärker werdenden Gegensätze innerhalb der bayerischen Gesellschaft anpassen: Zwischen katholisch und säkular, Tradition und Fortschritt, Stadt und Land sowie Freistaat und Bundesland. Die eine bayerische Identität gibt es nicht, da jeder ein anderes Verständnis von seiner Zugehörigkeit zu Bayern habe. Auch das Deutungsmonopol der CSU in identitätspolitischer Hinsicht sei daher nicht mehr zeitgemäß. Insbesondere der Gedanke einer "bayerischen Leitkultur" wurde von den Stipendiaten scharf kritisiert. Der Begriff sei inhaltsleer und wirke ausgrenzend anstatt inklusiv und weltoffen.

Erfundene Tradition und konstruierte Identität

Insgesamt waren die Stipendiaten sich einig, dass die im bayerischen In- und Ausland gepflegten Vorstellungen vom Freistaat häufig nicht mit der Realität übereinstimmen. Vieles scheint weniger natürlich gewachsen als im Sinne einer "invented tradition" (E. Hobsbawm) künstlich erschaffen worden zu sein, um eine bayerische Identität zu konstruieren. Außerhalb Bayerns würde somit ein eher verzerrtes Bild des Freistaats und seiner Bewohner ankommen, was aber natürlich auch Teil der bayerischen Selbstvermarktungsstrategie sei.

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