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Die Pandemie in der Philosophie

Episode 10 unseres Podcasts mit Roberta Astolfi

Corona hat die Welt in einen Ausnahmezustand versetzt. So weit sind sich die politischen Denker unserer Zeit einig. Die Debatte dreht sich um die Frage, wie weit die Einschränkung der Freiheitsrechte in dieser Situation gehen darf. Gäbe es in unserer Zeit nicht immer Gründe, um einen Ausnahmezustand zu rechtfertigen und die Rechte zu beschränken? Roberta Astolfi, an der Akademie verantwortlich für die ethischen und theoretischen Grundlagen der Politik, beobachtet im Umgang mit Corona die menschliche Angst vor dem Unbekannten. Im Podcast erklärt sie, warum über das Virus gesprochen wird wie über einen Feind, den es zu besiegen gilt, und ob Virologen in der Pandemie die besseren Politiker wären.

Tutzing / Podcast / Online seit: 17.06.2020

Von: Beate Winterer / Foto: APB Tutzing

Podcast-Transkript "Die Pandemie in der Philosophie" als PDF

Podcast

Beate Winterer: Hallo bei Akademie fürs Ohr, dem Podcast aus der Akademie für Politische Bildung in Tutzing am Starnberger See. Ich bin Beate Winterer, Pressereferentin der Akademie, und ich unterhalte mich regelmäßig mit unserer Direktorin und dem wissenschaftlichen Kollegium darüber, wie sich die Coronakrise auf unsere Arbeits- und Forschungsbereiche auswirkt. In der letzten Episode - vielleicht haben Sie sie gehört - habe ich mit meiner Kollegin Saskia Hieber gesprochen. Sie ist Sinologin und Expertin für China und sie hat uns sehr spannende Einblicke gegeben in das Land, aus dem die Corona-Pandemie stammt. Wir haben uns unter anderem darüber unterhalten, was es für die chinesische Wirtschaft und die Weltwirtschaft bedeuten wird, und auch, ob die Macht des Präsidenten Xi Jinping vielleicht sogar in Gefahr ist durch Corona.

Heute bin ich hier mit meiner Kollegin Roberta Astolfi. Sie wurde in der Rechtsphilosophie promoviert und ist bei uns an der Akademie zuständig für alle ethischen und theoretischen Fragen der Politik. Wir möchten uns heute deswegen auch über Corona und die Philosophie unterhalten. Roberta, mit welchen philosophischen Fragen konfrontiert uns denn die aktuelle Coronakrise?

Roberta Astolfi: Die aktuelle Coronakrise konfrontiert uns natürlich mit vielen unterschiedlichen Fragen, die - wie du gesagt hast - wirklich alle möglichen Bereiche in der Politik - bis angewandte Ethik in der Politik - beschäftigen.

Corona und Biopolitik

Roberta Astolfi: Ich habe mich besonders auf Fragen konzentriert, die sich mit dem Bereich der Biopolitik beschäftigen, weil das scheint mir ein guter Schlüssel, um unsere Gegenwart jetzt besser zu verstehen.

Beate Winterer: Was versteht man denn unter der Biopolitik?

Roberta Astolfi: Unter Biopolitik hat man unterschiedliche Bedeutungen. Ich meine das in einem sehr allgemeinen Sinne. Die unmittelbaren Beziehungen zwischen biologischem Leben und politischen Entscheidungen und Eingriffe in dem Sinne von Kontrolle über den menschlichen Körper. Also wie politische Eingriffe eine Kontrolle über die Menschen üben können, indem sie die Körper der Menschen kontrollieren.

Der Ausnahmezustand in der Philosophie

Beate Winterer: Aktuell werden ja alle möglichen staatlichen Eingriffe mit einem Ausnahmezustand begründet. Was ist denn aus philosophischer Sicht ein Ausnahmezustand?

Roberta Astolfi: Das ist eine gute Frage! Auch auf diese Frage kommen natürlich danach noch weitere Entwicklungen für die philosophische Debatte, die in Zeiten der Coronakrise wichtig sind. Wir sind natürlich jetzt in einem Ausnahmezustand in einem ganz normalen Sinn, weil es ist etwas Neues, etwas, das wir nicht kennen, wo das normale Leben irgendwie anders laufen muss. Ausnahmezustand in einem philosophisch-politischen Sinne oder in einem rechtsphilosophischen Sinne ist ein Zustand unseres gemeinsamen Lebens, bei dem die normalen gesetzlichen Normen nicht mehr gelten können. Oder zumindest nicht genug sind, um mit diesem Zustand klar zu kommen. Es ist ein Begriff, der natürlich mit sich viele Probleme bringt, weil er auch als Ausrede benutzt werden kann und despotische oder autoritäre Neigungen rechtfertigt werden könnten, wenn man will. Eine Theorie über den Ausnahmezustand ist genau die Theorie, die sagt: Ok, genau derjenige - oder diejenige - der über diesen Zustand entscheidet, ist derjenige, der die wirkliche Macht hat. Der Souverän ist derjenige, der darüber entscheidet, wann wir in einem Ausnahmezustand sind.

Debatte über die Coronakrise als Ausnahmezustand

Roberta Astolfi: Deswegen ist der Ausnahmezustand derzeit im philosophischen Bereich sehr debattiert und wurde ja auch im Fokus einer philosophischen Debatte in Italien - aber auch in Deutschland - als Fokus dieser Debatte genommen. Genau deswegen, weil manche Philosophen oder politische Denker vor allem Anfang dieser Krise - vielleicht haben sie jetzt mittlerweile ihre Meinung auch geändert - aber im April, oder Ende Februar, haben sie sich gegen starke Maßnahmen erklärt und sie haben appelliert, genau auf diesen Ausnahmezustand, also sie haben gesagt: Ok, man kann nicht immer alles ermöglichen, unter der Voraussetzung, dass wir in einem Ausnahmenzustand sind, weil in unserer Gesellschaft ist immer etwas, das uns berechtigen würde, zu sagen, dass wir in einem Ausnahmezustand sind. Und das wäre einfach eine andere Art, um uns besser zu kontrollieren. Dagegen haben sich genauso viele andere relevante Denker erklärt - gegen diese Äußerungen - und gesagt, dass man das Leben nicht nur im Sinne von Kontrolle lesen kann. Und dass dieser Ausnahmezustand nicht als Ausnahmezustand zu verstehen ist, wie eine Art, um uns zu kontrollieren, sondern - sagen wir - in einem viel lockereren Sinn einfach als etwas, das wir nicht kennen. Und ein Zustand, in dem Maßnahmen auch negative Effekte haben könnten, ließe sich tatsächlich auch anders interpretieren. Und wenn man nicht in dem Zaun - sagen wir so - dieser starken Interpretation von Ausnahmezustand bleibt.

Die Angst vor dem Unbekannten

Beate Winterer: Was sagt uns denn die Art und Weise, wie diese Debatte geführt wurde in den ersten Monaten, als Corona in Europa angekommen war?

Roberta Astolfi: Das Erste, das mir einfällt, ist wirklich die Angst, die wir haben, vor dem Unbekannten zu sein. Es wird immer versucht - auch jetzt noch - die Debatte auf Etwas zu reduzieren, das wir kennen. Und das ist ganz normal. Das ist, was wir immer versuchen. Die Menschheit hat immer versucht, mit der Welt klarzukommen. Seit der Moderne - durch die Wissenschaft - haben wir auch einen anderen Zugang zu der Welt, zu der Natur, zu unserer Umwelt gehabt und dadurch haben wir auch eine bessere Kontrolle über diese Welt, über diese Natur, gehabt. Kontrolle, die aber gerade nur eine scheinbare Kontrolle ist. Wir haben keine Kontrolle mehr. Und etwas so Kleines wie ein Virus hat unsere gesamte Gesellschaft komplett abgeschaltet, in einem gewissen Punkt.

Das Virus als Feind - Dichotomien des politischen Denkens

Roberta Astolfi: Es ist auch interessant zu sehen, wie vor allem am Anfang dieser Krise sehr häufig über das Virus mit einer Sprache geredet wurde, die wirklich eine kriegerische Sprache war. Die Wörter, die Termina, die da angewandt wurden. Sehr häufig wurde dieses Virus auch als unser Feind genannt. Ein Feind, gegen den wir kämpfen müssen, als ob wir wirklich in einem Krieg mit diesem Virus wären - und das hilft uns. Es ist eine Vereinfachung, die auch in der philosophischen Denke häufig angewandt wird, die Welt einfach in Dichotomien zu denken. Und die klassische Dichotomie des politischen Denkens ist irgendwie auch die Freund-Feind-Dichotomie. Und man hat - vielleicht auch unbewusst - versucht, diese Situation durch diese Dichotomie irgendwie deutlicher zu machen, verständlicher für uns. Aber ich bezweifle, dass das eine Art und Weise ist, die uns weiterhelfen kann, einfach, weil: Das Virus ist kein Feind.

Beate Winterer: Du hast gerade schon diese Dichotomie Freund-Feind erwähnt und hast gemeint, da gäbe es noch andere. Welche sind das denn im Einzelnen?

Roberta Astolfi: Wir haben vorher kurz auf den Begriff von Biopolitik verwiesen und das hilft uns jetzt auch mit dieser weiteren Frage. Andere Dichotomien, die sich genau aus dieser unmittelbaren Beziehung zwischen politischen Entscheidungen und Eingriffen und biologischen Prozessen des menschlichen Körpers beziehen, sind zum Beispiel die Dichotomien zwischen Jungen und Alten, zwischen Gesunden und Kranken. Wir haben gesehen, dass derzeit diese Dichotomien wohl relevant sind - relevanter als in anderen Momenten der Geschichte. Weil durch diese Dichotomie letztlich nochmals die Gesellschaft auf eine einfachere Art und Weise... Und wir haben gesehen, dass dieses Virus leider gefährlicher für die älteren Menschen ist. Hat auch dazu geführt, dass manchmal die jüngeren Menschen entweder das Risiko anders wahrgenommen haben oder gar nicht wahrgenommen haben. Und auch die Überlegungen und Reflexionen, die von älteren oder jungen Menschen über dieses Thema gemacht werden, sind natürlich anders. Und genauso wichtig ist dann die Dichotomie zwischen Kranken und Gesunden. Also die Kranken werden nicht nur zu Menschen, die irgendwie leiden und denen geholfen werden muss, sondern werden auch irgendwie Feinde der Gesellschaft selbst. Das ist natürlich eine Neigung, die zu vermeiden ist. Aber es ist auch klar, das kann passieren, dass man die kranken Menschen als diejenigen sieht, die die anderen anstecken. Und das ist natürlich etwas, das in einer demokratischen Gesellschaft, offenen Gesellschaft, wie unserer auch sehr gefährlich ist, weil man tatsächlich das Risiko läuft, dass die Gesellschaft sich in unterschiedliche Schichten zerteilen lässt.

Virologen vs. Politiker - Auf dem Weg in die Technokratie?

Beate Winterer: Eine Dichotomie - ich denke, man kann das schon so bezeichnen - die mir jetzt auch noch einfällt im Zusammenhang mit Corona, ist Experten vs. Politiker. Das ist ja auch eine Sache, mit der du dich in deiner aktuellen Forschung beschäftigst. Mir fällt gerade auf, es gibt so eine Debatte zwischen Menschen, die sagen: Die Politik müsste viel mehr auf die Virologen hören, man darf noch nicht öffnen, das geht alles zu schnell, zweite Welle usw. Und dann gibt es aber das andere Lager, das sagt: Naja, hier bestimmen ja nur noch die Virologen, es müssen doch die Politiker und die Gesellschaft muss bestimmen, wie wir weitergehen wollen, was wir uns zumuten wollen und da kann nicht ein Experte im Labor sitzen und sagen, ich will aber, dass es so gemacht wird. Wie siehst du denn das? Sind wir auf dem Weg in eine Technokratie?

Roberta Astolfi: Diese Krise ist natürlich eine harte Probe, sowohl für die Politik als auch für die Wissenschaft. Das, was für mich besonders wichtig ist zu betonen, ist, dass Politik und Wissenschaft im Prinzip unterschiedliche Rollen und Aufgaben haben, die aber komplementär sind. Also, sie müssen zusammenarbeiten, ohne, dass die Politik die Rolle der Wissenschaft übernimmt oder umgekehrt. Das, was diese Krise uns gezeigt hat, ist aber genau das, was du gesagt hast, dass wir - wie das häufig in einem Ausnahmezustand oder zumindest in Gefahr passiert - dass wir dazu neigen, die einfachste und schnellste Lösung zu suchen. Und manchmal wird diese einfachste und schnellste Lösung von einer starken Führung angeboten. Und natürlich hat man ein bisschen den Wunsch, dass ein Lead von Technokraten kommt und sagt: Nein, wir müssen unbedingt das machen, das dürfen wir auf keinen Fall machen. Und alles ist okay in ein paar Tagen. Das ist natürlich nicht der Fall. Erstmal, weil die Wissenschaft selbst Zeit braucht, braucht Prozesse, die immer auf Fehler und Korrektur der Fehler basieren. Es ist eine ständige Entwicklung und Verbesserung von Theorien und Lösungen, die immer aktualisiert werden müssen. Andererseits ist auch die Politik nicht nur da, um zwischen unterschiedlichen Lösungen auszuwählen, die von anderen ausgedacht wurden. Also die Politik hat auch - meiner Meinung nach - vor allem die Rolle, diese Lösungen weiterzudenken, zu belegen, welche moralischen Probleme damit verbunden sein könnten und welche ethischen Folge. Das macht auch die Wissenschaft, aber auf eine andere Art und Weise. Die Politik hat auch die Rolle, diese Erweiterungen der praktischen Lösungen uns dazustellen und dadurch auch unterschiedliche Weltanschauungen mit uns auszudenken. Und in dieser Krise ist das, was für mich besonders interessant war, wie die Rolle der Politik und der Wissenschaft, wie die sich vermischt haben und wie wir immer das Risiko laufen - wie du auch gesagt hast - dass man sagt: Nein, wir müssen nur der Wissenschaft zuhören. Dann läuft man das Risiko, dass man eine ganze Reihe von Problemen nicht mehr vor Augen haben kann. Oder: Nein, wir müssen nur der Politik zuhören und einfach das machen, was gerade diese Partei oder eine andere Partei sagt. Das würde auch keine Lösung bringen. Der Respekt vor den Rollen und der Aufgaben, vor allem der Respekt vor der Komplementarität muss wirklich im Fokus stehen in diesem Moment.

Beate Winterer: Ich finde, das ist ein sehr spannendes Thema, die Rolle von Wissenschaft und Politik. Und ich hoffe, wir können uns darüber auch noch weiter unterhalten. Vielleicht auch mal in einem anderen Zusammenhang als im Zusammenhang mit Corona, weil du dazu wirklich viel forschst. Roberta, vorerst bedanke ich mich aber bei dir. Und ich bedanke mich auch wieder bei allen, die uns heute zugehört haben. Seit Kurzem wissen wir, dass wir an der Akademie auch demnächst wieder Präsenztagungen veranstalten dürfen, zu gegebener Zeit erfahren Sie davon natürlich auch bei uns auf der Website www.apb-tutzing.de und natürlich hier im Podcast. Ich verabschiede mich, bis bald!

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