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Pandemien in der Geschichte

Episode 8 unseres Podcasts: Von Pest bis Corona

Pandemien gibt es wahrscheinlich fast so lang, wie es Menschen gibt. Während die Justinianische Pest noch 100 Jahre brauchte, um von China nach England zu wandern, ging die Spanische Grippe 1918 innerhalb weniger Monate um die Welt. Begleitet wurde sie wie die aktuelle Corona-Pandemie von Lockdowns, Verharmlosungen und Verschwörungstheorien. Im Podcast spricht Michael Mayer, Zeithistoriker an der Akademie für Politische Bildung, über die Pest als Strafe Gottes, Pockenausbrüche in der jungen Bundesrepublik und Hollywood als Folge der Spanischen Grippe.

Tutzing / Podcast / Online seit: 19.05.2020

Von: Beate Winterer / Foto: APB Tutzing

Podcast-Transkript "Pandemien in der Geschichte" als PDF

Podcast

Beate Winterer: Hallo zusammen. Wir sind hier wieder bei Akademie fürs Ohr, dem Podcast aus der Akademie für Politische Bildung am Starnberger See. Ich bin Beate Winterer, Pressereferentin der Akademie, und ich unterhalte mich regelmäßig mit unserer Direktorin und dem wissenschaftlichen Kollegium darüber, wie sich die Coronakrise auf unsere Arbeits- und Forschungsbereiche auswirkt. In der letzten Episode habe ich mit unserer Direktorin Ursula Münch über den Föderalismus gesprochen und sie hat erklärt, warum der Begriff "Flickenteppich" eigentlich falsch ist und der Föderalismus gerade in der Krise seine Stärken zeigt.

Heute bin ich hier mit unserem Zeithistoriker Dr. Michael Mayer und wir möchten uns über Pandemien in der Geschichte unterhalten.

Die Pest als erste dokumentierte Pandemie

Beate Winterer: Michael, seit dem 6. Jahrhundert gibt es in der westlichen Welt Quellen über Epidemien - damals ging es um die Justinianische Pest. Woher kam die denn eigentlich?

Michael Mayer: Die Pest entsteht vor etwa 4000 Jahren in der Tibet-Qinghai-Hochebene, also in China. Aber erst 2011 ist es uns gelungen, das Genom des Pesterregers - das ist die Yersinia pestis - zu entschlüsseln. Man hat dazu alte DNA-Fragmente extrahiert. Die stammen von einem Friedhof in London - East Smithfield – dort waren viele Opfer der Pest von London von 1348 beerdigt und daraus hat man es dann geschafft, dieses Genom zu entschlüsseln und konnte dann auch verschiedene Sachen nachweisen. Nämlich zum Beispiel, dass die Justinianische Pest und die Pest des Mittelalters im 14. Jahrhundert, dass es der gleiche Erreger war. Vorher dachte man, das sind unterschiedliche Erreger. Ausgebreitet hat sich die Pest dann global in der ersten Welle eben im 6. Jahrhundert, beziehungsweise dann im Mittelalter, und dann eben nochmal im 19. Jahrhundert in drei großen globalen Wellen. Und das geht dann unter anderem über den Rattenfloh. Aber nicht nur Ratten sind dafür verantwortlich, sondern auch andere Tiere wie Meerschweinchen, Präriehunde, Murmeltiere und so weiter. Die übertragen den Pesterreger. Die Ausbreitung global - zum Beispiel im Mittelalter dauert es 100 Jahre ungefähr, bis die Pest von China nach Großbritannien kommt. Das geht teilweise auch ein bisschen schneller, das sieht man eben auch 1346. Da sind die Genueser, die haben eine Hafenstadt auf der Halbinsel Krim, das ist die Stadt Kaffa. Die haben sie eingenommen und diese Stadt wird von Mongolen belagert. Die Mongolen haben das Problem, dass bei ihnen eine Pestepidemie ausbricht. Und was machen sie? Sie nehmen ihre Kadaver, die Leichen, und werfen sie mit Katapulten in die Stadt Kaffa hinein. Und die Genueser erkranken dann natürlich auch an Pest. Die Pest grassiert, die Genueser flüchten auf ihre Schiffe, flüchten nach Hause und bringen so die Pest mit nach Hause. Andererseits muss man natürlich dazusagen: Selbst wenn die Genueser die Pest nicht mit nach Hause gebracht hätten, die wäre auch so irgendwann in Europa angekommen. Was ganz interessant ist: Die Todesraten von Pest, die sind extrem hoch. Also man schätzt, dass etwa 40 bis 60 Prozent der Bevölkerung in Europa, Nordafrika, im Vorderen Orient damals gestorben sind, also vor allem bei der zweiten Pestepidemie. Schlimmere Auswirkungen hatten nur Masern und Pocken auf indigene Völker in der frühen Neuzeit, also vor allem in Nordamerika. In absoluten Zahlen aber - wenn man sich das mal anschaut - gibt es andere Erkrankungen, die deutlich mehr Tote verzeichnen als die Pest, wie zum Beispiel die Cholera im 19. Jahrhundert, die Spanische Grippe ab 1918 und auch das HI-Virus, also HIV, seit den 1980er Jahren. Aber erinnern tun wir uns vor allem an die Pest.

Theorien für die Entstehung von Seuchen in der Geschichte

Beate Winterer: Du hast gerade gesagt, das Genom wurde erst 2011 entschlüsselt. Vermutlich wussten die Menschen im Mittelalter gar nicht so genau, was passiert. Wie hat man sich denn früher solche Seuchen erklärt? Welche Ursachen wurden dahinter vermutet?

Michael Mayer: Seit dem 4. Jahrhundert gibt es die sogenannten Miasmentheorie - also Miasma kommt aus dem Griechischen und meint "übler Dunst", "Verunreinigung". Diese Theorie stammt von Hippokrates und der sagte, dass Seuchen entstehen aus Fäulnisprozessen in Wasser und Luft. Also da fault irgendwas vor sich hin und dann gibt es irgendwie schlechte Luft und dann werden die Menschen krank - bekannt ist ja auch dieser Pest-Hauch. Aber man sagte auch, dass die Gestirne Einfluss haben. 1348 ist es, da grassiert gerade die Pest in Paris und da bittet der französische König Philipp VI. die Wissenschaftler seiner Stadt und sagt: Erklärt mir doch, woher kommt die Pest? Und die - gerade die Astrologen - erläutern dann, dass es Konstellation der Planeten Mars, Saturn und Jupiter gegeben habe und dass das dann die Luftbeschaffenheit verändert hätte. Also die Luft wird schlecht und man versucht dem entgegenzukommen, in dem man die Luft besser macht. Und von diesem Denken - also Gestirne haben Einfluss auf Epidemien - von diesem Denken kommt auch das Wort Influenza. Wir sprechen ja heute noch von Influenza - im Englischen "flu". Das kommt aus dem Italienischen, weil im 16. Jahrhundert haben italienische Forscher gesagt, dass Epidemien eine Folge von Bewegungen von Kometen und Meteoren am Himmel sein. Also influenza coeli, "ein Einfluss des Himmels auf die Welt". Das verändert eben die Luft und so wird alles schlechter. Das Spannende ist, das ist eine rationale Erklärung. Man versucht irgendwie rational zu erklären: Das ist die Ursache und versucht dann eben auch dagegen vorzugehen. Bei Christen ist es wieder ganz interessant, die sehen ja letztendlich die Apokalypse - also die Pest, wenn alles schlimm wird. Das ist ja die Offenbarung, das ist die Endzeit, also das Reich Gottes kündigt sich an. Und so gesehen sieht man auch so eine recht ambivalente Interpretation. Wir haben die Justinianische Pest, das ist die Zeit des Durchbruchs des Christentums in der westlichen Welt oder auch im Mittelalter wird die Pest als die Strafe Gottes gesehen. Dafür, dass man eben nicht gottesfürchtig gewesen sei.

Seuchenprävention in der Vergangenheit

Beate Winterer: Welche Maßnahmen wurden denn früher ergriffen, um die Pest oder andere Epidemie einzudämmen?

Michael Mayer: Im Grunde ist das gar nicht so unähnlich wie heute, muss man sagen. Also man sondert die Kranken ab, die klassische Quarantäne. Das kommt auch aus dem Italienischen: 1374 werden in Venedig Reisende und Kaufleute, die aus andere Städten kommen wegen er Pest in die Quarantäne gesteckt - Quarantäne kommt vom Italienischen "quaranta", dem Franzöischen "quarantaine", also "vierzig". 40 Tage kommen die auf eine Insel in der Nähe. Das ist die Insel Lazzaretto Nuovo. Dort müssen die für eine Weile bleiben, um zu gucken, ob die Krankheit ausbricht. Dieses Wort Lazarett kommt übrigens auch von einem Pestkrankenhaus. Das stammt jetzt nicht von dieser Insel, sondern es gibt ein Lazarett auf der Insel Santa Maria di Nazaretto - Santa Maria von Nazareth - und dort gibt es ein Pest-Krankenhaus. Also Sie sehen, ganz viel Worte kommen eigentlich auch aus dieser Zeit, sind mit Seuchen verbunden. Interessant ist, dass im 18. Jahrhundert das Habsburger Reich einen cordon sanitaire - also einen Isolationsgürtel - von der Donau bis zum Balkan aufrichtet, um sich vor Epidemien vom Osmanischen Reich zu schützen. Es geht da vor allem um Cholera-Epidemien. Und dieser Gürtel - da sind Festungen gebaut, da gibt es bewaffnete Bauern, die schützen diese Festung - und ankommende Reisende, die müssen dann unter Umständen, wenn sie Symptome haben, in Quarantäne gehen. Und diese Grenze ist eigentlich die Grenze zwischen Christentum und Islam. Während des Jugoslawien-Kriegs ist das eben auch eine dieser Demarkationslinie, wo der Jugoslawien-Konflikt auch ausbricht. Aber diese Quarantäne-Maßnahmen, das haben wir auch noch in der Jetzt-Zeit. Also in den 60er Jahren gab es Pockenausbrüche in der Bundesrepublik. Es gibt hier oft regionale Quarantänen, also in Heidelberg 1958, 1962 in der Eifel und als Letztes 1970 im nördlichen Sauerland. Das ist etwas, das bis an die Jetztzeit geht. Und Fragen von Seuchenhygiene, die haben auch militärischen Nutzen, also zum Beispiel während des amerikanisch-mexikanischen Krieges 1846 bis 1848 haben die Amerikaner die Grenzziehung auch mit Seuchenbekämpfung argumentiert und gesagt, wir brauchen diese Grenze um Seuchen aus Mexiko abzuhalten. Und umgekehrt, im Zweiten Weltkrieg, die Nationalsozialisten nutzen Seuchenbekämpfung auch zur Raumordnung. Das heißt, Massenerschießungen in der Sowjetunion finden auch unter dem Deckmantel statt, dass man hier gegen Seuchen vorgehen muss...

Beate Winterer: ...dass man säubert...

Michael Mayer: ...genau, man bringt die Leute einfach um, damit sie nicht andere Leute anstecken.

Wiederkehrende Muster im Umgang mit Epidemien

Beate Winterer: Du hast dir ja sehr viele Epidemien und Seuchen angeschaut. Kann man allgemeine Verläufe von Epidemien aus der Geschichte ablesen? Gibt es da wiederkehrende Muster?

Michael Mayer: Ja, kann man auf jeden Fall. Seuchen sind immer Stresstests für Gesellschaften. Thukydides hat einmal über die Seuche in Athen 430 v. Chr. geschrieben - das war wohl Pest oder Typhus, das weiß man nicht so genau - er hat damals gesagt: Krisen bringen die besten und die schlechtesten Eigenschaften von Menschen hervor. Und wir können jetzt erkennen, dass Seuchen, Epidemien doch in durchaus ähnlichen Phasen ablaufen. Die erste Phase, die Seuche ist noch weit weg - ich spreche jetzt vor allem von Seuchen, weil es lokaler ist - die Seuche ist weit weg, wird dann erstmal ignoriert. Das hat mit uns nichts zu tun. Dann kommt die Seuche näher und jetzt gibt es diesen Prozess des Otherings, also es wird irgendwie bedrohlich und wir müssen jetzt gucken, dass die Seuche - das hat nichts mit uns zu tun, das ist irgendwas Fremdes. Man spricht dann zum Beispiel bei Syphilis vom Morbus Gallicus oder in USA oder Großbritannien spricht man von den German Measles. Also die Masern sind irgendwie deutsch. Das Gleiche hat man auch in den 80erJahren gehabt mit HIV. Das ist die Schwulenpest. Damals hat man in den USA versucht, den Patienten Null zu finden. Also der, der die Krankheit in die USA gebracht hat - und hat dann einen kanadischen Steward ausgemacht, der sei sozusagen der Sündenbock, der ist schuld, der hat HIV zu uns gebracht. In der dritten Phase ist dann die Seuche da. Es wird verharmlost, und heißt so: Naja es wird ja sowieso nur Panik gemacht, ist doch alles überbewertet, betrifft uns ja nicht, sind ja eher die Randgruppen, die Prostituierten, die Armen und so weiter. Und dann in Phase vier ist dann: Rette sich wer kann! Die Zahl der Erkrankungen nimmt zu, es sterben Leute. Es werden auch Maßnahmen ergriffen und dem versucht mal sich jetzt zu entziehen. Das Klassische ist, man flieht auf sein Landhaus. Wir hatten das ja auch aktuell, dass die Leute in ihre Zweitwohnung gezogen sind und dann oft aus den Städten aufs Land gegangen sind. Und die Dorfbewohner fanden das gar nicht so gut, weil die gesagt haben: Epidemien, Seuchen, das ist immer eine Sache, die was mit der Stadt zu tun hat. Das hat nichts mit dem Land zu tun. Und dann klingen die Seuchen ab und dann versucht man, dem irgendwie Sinn zu geben. Es entstehen so Narrationen. Zum Beispiel: Es ist Gottes Strafe gewesen oder wir haben zu sehr in die Natur eingegriffen und die Natur rächt sich jetzt. Das haben wir ganz aktuell mit dem: Aus dem Labor in Wuhan ist das Virus entkommen. Da hatten wir in den 80er Jahren mit HIV genau das Gleiche. Es kommt aus dem Labor und dann aber vergisst man - ja, das ist das Spannende - dann vergisst man, und macht Witze. Nach der Hongkong-Grippe 1968 hat man gesagt: Ja, war ja nicht so schlimm, das Schlimmste war, dass Uschi Glas alleine ins Bett gehen musste.

Die Spanische Grippe im Vergleich mit COVID-19

Beate Winterer: Eine Pandemie, die du vorher schon erwähnt hast - und von der man gerade auch sehr oft in den Medien hört - ist die Spanische Grippe, weil auch gerade oft gesagt wird, die ist der aktuellen Pandemie - also der Coronakrise - sehr ähnlich. Würdest du für unsere Zuhörer vielleicht ein bisschen von der Spanischen Grippe erzählen? Und auch erklären, ob es da Parallelen gibt oder nicht?

Michael Mayer: Die Spanische Grippe ist durchaus vergleichbar mit unserer aktuellen Pandemie - vergleichbar heißt aber, es ist vergleichbar aber man kann es nicht gleichsetzen. Vergleichen heißt nicht Gleichsetzen. In absoluten Zahlen ist die Spanische Grippe die mörderischste Pandemie der Geschichte, also etwa 40 bis 50 Millionen Tote weltweit gab es zwischen 1918 und etwa Anfang der 20er Jahre. Alleine in Indien 18 Millionen Tote, das ist so viel, wie der gesamte Erste Weltkrieg an Toten erfordert hat. Diese Zahlen sind aber wahrscheinlich immer noch zu niedrig angesetzt, weil wir haben oft keine Gesundheitsdaten aus Staaten in Afrika, in Asien. Im Bürgerkriegsrussland, da fehlen uns zum Beispiel die Daten. Wie rechnet man jetzt diese Toten zusammen oder wie kommt man auf diese Zahlen? Man errechnet das aus der Extramortalität, also die Übersterblichkeit. Also man nimmt einen Monat, zum Beispiel Juli 1917 - also ein Jahr vor der Pandemie - und vergleicht das mit Juli 1918 und guckt, wie viel mehr Menschen sind 1918 gestorben als 1917 in dem gleichen Monat. Und das ist diese Übersterblichkeit und so kann man diese Zahlen mehr oder weniger ausrechnen. In den USA sind damals beispielsweise über eine halbe Millionen Menschen gestorben und das ist mehr als alle amerikanischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg, im Zweiten Weltkrieg, in Korea und Vietnam gestorben sind - also 100.000 mehr. Das sind über 400.000. Und das trifft vor allem junge Menschen - das ist auch so erschrecken bei dieser Pandemie - junge, kräftige Menschen, vor allem auch Menschen vom Land, die etwas weniger Immunitäten gegen den Influenza-Virus - das ist H1N1 damals, in einer bestimmten Variante - die haben das eben noch nicht. Was sehen wir dann bei der Spanischen Grippe? Letztendlich könnte man sagen: Man sieht, was passiert, wenn man keinen Lockdown macht. Wir haben relativ ähnliche Entwicklungen, also eben verschiedene Wellen dieser Pandemie, die breiten sich aus, aber es gibt nur wenige Maßnahmen dagegen. Der Reichsgesundheitsrat - das ist ein Beratergremium der Reichsregierung - sagt im Juli 1918: Naja, wir können sowieso nichts machen, wir haben keine Mittel dagegen, wir lassen es laufen. Man soll ein bisschen für Sauberkeit sorgen, man soll regelmäßig mit Salzlösung gurgeln - das erinnert einen an einen amerikanischen Präsidenten, der auch sowas gesagt hat - Menschenansammlungen meiden. Und wenn man krank ist, soll man zum Arzt gehen. Obwohl damals die meisten Menschen keine Krankenversicherung haben - ähnlich auch wieder wie in den USA heute, wo ein Test gegen SARS-CoV-2, ich habe, glaube ich, gehört $3.000 kostet dieser Test und das macht man natürlich nicht, wenn man keine Arbeit hat. Man hat damals gesehen, es gibt dann verschiedenste Maßnahmen, also Schulschließungen zum Beispiel. Theater und Kinos werden geschlossen in verschiedenen Städten. Wir haben auch andere Maßnahmen, die ergriffen werden. Also in der Schweiz gibt es Verbot von Gottesdiensten, Versammlungsverbote, also relativ viele Maßnahmen. Verbreiten tut sich diese Pandemie vor allem - das stammt übrigens aus den USA, wahrscheinlich gab es da im Mittleren Westen Übertragungen von Geflügel und Schweinen auf Menschen - nimmt man zumindest an, als einen der Auslöser. Und die Amerikaner - über ihre Truppentransporte - schaffen die das letztendlich nach Europa. Man sieht dann, dass relativ viele Menschen dabei sterben - also die amerikanische Marine zum Beispiel. Da waren etwa 40 Prozent der Soldaten an Influenza erkrankt, mit 5.000 Toten. Insgesamt 43.000 amerikanische Soldaten sind gestorben an dieser Pandemie. Und erstaunlicherweise mehr in der Heimat als an der Front. Also die Front war insofern besser, weil man nicht so nah beieinander war und ja, weil eine - könnte man sagen - "Air Conditioning" vorhanden war, die etwas positiver war. Und vor allem in den Trainingslagern sind die Leute gestorben, was verschiedene Gründe haben kann. Vor allem weil die da neu hinkamen, wenig Abhärtung hatten und bis die an der Front waren - die, die es überlebt hatten - die hatten schon eine gewisse Immunisierung.

Verschwörungstheorien um die Spanische Grippe

Beate Winterer: Wie heute auch, grassierten während der Spanischen Grippe Verschwörungstheorien. Was glaubten die Menschen denn damals?

Michael Mayer: Schuldig sind immer die anderen - sehr einfach. Wir hatten das schon in der Pest im Mittelalter. Das sind die antijüdischen Pogrome, die ausgelöst werden, weil Juden angeblich Brunnen vergiften. Im 19. Jahrhundert, bei der Cholera, heißt es in Großbritannien: Das sind die Ärzte, die das ausgelöst haben, weil wem nutzt die Krankheit? Natürlich den Ärzten, die machen damit Geld. Und außerdem wollen Ärzte immer Kadaver haben, um die dann obduzieren zu können, also: Die Ärzte sind schuld. Bei der Spanischen Grippe sind die Deutschen schuld - zumindest in den USA. Da heißt es, deutsche U-Boote hätten diesen Erreger in die USA gebracht und die Deutschen hätten dann sozusagen in Kinos in New York diesen Erreger verbreitet. Und eine zweite Theorie war dann: Der Bayer-Konzern hat ja Aspirin hergestellt - die Kopfschmerztabletten - und diese Aspirin-Tabletten würden diesen Erreger enthalten. Und das haben wir ja heute noch, dass Menschen Angst haben, dass in bestimmten Impfungen zum Beispiel Dinge vorhanden sind, dass zum Beispiel Impfungen unfruchtbar machen - was manche Muslime glauben - und so weiter.

Folgen der Spanischen Grippe für Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft

Beate Winterer: Welche Folgen hatte die Spanische Grippe denn dann für die Gesellschaft, für die Wissenschaft, für die Wirtschaft? Hat man daraus irgendwas gelernt vor ungefähr 100 Jahren?

Michael Mayer: Das Spannende ist eigentlich, man hat gar nicht so viel gelernt, weil die Spanische Grippe sehr schnell wieder vergessen gegangen ist. Wir sprechen heute ein bisschen mehr darüber, aber die Wenigsten wissen, wie verheerend die Spanische Grippe war letztendlich. Und wir sollten uns daran erinnern, weil die Spanische Grippe, die erste Welle war im Frühjahr 1918, so ab Januar/Februar geht das so langsam los und da ist dann der Höhepunkt März/April und dann flaut das so ein bisschen ab - könnte einen an heute erinnern - aber dann geht es erst so richtig los. Also Ende August ist dann die zweite Welle und die ist dann viel tödlicher als die erste Welle - unter anderem auch, weil das Virus mutiert ist, das heißt, selbst Leute, die die Krankheit vorher schon hatten, sterben jetzt an dieser Krankheit. Und da gibt es noch verschiedene andere Wellen - also Frühjahr 1919 und so weiter. Also da sieht man eben: Pandemien verlaufen in Wellen. Sollte uns auch aufhorchen lassen - es gibt immer wieder Wellen bis Anfang der 20er Jahre. 1922 die letzten, das ebbt dann so langsam ab, weil doch immer mehr Menschen immun sind. Und man sieht aber auch damals– mit dem Daraus-lernen: Australien hat das an sich sehr gut gemacht, die haben ihr Land abgeschlossen nach außen, haben dann aber zu früh das Land wieder aufgemacht - im Januar 1919. Und die dritte Welle hat Australien dann massiv getroffen mit 19.000 Toten. Also auch da muss man überlegen: Wann mache ich wieder auf? Wie schnell mache ich auf? Was vielleicht auch eine spannende Parallele ist, ist die Forschung Also 1918 hat man eben diese Pandemie - vor allem in den USA. Alle Forschungsinstitute sagen: Wir müssen jetzt was machen! Wir müssen Medikamente, Impfungen entwickeln. Das heißt, die machen nichts anderes mehr. Die entwickeln ganz tolle Medikamente, viele Impfstoffe und so weiter - die leider einen kleinen entscheidenden Nachteil haben: Sie sind völlig wirkungslos. Und das liegt daran, weil man glaubte, dass so ein Bakterium - das Pfeiffer-Influenzabakterium - das sei verantwortlich für diese Krankheit. Und man hat aber nicht verstanden, dass das im Grunde nur eine Begleiterscheinung letztendlich gewesen ist. Man hatte damals noch keine Mikroskope, um auch Viren sehen zu können, man hat eben nur Bakterien sehen können. Und es hat bis 1933 gedauert, bis man eigentlich verstanden hat, woher kommt denn diese Spanische Grippe. Vielleicht noch ein Beispiel aus der Wirtschaft: Was verändert sich? Die US-Filmindustrie, das ist so ein schönes Beispiel. Es gibt in den USA viele kleine Kinos - die Kinematographie ist eben Ende des 19. Jahrhunderts entstanden - und mit der Spanischen Grippe müssen die Kinos zumachen, weil sie können keine Zuschauer und Zuschauerinnen mehr empfangen. Das heißt, viele kleine Kinos gehen pleite, werden dann zum Beispiel von Paramount Pictures aufgekauft und dieser Konzentrationsprozess... Hollywood, das ist eben eine der Folgen der Spanischen Grippe. Und dieses Kino dann in den 1930/40er Jahren von diesen großen Giganten, das ist eben unter anderem auch eine Folge der Spanischen Grippe.

Beate Winterer: Ich finde das Thema extrem spannend, aber ich hoffe eigentlich, wir müssen uns hier nicht über die zweite, dritte und vierte Corona-Welle unterhalten und die nochmal mit der Spanischen Grippe vergleichen. Michael, ich bedanken mich sehr, hat total Spaß gemacht! Und ich bedanke mich auch bei allen unseren Zuhörern. Wenn Sie noch mehr von Michael Mayer lesen möchten statt hören: Gerade ist unser neuer Akademie-Report erschienen, den gibt es kostenlos auf unserer Website zum Download und wir packen den Link auch in die Shownotes. Da ist ein Tagungsbericht drin. Wir hatten eine Kooperationsveranstaltung mit dem Amerikahaus München, da hat Mary Sarotte über die NATO-Osterweiterung gesprochen – über die USA und Russland - und ich finde das ein sehr spannendes Thema, also Sie können auch gerne mal da rein lesen. Und ich hoffe, wir hören uns demnächst wieder.

Michael Mayer: Ja, danke auch von meiner Seite.

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