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Unsere Demokratien sind zerbrechlicher geworden

60 Jahre Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten

Die Welt befindet sich in einem fundamentalen und dauerhaften Wandel: Digitalisierung, Klimakrise, globale Migration und Re-Nationalisierung mit zunehmendem Populismus sind die Stichworte. Diese Prozesse fordern auch die Politische Bildung heraus. Zu diesem Thema beging der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB) seine Jubiläumstagung zum 60-jährigen Bestehen an seinem Geburtsort Tutzing.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 04.12.2019

Von: / Foto: Dr. Friedrun Erben/AdB

Programm: Transformationen - Globale Entwicklungen und die Neuvermessung der politischen Bildung

Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten

Transformationen - Globale Entwicklungen und die Neuvermessung der politischen Bildung

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung brachte dem Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB) zur Jubiläumstagung zunächst gute Nachrichten mit: Die Zufriedenheit mit der Demokratie liegt in Deutschland mit 70 Prozent immer noch deutlich über dem EU-Durchschnitt (knapp unter 60). In den USA sei der Niedergang besonders dramatisch. Diese Entwicklung habe bereits unter Obama begonnen. Trump sei davon der Profiteur, nicht die Ursache. Merkel sieht eine latente Krise, die sich durch einen schleichenden Niedergang und Erosionserscheinungen bemerkbar macht. Demokratie leide an unerfüllten Versprechen und Verschlechterung der Qualität durch chronische Defizite. Das Ergebnis seien defekte, illiberale und exklusive Demokratien. Als Beispiel nannte er Ungarn und Polen und mit einer gewissen Tendenz auch die USA. Aber Merkel hatte noch eine gute Nachricht: Er sieht keinen drohenden Kollaps.

Vertrauensverlust für Parteien, Parlamente und Regierungen

Aber die Globalisierung mache Staaten verwundbar. Es gebe einen Wettlauf zwischen ihnen um Investitionen mittels Reduzierung der Steuern für Unternehmen, Kapitaleinkünfte und hohe Einkommen. Ein weiteres Problem sieht der Berliner Politikwissenschaftler in der Deregulierung der Arbeitsmärkte, die oft als Voraussetzung für Investitionsbereitschaft gelte. Am Ende sei es immer das Gleiche: Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste. Auffallend sei, dass der Vertrauensverlust besonders die wählbaren Institutionen treffe: Parteien, Parlamente und Regierungen. Dagegen seien Polizei, Militär und Justiz von diesen Erosionsprozessen im EU-Durchschnitt nicht so stark betroffen.

Rechtspopulisten als neue Volksparteien

Sozioökonomische Ungleichheit führe zu politischer Ungleichheit: "Wir haben es mit einer gut funktionierenden Zwei-Drittel-Demokratie zu tun: Das untere Drittel der Gesellschaft steigt aus", sagt Merkel. Deswegen seien Formen der direkten Demokratie gerade bei Rechtspopulisten so beliebt. Indikatoren sieht er in einer deutlich sinkenden Wahlbeteiligung sowie dem Rückgang an Wählern und Mitgliedern bei den früheren Volksparteien. Er empfiehlt, sich von diesem Begriff ganz zu verabschieden, da in ganz Europa die konservativen und sozialdemokratischen Parteien zusammen allein nicht mehr zur Regierungsbildung in der Lage seien: "Wir haben es mit einer irreversiblen Erosion der Volksparteien zu tun. Die Rechtspopulisten sind die neuen Volksparteien."

Weltweit gebe es zumindest eine Stagnation, möglicherweise auch eine minimale Regression liberaler Demokratiestandards. Von der Krise der Demokratie will Merkel aber nicht sprechen. Dafür seien die Länder zu unterschiedlich. Dennoch: "Unsere Demokratien sind zerbrechlicher geworden."

Komplexität politischer Entscheidungsprozesse

Auch Akademiedirektorin Ursula Münch sieht Verunsicherungen über die Leistungsfähigkeit der Demokratie angesichts der vielfältigen Transformationen. Die Abwendung weiter Kreise der Bevölkerung von der Politik habe einen Grund in der zunehmenden Professionalisierung und Spezialisierung von Politikern und der damit einhergehenden Komplexität politischer Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse: "Politische Kommunikation findet digital, entgrenzt und in Echtzeit statt. Diese Schnelligkeit der Informationen und Transformationen steht im Widerspruch zur Langsamkeit von politischen Prozessen in der rechtsstaatlichen Demokratie." Eine Entparlamentarisierung laufe parallel zum Bedeutungszuwachs externer Politikberater: „Intransparenz und eine wachsende 'Basta-Sehnsucht' sind die Folge", sagt Münch. Sie zitierte aus Meinungsumfragen, wonach rund 60 Prozent der Wähler in Thüringen Orientierungslosigkeit beklagen und etwa 40 Prozent Angst vor sozialem Abstieg und Statusverlust haben.

Politische Bildung gewinnt an Bedeutung

Demokratie sei eine voraussetzungsvolle Staatsform. Der Schutz der Freiheit und der Republik sei eben auch Aufgabe der Bürgerschaft, nicht allein des Staates. Die geringer werdende Bedeutung der alten "Gatekeeper" und "Leitplanken" wie Parteien, Medien, Verbände und Kirchen müsse die Politische Bildung versuchen auszugleichen. "Gleichzeitig muss Politische Bildung ein Grundverständnis für Pluralismus wecken: Interessen und Kompromisse sind nun einmal ein Wesensmerkmal einer freiheitlichen Demokratie." Eine neue Aufgabe für die Politische Bildung sieht Münch in der nötigen Begleitung von Verfahren der Bürgerbeteiligung und direkten Demokratie. Politische Bildung solle darüber hinaus unbedingt mit einem "algorithmischen Grundverständnis" kombiniert werden. Und schließlich müsse die Attraktivität von Angeboten der Politischen Bildung erhöht werden: "Die verschärfte Wettbewerbssituation erfordert veränderte Formate. Politische Bildung darf auch Spaß machen", sagt die Akademiedirektorin.

Klare Forderungen statt diffuser Ängste

Matylda Bobnis ist Schülerin aus München und aktiv in der Fridays-for-Future-Bewegung. Sie sagt: "Mir geht politisch alles zu langsam. Wir wollen mit unserer Protest- und Streikbewegung die aktuelle Klimakrise eindämmen." Das sei schon längst keine Jugendbewegung mehr. Zu den Demonstrationen kämen mittlerweile auch die Eltern und Großeltern der Schülerinnen und Schüler. Sie stellte aber auch klar: "Die Politisierung der jüngeren Generation kann man nicht verallgemeinern. Viele in meiner Klasse interessieren sich überhaupt nicht dafür. Ich bin die Einzige, die am Klimastreik teilnimmt." Ein Ruck gehe jedenfalls nicht durch ihre Altersgenossen. Bobnis wehrte sich gegen den Vorwurf, Ängste schüren zu wollen: "Wir haben Konzepte und Lösungsmöglichkeiten vorgestellt. Wir dramatisieren und übertreiben nicht." Und Eva Feldmann-Wojtachnia vom Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) in München ergänzte: "Wenn man konkret wird, dann werden Ängste auch beherrschbar. Wenn klare Forderungen auf dem Tisch liegen, dann kann man über die reden und verhandeln."

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