Streitfall Türkei
Innenpolitik - Europapolitik - Sicherheitspolitik
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 30.03.2017
Von: Tobias Rieth und Sebastian Haas
Foto: pixabay CC0
# Internationale Politik, Europa, Demokratie
Die innenpolitische Entwicklung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan war einer der Schwerpunkte unserer Veranstaltung. Maria Haimerl von der Humboldt-Universität zu Berlin beschrieb die Verfassungsentwicklung des vergangenen Jahrzehnts als eine "an die Schwelle zur präsidentiellen Autokratie". Bereits in der Verfassung von 1982 sei der Schutz des Staates an erster Stelle gestanden, die Grundrechte konnten ebenso leicht eingeschränkt werden wie die Arbeit der Parteien. (Eine Einführung zum politischen System der Türkei können Sie bei der Bundeszentrale für politische Bildung lesen.) Das nun geplante Verfassungsreferendum könnte nun die zwischenzeitlich erreichte Demokratisierung im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen wieder rückgängig machen: 50 Verfassungsartikel sollen geändert und 21 außer Kraft gesetzt werden. Was dann bleibt, ist nach Einschätzung Haimerls eine "löchrige Verfassung, die keine langfristigen Entwicklungen berücksichtigt und zu Blockade oder Instabilität des politischen Systems führen kann" - unter einem gestärkten Präsidenten, der dann per Dekret oder im Ausnahmezustand praktisch durchregieren kann und deutlich größeren Einfluss auf die Rechtsprechung sowie das Zusammentreten des Parlaments hat.
Auf dem Weg zum autoritären Staat?
Dilek Kurban (Hertie School of Governance) sprach über historische Kontinuitäten in der türkischen Innenpolitik - und erkannte in den gegenwärtigen Geschehnissen nur eine von vielen "autoritären" Phasen. Die Kriminalisierung von demokratischem Widerspruch und damit ein schwacher Schutz von Minderheiten seien Teil der türkischen Demokratiegeschichte. Die Annäherung der Türkei an die EU habe gewisse Besserungen mit sich gebracht wie die Unterzeichung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Jedoch seien diese positiven Entwicklungen rückläufig. Die Politikwissenschaftlerin erläuterte, dass die Ausrufung des landesweiten Ausnahmezustandes und die Schwächung der Judikative und Legislative eine große Belastung für die türkische Demokratie darstellen.
In Deutschland dominiert das Bild einer allmächtigen AKP, die ungehindert ihre Programme durchsetzen kann - und auch Hanna Mühlenhoff (Vrije Universiteit Amsterdam) zeichnete ein düsteres Bild von der Lage der Opposition, der Medien und der Zivilgesellschaft. So liegt die Türkei mittlerweile auf dem Pressefreiheitsindex auf Platz 151 von 180 und damit zum Beispiel noch hinter Russland. Wer das Verfassungsreferendum nicht unterstütze, "läuft Gefahr wegen Terrorpropaganda angeklagt zu werden" - das trifft vor allem die Oppositionsparteien. Die links-kurdische HDP zum Beispiel sei aufgrund von Verhaftungen und laufenden Ermittlungsverfahren gegen fast alle Abgeordneten "nicht mehr vorhanden". Verhaftungswellen und Entlassungen veränderten auch das akademische Klima. Mühlenhoff schlussfolgerte, dass der Putschversuch von der AKP genutzt wurde, um kritische Stimmen loszuwerden. Hoffnung macht ihr einzig die inzwischen stark politisierte Zivilgesellschaft.
Europäische Union und Türkei: Entfremdet vereint
Die Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union sind so eng wie noch nie - wirtschaftlich ist man seit Jahrzehnten eng verflochten, fast genauso lang gilt die Türkei als EU-Beitrittskandidat - und wahrscheinlich auch so schlecht wie noch nie. Wie Daniel Heinrich, Journalist für Deutschlandfunk und Deutsche Welle (hier geht's zu deren Türkei-Themenseite), berichtete, herrscht in der Türkei nicht erst seit dem gescheiterten Putschversuch "ein starkes Negativgefühl gegenüber Europa". Die türkische Regierung, Teile der Opposition und ein großer Teil der Bevölkerung sind vor allem von Deutschland enttäuscht
- wegen der kaum vorhandenen Reaktionen Europas auf die Ereignisse im Juli 2016
- weil mutmaßliche Putschisten der Gülen-Bewegung hierzulande beherbergt würden
- und weil "PKK-Terroristen" nicht ausreichend verfolgt würden.
Ob die Türkei überhaupt noch als Beitrittskandidat für die Europäische Union gehandelt werden kann, erläuterte Ludwig Schulz vom Centrum für angewandte Politikforschung der LMU München. Er entwarf Szenarien für das weitere Geschehen, beginnend bei einer allgemeinen Eskalation und Isolation der Türkei oder deren Annäherung an Russland. Für wahrscheinlicher aber hält er - vor allem, wenn das Verfassungsreferendum nach den Wünschen Erdogans ausgeht - das fast schon übliche Durchwursteln aus kleinen Kompromissen und scheinbar endlosen Verhandlungen über Detailfragen der weiteren Kooperation. Oder es kommt zu einer "differenzierten Integration" (einst nannte sie Angela Merkel eine "privilegierte Partnerschaft"): kein EU-Beitritt der Türkei, dafür Visafreiheit, türkische Delegationen in EU-Gremien, regelmäßige Gipfeltreffen, weitere Integration in die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Also eine ähnliche Lösung wie möglicherweise nach dem Brexit und als Vorbild für weitere Austritts- oder wenig erwünschte Beitrittskandidaten.
Denselben Themenkomplex behandelte beim Akademiegespräch am See Gunter Mulack, Botschafter für die Bundesrepublik Deutschland a.D. Das EU-Türkei Flüchtlingsabkommen habe vor allem eine "psychologische Wirkung" auf die Flüchtlinge und es habe erfolgreich "die Sogwirkung eliminiert", so Mulack. Jedoch mache sich die EU mit dem Abkommen nicht erpressbar, denn auch die Türkei habe Interesse daran. Die EU-Türkei-Beziehungen litten im Moment darunter, dass die Bedeutung von Emotionen im türkischen Politikbetrieb von Europäern unterschätzt werde. Damit verbunden sei auch eine Enttäuschung auf Seiten der Türkei, denn diese habe eine "Sympathiewelle" nach dem Putschversuch im Juli 2016 erwartet. Auf Beleidigungen von türkischer Seite solle man zunächst gemäßigt reagieren und sachlich bleiben.
Regionalmacht oder Scheinriese?
Als Partner in NATO und Migrationspolitik oder als Akteur im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat – die EU braucht eine stabile Türkei. Doch auch diese hat eigenen außenpolitische Interessen, die durchaus in einen Konflikt mit Europa münden können. Roy Kadarag vom Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen erläuterte diese Interessen:
- die Kriege in den Nachbarstaaten Syrien und Irak beenden, deren territoriale Zukunft mitgestalten, damit einen kurdischen Staat an der Grenze zur Türkei verhindern und die Flüchtlingsströme versiegen lassen
- den Regionalmacht-Status ausbauen und anderen regionalen Hegemonen wie Iran, Saudi-Arabien und Israel trotzen
- außenpolitisch ungebunden bleiben, um zwischen den verschiedenen Lagern zu vermitteln und von beiden Seiten zu profitieren
- Flüchtlinge und die geostrategisch wichtige Position seien daher als Machtquelle der Türkei zu interpretieren.
Magdalena Kirchner widersprach dieser Einschätzung und nannte die Türkei einen "geostrategischen Scheinriesen". Die Softpower der Türkei sei begrenzt, in ihrer Energieversorgung sei sie abhängig von Russland und wirtschaftlich sei sie abhängig von der Europäischen Union. Die Säuberungen und Entlassungen von einem Drittel der Soldaten und 40 Prozent der Generäle nach dem Putschversuch habe das Militär geschwächt. Für Kirchner ist die EU nicht angewiesen auf die Türkei: "Man kann sich in eine Abhängigkeit auch hineinreden".
Die Tagung "Streitfall Türkei. Innenpolitik - Europapolitik - Sicherheitspolitik" fand vom 24. bis 26. März in unserem Bildungszentrum am Starnberger See staat. Einführende Vorträge zur Geschichte der Türkei und aktuellen wirtschaftspolitischen Herausforderungen hielten Mehmet Gökhan Tuncer (Humboldt-Universität zu Berlin) und Erdal Yalcin (ifo Zentrum für Außenwirtschaft München). Über die Entwicklung im Kurdenkonflikt sprach Gülistan Gürbey (Freie Universität Berlin). Teil der Veranstaltung war zudem ein Konzert der Unterbiberger Hofmusik: Bavaturka - Mitanand unterwegs.
Prof. Dr. Ursula Münch
Tel: 08158 / 256-47
u.muench@apb-tutzing.de
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