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Zur Lage der Nation(en)

Konzepte, Realitäten und internationale Perspektiven bei der 35. Jahrestagung der Gesellschaft für Politikwissenschaft

APB-Tutzing Nationen

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 08.07.2017

Von: Sebastian Haas

Foto: Pixabay CC0

# Demokratie, USA

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Flickr APB Tutzing

© Akademie für Politische Bildung Tutzing

...und zunächst in die Vergangenheit geblickt: der Historiker Hans-Christof Kraus (Universität Passau) beschrieb sechs Phasen der Gründung von Nationalstaaten.

  1. Das Entstehen von Großreichen wie Spanien, Frankreich und Großbritannien in der frühen Neuzeit, als zusammengefasst wurde, was zum Beispiel durch Sprache und Kultur schon eng verbunden war.
  2. Erste Risse in diesen Großreichen als Zeichen einer Emanzipation, eine erste Welle der Entkolonialisierung seit den 1830er-Jahren – und das Entstehen südamerikanischer und südosteuropäischer Nationalstaaten.
  3. Die endgültige Konstituierung dessen, was wir heute als Italien, Deutschland und USA bezeichnen, im Verlauf der 1860er-Jahre bis 1871.
  4. Das Verteilen der Erbmasse aus dem Zaren-, Habsburger- und Osmanischen Reich nach dem Ersten Weltkrieg.
  5. Die zweite Welle der Dekolonisation nach dem Zweiten Weltkrieg als Zeichen des Machtverlusts ehemaliger Weltmächte – daraus entstanden in Asien und Afrika mehr als 50 Nationalstaaten, Indien als prominentestes Beispiel.
  6. Nach dem Ende des Kalten Krieges die „innere Neugründung" der Staaten des Warschauer Paktes und die Unabhängigkeit sowjetischer Teilrepubliken.

Inzwischen ist man an einem vorläufigen Ende eines über 500 Jahre andauernden Prozesses angekommen. Was mit Zerrissenheit, Fremdbestimmung und Ausbeutung bestimmter Bevölkerungsgruppen begann, hat heute „einen festen Ort im kollektiven Gedächtnis der Nationen und trägt zur Festigung staatlicher Strukturen bei", erläutert Kraus. So werden Nationalstaaten zur historisch bedeutenden, Identität und Legitimität stiftenden Errungenschaft, zumal mit ihrer Gründung häufig die Rechts- und Verfassungsgebung einherging.

Die Funktionalität und Zweckmäßigkeit von Nationalstaaten ist unumstritten. Ein neues, praktikableres Ordnungsmodell ist nicht in Sicht. Hans-Christof Kraus, Universität Passau.

Dass die Ebene der Nationalstaaten allein aber nicht genügt, um die Probleme dieser Welt anzugehen, war Thema zwischen den Politologen Hans W. Maull (Universität Trier), Sylke Tempel (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik) und den 50 anwesenden Gästen. Die Zukunft der internationalen Ordnung zeichnet sich nach Ansicht von Maull vor allem durch Desintegration und Erosion aus; denn obwohl die einzig verbliebenen Weltordnungsmächte USA und China in der Außenpolitik (noch) effektiv handeln, genießen sie gerade deswegen kein gutes Ansehen, tun sich schwerer Verbündete (und damit Legitimität) für ihre Politik zu finden.

Den Knoten zerschlagen oder entwirren?

Sylke Tempel, Chefredakteurin der Zeitschrift Internationale Politik, lenkte die Diskussion auf die Ebene der politisch Handelnden: Da gibt es die Entscheider und die Dynamiker. „Der eine versucht den gordischen Knoten zu zerschlagen, der andere ihn zu entwirren." Das wäre dann die Methode Putin und Trump (Tempel im NDR-Interview zu dessen Führungsstil) oder die Methode Merkel (wie passend daher das Logo des G20-Gipfels von Hamburg). Für große Entscheidungen muss zwischen diesen erst einmal die Chemie stimmen, vor allem aber muss sich die Arbeitsebene vernetzen.

„Macht die Populisten überflüssig"

Was aber, wenn die Politik in den Nationalstaaten nur noch einem vermeintlichen Volkswillen hinterher hechelt? Dass der Populismus regiert, kann nach Ansicht von Werner Patzelt (TU Dresden) schnell passieren – charakterisieren diesen doch fünf Handlungsweisen, von denen die meisten Politikerinnen und Politiker sowieso Gebrauch machen müssen oder wollen:

  • Das Vereinfachen komplexer Sachverhalte;
  • Das Auftreten als politischer Unternehmer (der zum Beispiel nach dem besten „Deal" sucht);
  • Das Relativieren des Repräsentationsprinzips, weg vom „wir/die da oben" und „wir/die da unten";
  • Die Behauptung, es gebe einen Volkswillen, der das Suchen nach Kompromissen überflüssig mache;
  • Das Hinnehmen von Repräsentationslücken – weil zum Beispiel die Politik die Bevölkerung empört, sie falsch kommuniziert wird oder ganze Politikfelder aus vermeintlicher political correctness aus der Diskussion verschwinden.

Der Stärkung der politischen (Diskussions-)Kultur innerhalb einer Nation oder zwischen mehreren Nationen dienen daher: Transparenz, Diskussionsfreude und sachliche Argumentation. In diesem Zusammenhang empfiehlt Tilman Mayer (Universität Bonn) auch den „vorpolitischen Raum" – Kultur und Erziehung zum Beispiel – nicht aus dem Auge zu verlieren. Letztlich aber kann es auf die ganz einfache Schlussfolgerung Werner Patzelts herauslaufen: „Wenn man seine Politik nicht besser erklären kann, ist sie vielleicht falsch."

Die Veranstaltung „Zur Lage der Nation. Konzeptionelle Debatten, gesellschaftliche Realitäten, internationale Perspektiven" war gleichzeitig die 35. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP) mitsamt Graduiertenkonferenz. Es sprachen außerdem: Michael Wolffsohn (Universität der Bundeswehr München): "Sechsmal Deutschland – dieselben Deutschen? Gedanken, Indikatoren und Thesen zur deutschen Geschichte und Politik" und Samuel Salzborn (Universität Gießen) zum Spannungsverhältnis zwischen Ethnizität und Homogenität in der Nation.

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