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Die Zukunft des deutschen Bundesstaates

Verfassungsrechtler und Innenpolitiker debattieren beim Forum Verfassungspolitik über den Föderalismus in Deutschland


Joachim Herrmann Stefan Studt Akademie Tutzing


Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 02.07.2016

Von: Sebastian Haas und Isabella Zimmer

# Verfassungsfragen

Download: Forum Verfassungspolitik: Die Zukunft des deutschen Bundesstaates


Flickr APB Tutzing

© Akademie für Politische Bildung Tutzing

So bemerkte der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Ferdinand Kirchhof im Einklang mit Hans-Jürgen Papier, dass die Gliederung der Bundesrepublik als Bundesstaat verschiedenartiger Länder von den eigenen Bürgern, der Wirtschaft und der europäischen Politik unzureichend wahrgenommen werde. Dabei biete die bundesstaatliche Gliederung Vorteile wie eine doppelte Legitimation politischer Entscheidungen, die Eigenverantwortung von Ländern, Regionen und Kommunen und somit größere Bürgernähe. Kirchhof sprach sich für eine strenger organisierte Finanzverfassung aus, die heute bestehende Mischfinanzierungen durch Bund und Länder – zum Beispiel beim Küstenschutz oder im Bildungswesen – verringert und so Verantwortliche deutlich benennt. Auch dass der Bund Leistungen versprechen kann, die dann von den Ländern finanziert und durchgeführt werden müssen, sei ein Unding: „Wer bestellt, bezahlt.“ Außerdem forderte Kirchhof ein „radikales Beschneiden des Länderfinanzausgleichs“. Es dürfe kein Cent mehr bezahlt werden als das, was die Lebensfähigkeit der jeweiligen Bundesländer sichere.

Studt und Herrmann: Ein Hoch auf den Föderalismus

Natürlich war der Länderfinanzausgleich auch Thema zweier Innenminister, die sich auf dem Podium der Akademie trafen. Joachim Herrmann (CSU) aus Bayern und sein Amtskollege Stefan Studt (SPD) aus Schleswig-Holstein waren sich einig: Der Föderalismus hat sich bewährt, muss allerdings immer wieder neu verhandelt werden. So haben sich die Länder beispielsweise auf eine Umsatzsteuer-basierte Neuregelung des Finanzausgleichs geeinigt, was der Bundesfinanzminister aber ablehnt. Joachim Herrmann betonte, wie wichtig es sei, gegen „neue zentralisierte Riesenapparate“ in Berlin oder Brüssel vorzugehen und stattdessen auf die Kompetenzen der Länder zu vertrauen. Gerade weil „die Bürger keine Grenzen sehen und spüren wollen“, sei es wichtig, die (grenzüberschreitende) regionale Entwicklung zu stärken, betonte auch Stefan Studt und ergänzte:

Es ist eine große Stärke der 16 Länder, immer zusammenzustehen, wenn es gemeinsam gegen den Bund geht. Stefan Studt, Minister für Inneres und Bundesangelegenheiten von Schleswig-Holstein, mit feiner Ironie.

Zur Föderalismusreform I des Jahres 2006 äußerte sich der Leipziger Professor für Staats- und Verwaltungsrecht Christoph Degenhart vorsichtig positiv. Die inzwischen zehn Jahre zurückliegende Reform war in der Notwendigkeit begründet, den nicht mehr zeitgemäßen Föderalismus Deutschlands zu modernisieren, einen Ausweg aus der „Politikverflechtungsfalle“ zu bieten. Die Reform sei eine pragmatische und vorsichtige gewesen und glückte auch ohne den ersehnten großen Wurf. Schließlich seien, wie Degenhart scherzhaft hinzufügte, Deutschlands Sorgen um den Föderalismus ohnehin ein Luxusproblem angesichts der Schwierigkeiten der Europäischen Union.

Die Europäische Union ist landesblind

Ist das föderale System der Bundesrepublik – in dem theoretisch jede Ebene bei allem mitreden kann – europatauglich? Dieser Frage stellte sich der Staatsrechtler Stefan Korioth von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Unbestritten hat die Politik der Europäischen Union großen Einfluss auf die Gestalt des Föderalismus hierzulande, denn europäische Gesetze müssen größtenteils durch die Bundesländer umgesetzt werden. „Die EU kann nur funktionieren, wenn sie landesblind agiert“, so fasst es Korioth zusammen. Das bedeutet seiner Meinung nach aber nicht, dass die Bundesländer ein Verlierer der europäischen Integration sind. Drei Tendenzen sprechen dagegen: Erstens fördert die EU aktiv das Subsidiaritätsprinzip und die Regionen (siehe dazu unseren Tagungsbericht zu Regionalparteien in Europa), zweitens sichert Artikel 79 des Grundgesetzes das Mitspracherecht der Bundesländer, und das drittens im Artikel 23 GG auch in europäischen Fragen.

Tragende Rolle der Kommunen im Bundesstaat

In der abschließenden Podiumsdiskussion erinnerte der Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes Roland Schäfer (SPD) an die Rolle der Kommunen, die viel zu oft in der Föderalismusdebatte außen vor gelassen würden. Dabei seien sie der erste Vermittler zwischen Bund und Bürgern. Auch Hans-Jürgen Papier bekräftigte, wie wichtig starke Länder und Kommunen für eine lebendige und lebenswerte Demokratie sind. Außerdem waren sich die Podiumsteilnehmer darüber einig, dass es einer besseren Bund-Länder Kooperation bedürfe, die dem Föderalismus nicht nur neuen Aufschwung gebe, sondern auch bei brisanten Themen wie der Flüchtlingskrise zu besseren Ergebnissen führen kann. Es fehle, meint Schäfer, ein effizientes Verteilernetz, das beispielsweise einen direkteren Dialog zwischen Bund und Kommunen ermöglichen kann.

Bayern im deutschen Föderalismus

Sowohl der I. Vizepräsident des Bayerischen Landtages Reinhold Bocklet als auch der Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs München Peter Küspert legten ihr Augenmerk hauptsächlich auf das Land Bayern – mit seiner historisch geprägten, soliden Identität und somit föderalen Verantwortung in Deutschland. Während Bocklet das Subsidiaritätsprinzip eher als einen Rückschritt des Deutschen Föderalismus betrachtete, sah Küspert in den Föderalismusreformen und in der steigenden Europäischen Integration der letzten Jahre zumindest keine Veränderung des Gewichts der Bayerischen Verfassung. Dennoch steht ganz Deutschland vor immer wachsenden Herausforderungen, mit denen der Bundesstaat nur anhand von einer effizient reformierten Aufgabenteilung fertig werden wird.


Weitere Informationen

Föderalismus in Deutschland - ein Online-Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung

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