Pränataldiagnostik im Tutzinger Diskurs
Die Expertengruppe stellt ihre Ergebnisse vor / 23 Thesen zum Download
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 08.04.2016
Von: Miriam Zerbel
# Sozialstaat, Ethik
Download: Pränataldiagnostik im Diskurs
Sie gelten nicht nur unter Ärzten als Zäsur in der Diagnostik: Für die nichtinvasiven Pränataltests ist nur ein Tropfen Blut der Mutter notwendig. Der genügt, um ein Kind im Mutterleib auf Krankheit oder Behinderung zu testen. Ist diese Entwicklung nun Fluch oder Segen, weckt sie Hoffnungen oder schürt sie Ängste? Das diskutierte eine interdisziplinäre Gruppe von 14 Fachleuten aus Medizin, Sozialer Arbeit und Schwangerschaftsberatung, Rechtswissenschaft, Philosophie, Heilpädagogik, Pflege- und Sozialwissenschaft sowie Journalismus in vier mehrtägigen Workshops, verteilt über mehrere Monate. Die Ergebnisse ihres Diskurses stellten sie nun der Öffentlichkeit vor.
Während die einen sagen, Verfahren wie der Pränatest helfe, das Leben leichter zu machen, befürchten die anderen einen weiteren Schritt hin zum Designerbaby. Vor diesem Hintergrund diskutierten die Teilnehmer des Diskurses, der mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert wurde und unter Schirmherrschaft der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer stand. Den Diskutanten ging es darum, zu überlegen, welche Folgen neue technische Verfahren haben und wie sie den Umgang mit Leben und Leben mit Behinderung verändern. Ziel war es, zu einer Rationalisierung in der Wahrnehmung der Pränataldiagnostik zu kommen.
Ethische Debatte um die Folgen
Sehr bald schon wurde deutlich: eindeutige Lösungsvorschläge sind nicht möglich. Dass kein Konsens-Ergebnis zustande kam, sah Akademiedirektorin Professorin Ursula Münch bei der öffentlichen Abschlussveranstaltung nicht als Defizit. „Es geht hier um Perspektivwechsel, das ist ein zentrales Element von Urteilsbildung und bestätigt erst die Intensität des Diskurses.“ Durch den interdisziplinären Austausch solle vielmehr Verständnis füreinander entwickelt werden. Mit Verweis auf Platon bestätigte auch Projektleiter Dr. Michael Spieker: „Gegensätzliche Positionen dürfen gleichberechtigt nebeneinander stehen.“
Diskussion an Thesentischen
An vier Thesentischen diskutierten anschließend Mitglieder der Diskurs-Gruppe mit den Gästen. Interessante Gespräche für alle Beteiligten ergaben sich auch deshalb, weil jeder einen anderen Zugang zum Thema hatte. Zur Diskussion standen folgende 23 Thesen, auf die sich die Expertinnen und Experten geeinigt hatten:
- Ein gerechter Zugang zu einzelnen Untersuchungsverfahren muss für alle Schwangeren bestehen
- Die Schwangeren sind besser über die Aussagekraft einzelner Untersuchungsmethoden aufzuklären
- Die Qualität im Ultraschallscreening muss verbessert werden
- Das kurative Potenzial der Pränataldiagnostik widerspricht einer „schädlichen Praxis“
- Die Kommunikation zwischen Ärztinnen bzw. Ärzten und Schwangeren muss verbessert werden
- PND ist immer eine Entscheidung – wird dies bewusst, trägt der Prozess Züge eines Schwangerschaftskonfliktes
- Späte Schwangerschaftsabbrüche – eine zwangsläufige Folge der Pränataldiagnostik?
- Spätabbrüche – Verbote sind keine Lösung
- Ethikkommissionen können den Konflikt um den Spätabbruch nicht lösen
- PND kanalisiert Ängste und Verunsicherung und wirkt somit vermeintlich als umfassende Bewältigungsstrategie
- Psychosoziale Beratung umfasst mehr als bekannt ist und muss offensiver und vor allem frühzeitiger beworben werden
- Ein Schwangerschaftskonflikt nach PND wird individuell unterschiedlich erlebt und führt zu einer „unerträglichen Entscheidung“
- Die Entscheidungsverantwortung in Zusammenhang mit PND tragen zu müssen, setzt Schwangere unter einen enormen emotionalen Druck
- Die Zeit nach der Entscheidung – egal wie diese ausfällt – muss professionell begleitet werden
- Die Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung hat direkte Auswirkungen auf die Entscheidungsfindung
- Hohe Abbruchraten verringern zu wollen, ist ein legitimes politisches Ziel – aber durch Sozialpolitik, nicht durch Kriminalisierung
- Die Entwicklungen im Bereich der PND befördern einen konflikthaften Verantwortungstransfer auf die Schwangere
- Die Einführung nicht-invasiver pränataler Tests kommerziellen Unternehmen zu überlassen, ist folgenschwer
- Neutrale Informationen über die medizinisch neuesten Nicht Invasiven Pränataldiagnostischen Tests (NIPTs) sind schwer zugänglich
- Eine von kommerziellen Interessen gesteuerte Informationspolitik unterminiert die informierte Entscheidungsfindung, statt sie zu stärken
- Mit nationalen Gesetzen ist keine wirksame Regulierung der nicht-invasiven Pränataltests zu erreichen
- Der Diskurs über NIPTs befördert defizitorientierte Sichtweisen auf Menschen mit Behinderungen und steht damit im Widerspruch zur UN-BRK
- Ethische Grundsatzdebatten sind mühsam und führen zu keinen einstimmigen Antworten, trotzdem sind sie unentbehrlich
In der abschließenden Podiumsdiskussion mit der Journalistin Kirsten Achtelik und dem Stern-Ressortleiter Wissenschaft Christoph Koch wurde nochmals deutlich, wie hochemotional das Thema ist. Beide Journalisten monierten zwar Defizite in den Thesen. Sie vermissten die Sicht der Kinder und eine zu geringe Berücksichtigung der Vaterrolle. Mit Blick auf die 4. These forderte Achtelik zudem, zwischen kurativer und selektiver Pränataldiagnostik zu differenzieren. Eindruck hinterließ aber die Vielschichtigkeit der Thesen, die auch in Form einer Buchpublikation veröffentlicht wurden.
© Passt ein Rapper zu solch einem ernsten Thema wie Pränataldiagnostik? Ja, wenn er es so macht wie der Künstler Tobias Schirneck in unserem Video. Sehen Sie selbst:
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