Die Neue Radikalität
Substanz und Verfall des politischen Stils / 19. Passauer Tetralog mit Glück, Gottlieb, Lerchenberg, Patzelt und Oberreuter
Passau / Tagungsbericht / Online seit: 20.06.2016
Von: Sebastian Haas
# Gesellschaftlicher Wandel, Ethik
Download: 19. Passauer Tetralog: Die neue Radikalität: Substanz und Verfall des politischen Stils
Die politischen Debatten in der Bundesrepublik liefen über Jahrzehnte relativ gesittet ab. Wo anderswo Tätlichkeiten im Parlament nicht außergewöhnlich waren, galt hierzulande stets das – wenn auch streitbare – Wort. Streit um das Bessere macht die Politik aus. Inzwischen aber hat sich, über den politischen Streit weit hinausgehend, die politische Kommunikation grenzüberschreitend radikalisiert. Oft offenbart sie intolerantes und verächtliches Denken. Dieses Denken drückt sich in einem besonders gehetzten und hetzenden Kommunikations- und Verhaltensstil aus, der öffentliche Diskurs verroht.
Fünf Herren diskutierten beim Passauer Tetralog: (v.l.) BR-Chefredakteur Sigmund Gottlieb, der Politikwissenschaftler Werner Patzelt, der ehemalige Präsident des Bayerischen Landtags Alois Glück, der Schauspieler und Regisseur Michael Lerchenberg sowie Akademie-Altdirektor Heinrich Oberreuter. An die Universität Passau geladen hatten deren Präsidentin Carola Jungwirth und die 1. Vorsitzende des Festspielvereins Rosemarie Weber (Foto: Haas).
Ob wir uns daran gewöhnen müssen und wie Politik und Gesellschaft diesem widerstehen können, war Thema des 19. Passauer Tetralogs der Akademie für Politische Bildung im Rahmen der Festspiele Europäische Wochen. An der Universität Passau diskutierte unser Altdirektor Heinrich Oberreuter mit folgenden Gästen: Alois Glück, ehemaliger Präsident des Bayerischen Landtags; Sigmund Gottlieb, Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks; Michael Lerchenberg, Schauspieler, Regisseur und Intendant der Luisenburg-Festspiele Wunsiedel; Werner J. Patzelt, Professor für Politische Systeme und Systemvergleich an der Technischen Universität Dresden.
Dass auch die Mitarbeiter und Studierenden einer Universität nicht vor politisch radikalen Positionen gefeit sind, musste auch Hausherrin Carola Jungwirth, Präsidentin der Universität Passau, bei ihrer Begrüßung zugeben – und versprach, genau solche Radikalisierungen transparent zu machen und in einen offenen Diskurs einzubinden.
Betont werden nur Defizite der Politik
Alois Glück betonte, dass die Politik der vergangenen Jahrzehnte diesen offenen Diskurs immer gut gepflegt habe – durch leidenschaftliche und konstruktive Diskussion über Sachverhalte. Heute aber dominierten Stimmungen und kaum fassbare Zukunftsängste. Glück betonte, wie irritiert er darüber ist: „Es ist schick geworden, über Politik und Politiker abwertend zu reden, nur deren Defizite zu betonen.“ Die Anforderungen an die eigene Kultur oder den eigenen Glauben könnten diese Pessimisten jedoch nicht bestimmen. Ähnlich sieht das Michael Lerchenberg, der zudem eine vorauseilende political correctness bemerkt – nicht nur in der medialen und politischen Debatte, sondern auch im Verhalten der Kirchen, die seiner Meinung nach in der aktuellen Migrationsdiskussion viel zu passiv agierten. Jeder fordere Toleranz ein, „aber nur für die eigene Meinung“.
Nur der schlimme Gegner ist ein guter Gegner. Werner Patzelt, Politikwissenschaftler (TU Dresden)
Werner Patzelt entdeckt erstens eine Lust auf Radikalität: einen rhetorischen Überbietungswettbewerb und die Pflege von Feindbildern vor allem im Umfeld von PEGIDA und AfD, aber auch bei deren politischen Gegnern. „Nur der schlimme Gegner ist ein guter Gegner“, so beschreibt es der Politikwissenschaftler. Verstärkt werde diese Tendenz durch Herdentriebe, vor allem in der Onlinekommunikation, bei der immer weniger neutrale Beobachter bzw. Vermittler übrig bleiben. So entwickelt sich auf allen Seiten ein Kampf gegen Abweichler, der nach Ansicht Patzelts einem Glaubenskrieg gleicht: „Die Götter kehren in den politischen Diskurs zurück.“ Streitlust wird durch das Ausschließen der Andersdenkenden ersetzt. Bildung, Stil und Esprit – die unabdingbar für den politischen Diskurs sind – kommen in dieser Art der Diskussion nicht mehr vor.
Kein Patriotismus ohne Freiheit
Natürlich fiel im Laufe der Diskussion auch das Schlagwort der „Lügenpresse“. Dieser Vorwurf geht nach Ansicht Sigmund Gottliebs „völlig am Thema vorbei“. Mit Absicht sage kein Journalist die Unwahrheit, betonte der BR-Chefredakteur – doch fehle in der zunehmend komplexen Welt vielen Medienschaffenden der Durchblick. Journalisten aber müssen produzieren, und das immer schneller, und die Folge ist eine oftmals banalisierte, personalisierte und dramatisierte Berichterstattung. Was kann da helfen? Gewissenhaft und transparent arbeiten; Widerspruch zulassen, annehmen und verarbeiten; sich gleichzeitig radikalen bis menschenverachtenden Reaktionen des Publikums entschieden entgegenstellen.
Das Fazit der Diskussion: die Gesellschaft hierzulande wird geprägt durch ihren Pluralismus. Sich widersprechende Meinungen und Lebenseinstellungen, verschiedene Nationalitäten und kulturelle Prägungen bereichern das Leben aller und müssen in den öffentlichen Diskurs einfließen. So betonte Heinrich Oberreuter zum Abschluss einer anregenden Diskussion vor mehr als 250 Zuhörern: „Es gibt keinen Patriotismus ohne Freiheit.“
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