Komplexe Verhältnisse
Dan Diner nimmt beim Akademiegespräch im Landtag die deutsch-israelischen Beziehungen in den Blick
München / Tagungsbericht Akademie-Gespräch / Online seit: 27.04.2016
Von: Sebastian Haas
# Zeitgeschichte
Zwei Damen in Rot luden Dan Diner zum Akademiegespräch in den Bayerischen Landtag ein: Akademiedirektorin Ursula Münch und Landtagspräsidentin Barbara Stamm (rechts/Foto: Rolf Poss/Bayerischer Landtag).
Das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel ist einerseits geprägt vom Zivilisationsbruch der Shoa, andererseits von verbindenden und über Jahrhunderte reichenden Traditionen, Werte und Interessen. Die „rituelle Distanz“ (Dan Diner) beider Länder hat sich seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Jahr 1965 gewandelt; gänzlich aufgelöst ist sie aber noch nicht, trotz enger Zusammenarbeit beispielsweise im Kultur- und Bildungsbereich oder bei den gemeinsamen Regierungskonsultationen.
Beim Akademiegespräch im Landtag ist der Historiker, Rechts- und Politikwissenschaftler Dan Diner der Frage nachgegangen, wie die verschränkte Geschichte das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel geprägt hat. Dieser Blick zurück ist der Schlüssel für das Verständnis der gegenwärtigen Beziehungen in einer von Unsicherheit, kulturellen und von Ressourcenknappheit geprägten Welt - das betonten bei der Begrüßung der etwa 220 Gäste im Maximilianeum sowohl Landtagspräsidentin Barbara Stamm als auch Akademiedirektorin Prof. Dr. Ursula Münch. Beide wiesen darauf hin, dass auch die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Bayern und Israel (und die persönlichen ihrer Bewohner) florieren.
Doch der Blick auf die Tagespolitik offenbart, wie ambivalent, wie komplex die Verhältnisse zugleich sind: die Meinungen in Bezug auf die Flüchtlingskrise, auf die Iran-Politik oder auf die Siedlungspolitik Israels im Westjordanland bzw. den Golanhöhen gehen diametral auseinander. Gleichzeitig sprechen sich immer mehr Deutsche dafür aus, in der Bewertung der aktuellen Politik weniger Rücksicht auf die längst vergangenen Gräuel des Nationalsozialismus zu nehmen.
Lange galt: keine Sühne denkbar
Dass das Gedenken an den Holocaust zentraler Bestandteil der deutsch-israelisch-jüdischen Beziehungen war, ist und bleiben muss, war eine der Kernaussagen des Vortrags von Professor Dan Diner von der Hebräischen Universität Jerusalem. Diner beschrieb ausführlich und tiefgehend, in welcher Spannungslage sich nach dem Zweiten Weltkrieg erste Beziehungen zwischen der jungen Bundesrepublik Deutschland und dem jungen Staat Israel abspielten. So wurde das Luxemburger Abkommen vom 10. September 1952 - eine Art Sühneleistung für Verbrechen in deutschem Namen - in frostiger Atmosphäre, einer "Choreographie des Schweigens", unterzeichnet.
- In Israel war zu diesem Zeitpunkt alles, was mit Deutschland und Deutschsein zusammenhing, vollkommen inakzeptabel - selbst wenn es die eigene, persönliche Vergangenheit war; eine mögliche finanzielle Entschädigung für das, was im Namen des Nationalsozialismus geschehen war, galt als Blutgeld.
- Die deutsche konnte andererseits Delegation die israelische Haltung, dass "keine Sühne denkbar" sei, nicht billigen.
- Auf Fotos ist zu sehen, dass sich keiner der Verhandelnden, auch nicht Bundeskanzler Konrad Adenauer oder der israelische Außenminister Moshe Sharett, in die Augen schaut; man kommunizierte über Dolmetscher in englischer Sprache, obwohl praktisch alle Mitglieder der israelischen Delegation als deutsche Juden aufgewachsen waren.
- So war das Luxemburger Abkommen innenpolitisch sowohl in der Bundesrepublik als auch in Israel hoch umstritten.
Auch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Staaten im Mai 1965 bezeichnete Dan Diner eher als Flucht nach vorne denn als eine Vernunfts- oder gar Herzensentscheidung - im Vorfeld waren Lieferungen der deutsche Rüstungsindustrie an Israel bekannt geworden. "So bleibt es auch heute ein äußerst ambivalentes Verhältnis", meint Diner, und schlug zum Abschluss seines Vortrags die Brücke in die Gegenwart. So erwecke das derzeitige Agieren der Bundesregierung den Anschein, dass man sich gleichsam an der deutschen Vergangenheit abarbeite. Zugleich befürchtet Diner, dass sich die derzeitige Migrationsbewegung negativ auf das jüdische Leben in Europa auswirken kann: zum einen, weil sich der Großteil der europäischen Staaten zunehmend gegen das scheinbar Fremde abschotte; zum anderen, weil der Großteil der Flüchtenden nicht über das (kollektive) Gedächtnis an den Völkermord an den Juden Europas verfüge. Das Verhältnis zwischen Israel, Deutschland und Europa und all den Bewohnern - es bleibt komplex.
Unser Redner im Bayerischen Landtag
Professor Dan Diner, geboren in München, ist ein Grenzgänger zwischen den Disziplinen, den Kulturen und den Perspektiven auf Vergangenheit und Gegenwart. Er untersucht das Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis und setzt sich mit den Verschränkungen verschiedener historischer Entwicklungen auseinander. Diner wurde mit einer Dissertation zum Völkerrecht in Frankfurt am Main promoviert; 1980 folgte die Habilitation im Fach Politikwissenschaft mit einer Arbeit zu den israelisch-palästinensischen Konfliktstrukturen. Ab 1985 war er Lehrstuhlinhaber für Außereuropäische Geschichte an der Universität Essen und seit 1988 zudem Professor für europäische Geschichte an der Tel Aviv University – dort leitete er von 1994 bis 1999 das Institut für Deutsche Geschichte. Danach war Diner bis 2014 Professor an der Universität Leipzig und dort Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur e.V. Seit 2001 lehrt und forscht er zudem als Professor für Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Weitere Informationen
Dan Diners aktuelles Buch: Rituelle Distanz - Israels deutsche Frage
Ein Dossier der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Luxemburger Abkommen von 1952
Gemeinsame Erklärung der deutschen und israelischen Regierung zu den aktuellen Konsultationen
Die Vertretung des Freistaats Bayern in Israel
Das Generalkonsulat des Staates Israel in München
Die Homepage der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern
News zum Thema
Russlands Verbrechen in der Ukraine
Gerhart Baum über die Aktualität der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
Tagungsbericht, Tutzing, 28.11.2023
© Amelie Wimmer
Russlands Fluch des Imperiums
Von Peter dem Großen bis zum Angriff auf die Ukraine
Tagungsbericht, Tutzing, 06.10.2023
© Konstantin Hadzi-Vukovic
The Great Game
Russlands und Großbritanniens Spiel um die Vormacht in Zentralasien
Tagungsbericht, Tutzing, 08.07.2022
© Julia Götzel
Die Instrumentalisierung der Erinnerung
Wie Russland und Polen die eigene Geschichte lenken
Tagungsbericht, Tutzing, 04.04.2022
© iStock/Diy13
Das Leben an der Heimatfront
Frauen und Familien in den Weltkriegen
Tagungsbericht, Tutzing, 25.11.2021
© Carla Grund genannt Feist
Musik. Macht. Politik.
125 Jahre Münchner Philharmoniker – Partituren deutscher Geschichte
Tagungsbericht, Tutzing, 23.09.2018
Foto © Probe in der zerstörten Tonhalle 1946 / Quelle: Münchner Philharmoniker
"Die Leute halten das aus"
Verfilmte Zeit und überlange Produktionen: Josef Bierbichler spricht beim Filmgespräch am See mit Dominik Graf
Kultur, Tutzing, 09.09.2018
Knittls Häuser erzählen Geschichten
Buchvorstellung zum Bauen und Architektur in Tutzing seit Mitte des 19. Jahrhunderts
Kultur, Tutzing, 21.06.2018
Foto © APB Tutzing
"Frau Abgeordnete, Sie haben das Wort!"
Ausstellung noch bis 9. Mai in der Akademie zu sehen
Kultur, Tutzing, 28.04.2018
Foto © Bayerischer Landtag / eigene Collage
Buchheim 100
Lothar-Günther Buchheim zwischen Fiktion und Realität / Journalist Gerrit Reichert über den umstrittenen Kunstsammler
Akademie-Gespräch Tagungsbericht, Tutzing / Bernried, 25.04.2018
Foto © Diethild Buchheim, Buchheim Museum der Phantasie, Bernried am Starnberger See