Nazizähler und Freiheit der Wissenschaft
Wie arbeiten wir unsere NS-Vergangenheit auf? Welche Rolle spielt die Forschung? Wissenschaftler diskutieren
Unsere Tagung zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit der Bundesrepublik bot Anlass für viele Diskussionen - im Vordergrund der Kunsthistoriker Christian Fuhrmeister vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte München (Foto: Haas).
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 24.03.2016
Von: Sebastian Haas
# Nationalsozialismus, Zeitgeschichte
Download: Endlich genug von Hitler? Aktuelle Debatten zur Vergangenheitsaufarbeitung
Zunächst bestimmte der Blick des Auslands auf die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung die Veranstaltung. Arnd Bauerkämper von der Freien Universität Berlin berichtete, wie der Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit in anderen europäischen Staaten mit Respekt gesehen würde. Dies dürfe jedoch nicht dazu führen, dass man in Deutschland in einen „Sündenstolz“ verfalle. Professor William Niven von der Nottingham Trent University blickte mit britischen Augen auf die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung und bemerkte:
- Das genaue Ausleuchten, die offene Konfrontation mit dem eigenen Unrecht, in deren Zentrum weiterhin der Holocaust steht, geht weiter – wenn auch unter veränderten Voraussetzungen.
- Insbesondere verzichte die Erinnerungskultur in Deutschland immer mehr auf moralisierende Elemente.
- Niven entdeckt ein Grundvertrauen in der Gesellschaft, mit der Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit verantwortungsvoll umgehen zu können. Angesichts der aktuellen innenpolitischen Entwicklungen in Hinblick auf den Rechtspopulismus in Deutschland aber müsse er darüber nachdenken, „ob diese Einschätzung nicht zu positiv ist“.
Jeffrey Herf glaubt sogar, dass gerade weltweit grundlegende Konsequenzen der Vergangenheitsaufarbeitung in Frage gestellt werden – in Bezug auf Deutschland meint der Professor von der University of Maryland den Schutz des Staates Israel. Die europäische Zivilisation sei bereits einmal zusammengebrochen, bemerkte Herf, das könne ein zweites Mal passieren, wie ja auch das weltweite Bekriegen nach 1945 wahrlich nicht aufgehört habe. Umso bemerkenswerter sei die deutsche Vergangenheitsbewältigung seit dem Zweiten Weltkrieg verlaufen.
Vergangenheitsaufarbeitung sichert Existenzen
Für einen Schwerpunkt der Tagung sorgten Mitglieder von Historikerkommissionen, die ihre Arbeit und Ergebnisse zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zur Diskussion stellten. Professor Constantin Goschler von der Ruhr-Universität Bochum ist mitverantwortlich für das Projekt „Organisationsgeschichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz 1950 bis 1975 unter besonderer Berücksichtigung der NS-Bezüge früherer Mitarbeiter in der Gründungsphase“. Burghard Ciesla arbeitete für die „Unabhängige Wissenschaftliche Kommission beim Bundesministerium der Justiz zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit“, der sogenannten Rosenburg-Kommission. Beide berichteten darüber, dass die Arbeit dieser Kommissionen medial oft als eine Jagd „nach den meisten oder den schlimmsten Nazis“ dargestellt werde – was der akribischen, detailgenauen und unaufgeregten Arbeit eines Historikers kaum entspricht.
Inzwischen hat die Aufarbeitung der Vergangenheit öffentlicher Institutionen einen breiten Raum innerhalb der zeitgeschichtlichen Forschung eingenommen. Sie ist in den Worten Constantin Goschlers „zu einer systemrelevanten Größe geworden“, die auch auf die Personalpolitik von Lehrstühlen und Instituten Einfluss hat und im Gegensatz zum Einwerben von Drittmitteln oft wenig transparenten Kriterien folgt – da genügten manchmal ein, zwei Tassen Kaffee mit dem richtigen Ansprechpartner, um an Gelder zu kommen.
Ebenso thematisiert wurden bei unserer Tagung in Zusammenarbeit mit dem IfZ die Vergangenheit der Bundesministerien für Wirtschaft sowie für Ernährung und Landwirtschaft, die Vergangenheit des Bundestages, der Bundesbank und des Bundesnachrichtendienstes. Renommierte Forscher berichteten darüber hinaus über Verlage und Journalisten, Film und Fernsehen als vergangenheitspolitische Akteure sowie über Kunstraub, Provenienzforschung und Restitution.
Beschneiden Auftragsarbeiten die wissenschaftliche Freiheit?
Den Abschluss unserer Tagung bildete eine Podiumsdiskussion darüber, wie die allgegenwärtige Auftragsforschung die Geschichtswissenschaft verändert. Das Grundproblem der Auftragsforschung, so Ulrike Jureit vom Hamburger Institut für Sozialforschung bestehe darin, dass hierbei drei Logiken aufeinanderträfen:
- eine wissenschaftliche Logik der historischen Forschung mit ihren Standards und ihrem Willen, valide Ergebnisse zu produzieren, die intersubjektiv überprüfbar und in der wissenschaftlichen Debatte weiterzuentwickeln seien;
- eine politisch-legitimatorische Logik der Auftraggeber, die an einem öffentlichkeitswirksamen und möglichst endgültigen Ergebnis interessiert seien; sowie
- einer medial-öffentlichen Logik, die auf Informierung der Öffentlichkeit, auf Skandalisierung und notwendige Vereinfachung setze. Diese Interessen widersprächen sich in Teilen.
Dem stimmte Eckart Conze von der Universität Marburg zu. Seiner Ansicht nach müsse sich die Geschichtswissenschaft eine Reihe kritischer Fragen stellen: Werde durch die Auftragsforschung die wissenschaftliche Freiheit in Frage gestellt? Werde die Forschung thematisch in bestimmte Richtungen geleitet? Werde Forschung politisch gesteuert? Die Historikerschaft stehe aber, so Conze resümierend, vor der Herausforderung, aus dem aktuellen politischen und erinnerungskulturellen Impetus einen wissenschaftlichen Nutzen zu schlagen.
Weitere Informationen
Die Projekthomepage zur Aufarbeitung der Verfassungsschutz-Vergangenheit
Dr. Michael Mayer
Tel: 08158 / 256-45
m.mayer@apb-tutzing.de
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