25 Jahre Deutsche Einheit

Eine wirtschaftliche und soziale Bilanz

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 14.09.2015

Von: Teresa Rupp

# Zeitgeschichte

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Am 1. Juli 1990 prophezeite der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl anlässlich des Inkrafttretens der gemeinsamen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion Ostdeutschland werde sich in „blühende Landschaften“ verwandeln. Die Hoffnung auf Demokratie, Freiheit und materiellen Wohlstand war groß. Doch hat sich dieser Traum erfüllt? 25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen.

"Es war keine Wende, sondern eine Revolution. Es waren dramatische, fundamentale Veränderungen", betonte der ehemalige Leiter der außenpolitischen Abteilung des Bundeskanzlers, Professor Horst Teltschik. Trotz allem war zumindest von wirtschaftlichem Aufschwung in der Zeit nach der Wiedervereinigung wenig zu spüren. 1990 brach die ostdeutsche Industrie um 60 Prozent ein. Die Exporte in RGW-Staaten, also in die Mitgliedsländer des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe, dem sozialistischen Pendant zum Marshall-Plan, gingen massiv zurück. Für Exporte in den Westen fehlte es jedoch an preislicher und qualitativer Wettbewerbsfähigkeit.

Deutschland in der Transformation

Den Wirtschaftswandel in Ostdeutschland von der Zentralverwaltungswirtschaft hin zur Marktwirtschaft bezeichnete Professor Piotr Pysz von der Hochschule für Finanzen und Management in Bialystok als "importierte Transformation". Es sei eine Mischung aus ökonomischer Schocktherapie und sozialpolitischem „goldenen Handschlag“ gewesen. Im Zuge der Wirtschafts- und Währungsunion wurden Geldvermögen und Schulden im Verhältnis zwei zu eins, Löhne, Renten und Preise dagegen im Tauschverhältnis eins zu eins in Westmark gewechselt. Dies führte zu einem impliziten Aufwertungseffekt der DDR–Mark von mehr als 400 Prozent. Piesz argumentiert dieses „institutionelle Geschenk“ der BRD habe in Kombination mit dem Angebotsschock seitens westdeutscher Industrien zur Deflation geführt. „Der Absatz am Binnenmarkt kollabierte, weil die Ostdeutschen nur noch Westwaren mit Westgeld kauften“, meinte auch Professor Peter Hampe von der Hochschule für Politik in München. 41 Jahre Mangelwirtschaft haben die ostdeutsche Bevölkerung geprägt. 1990 ist die DDR nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich am Ende.

Ostdeutschland vor der Wende

Das Produktionsniveau in Ostdeutschland beträgt zur damaligen Zeit nur 30 Prozent im Vergleich mit dem Westen. Auch das Lohneinkommen ist deutlich niedriger. Durch den Verzicht auf Marktpreise und Wettbewerb bestimmen Versorgungsmängel und unverkäufliche Ladenhüter das Marktangebot. "Der Verzicht auf Wettbewerb war wirtschaftlicher Selbstmord", stellte Hampe fest. Die Abschottung vom Weltmarkt und die geringen Leistungsanreize führten dazu, dass in der DDR die technologische Lücke weiter wuchs. Auch bei Unwirtschaftlichkeit wurden Unternehmen staatlich subventioniert, Beschäftigte konnten nicht entlassen werden. Der vorhandene Kapitalstock unter anderem an Wohnhäusern und Infrastruktur wurde nicht in Stand gehalten. Man lebte von der Substanz. Die Folgen sind bis heute zu spüren.

Ost- und Westdeutschland heute

"Die Lücke im Wohlstandsniveau ist relativ gleich geblieben", beobachtete Professor Joachim Ragnitz vom ifo-Institut Dresden. Auch heute sind die Arbeitslosenzahlen in den neuen Bundesländern höher und das Vermögen niedriger. Letzteres war zu DDR-Zeiten ausgesprochen schwierig zu akkumulieren, da es keine privaten Unternehmen gab.
Die Lücke im Bruttoinlandsprodukt zwischen West- und Ostdeutschland hat sich laut Ragnitz lediglich um zwei Prozent geschlossen. Verantwortlich für diese Konvergenzfortschritte in den neuen Bundesländern sei jedoch eher der Bervölkerungsrückgang als ein höheres Wirtschaftswachstum. Die seit der Wiedervereinigung andauernd niedrigen Geburtenraten und die hohe Abwanderung in den Westen Deutschlands, insbesondere von jungen qualifizierten Frauen, stellte Ostdeutschland zunehmend vor große Herausforderungen wie Fachkräftemangel und Kaufkraftverluste.

Auch auf die politische Einstellung wirkte sich die wirtschaftliche Situation aus. Angesichts hoher Arbeitslosenzahlen und ansteigender Mieten kam es bereits 1993 zu einer Welle der "Ostalgie", also DDR-Nostalgie. "Aus der Berufsfähigkeit hatten viele Menschen ihr Selbstwertgefühl gezogen", erklärte Dr. Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin. Es sei zu einer gefühlten Entwertung als "Deutsche zweiter Klasse" gekommen. Und auch der Männerüberschuss trug seinen Teil zur gesellschaftlichen Stimmung bei. "Das rechtsradikale Wahlverhalten hat mit dem Männerüberschuss korreliert", bestätigt Dr. Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
Auch heute macht Ostdeutschland Schlagzeilen durch rechtsorientierte Bewegungen wie Pegida, die vor einer vermeintlichen „Islamisierung“ durch Zuwanderung warnt. Doch es ist genau die Zuwanderung, die die neuen Bundesländer brauchen, um der demographischen Entwicklung entgegenzuwirken.

Zuwanderung als Chance

"Auch 25 Jahre nach der Wende ist der Migrantenanteil in Ostdeutschland sehr niedrig. Dort, wo die größten Proteste gegen Zuwanderung sind, herrscht der größte Bedarf", stellte Klingholz fest. Ein Paradox. Doch wie kann hier Abhilfe geleistet werden? Frank Richter, Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, ist überzeugt: „durch reden, kommunizieren.“ Er warnte: "Kommunikation kann schiefgehen, Nicht-Kommunikation wird schiefgehen. Aus Mitläufern dürfen keine Mittäter werden." Ängste müssten offen ausgesprochen werden dürfen, Deutschland müsse dafür aber auch seine humanitäre Verantwortung im öffentlichen Diskurs deutlicher kommunizieren. Darüberhinaus sei auch der Rechtsstaat in der Pflicht. Es dürfe keine rechtsfreien Räume wie im Internet geben.


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