Über Brücken – 25 Jahre Deutsche Einheit
18. Passauer Tetralog mit Marianne Birthler, Reiner Kunze, Bernhard Vogel und Hans-Jochen Vogel
Brücken und 25 Jahre Deutsche Einheit - das Thema der vier Diskutanten beim 18. Passauer Tetralog moderiert von Heinrich Oberreuter
Passau / Tagungsbericht / Online seit: 22.06.2015
Von: Sebastian Haas
# Zeitgeschichte
Diese Veranstaltung hat Tradition: In Zusammenarbeit mit den Festspielen Europäische Wochen Passau und der Universität Passau hat die Akademie für Politische Bildung den mittlerweile 18. Passauer Tetralog veranstaltet. Nach dem Motto der diesjährigen Festspiele „Über Brücken – überbrücken” diskutierten Marianne Birthler, Reiner Kunze, Bernhard Vogel und Hans-Jochen Vogel mit Akademie-Altdirektor Heinrich Oberreuter über die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen und Folgen der Deutschen Einheit.
Eine ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin, ein vom SED-Regime drangsalierter Schriftsteller, ein ehemals west-und-ostdeutscher Ministerpräsident sowie ein ehemaliger mehrfacher Bundesminister – das Podium zur Diskussionsrunde „25 Jahre Deutsche Einheit” war mit prominenten Zeitzeugen besetzt. So füllte sich auch das „Kleine” Audimax der Universität Passau mit etwa 150 interessierten Zuhörern.
Die DDR - ein Unrechtsstaat
Schnell kreiste die Diskussion um die Bezeichnung der DDR als Unrechtsstaat – und hier waren sich alle Podiumsgäste einig. „Die DDR ist schon als Unrechtsstaat gegründet worden mit dem Ziel, den Osten Deutschlands zu sowjetisieren“, erklärte Reiner Kunze. Hans-Jochen Vogel ergänzte, dass ein Blick in die Staatsverfassung genüge, um dies festzustellen. „Der Alleinvertretungsanspruch einer Partei ist ein Unrecht.“ Auch Bernhard Vogel stimmte dem zu: „Der Staat, der seine Grenzen nach allen Seiten vor Ein- und Ausreise sichert und keine Meinungs- und Pressefreiheit zulässt, ist ein Unrechtsstaat.“ Warum aber, fragte Marianne Birthler, stellen sich so viele Ostdeutsche noch heute gegen diesen Begriff? Fühlen sie sich in ihrem eigenen Leben und Wirken abgewertet? „Es ging für die meisten darum, in einem Unrechtssystem die eigene Integrität zu verteidigen und aufrecht durchs Leben zu gehen“, erklärte Birthler. „Und wenn man nach 40 Jahren staatlicher Trennung plötzlich nicht mehr verschieden sein darf, wenn man eine immense Entwicklung in Sachen Meinungsfreiheit, Technik und Mitbestimmung nachholen muss, erzeugt das nicht nur ein Gefühl von Glück, sondern auch von Scham.“
Kam die Wiedervereinigung zu schnell?
Dass die Deutsche Einheit von 1990 auch nach 25 Jahren nicht komplett abgeschlossen sein kann, liegt auf der Hand. Eine Vereinheitlichung ist in einem föderalistisch organisierten Staat wie der Bundesrepublik aber auch nicht gewollt. Dennoch müssen sich die Politiker von damals auch heute noch Fragen gefallen lassen: Kam die Wiedervereinigung zu schnell? Hat man den Bürgern der DDR die Möglichkeit genommen, eine neue Verfassung für ihren Staat aufzubauen, oder bei einer Überarbeitung der Bundesverfassung mitzureden?
Zum schnellen Tempo der Wiedervereinigung habe es keine Alternative gegeben, erläuterte Bernhard Vogel. Nur mit Gorbatschow, Jelzin, Bush, Kohl und Thatcher am Verhandlungstisch sei die Einheit möglich gewesen. Zudem habe die Volkskammer der DDR nach den Wahlen vom Frühjahr 1990 erheblichen Zeitdruck aufgebaut. Mit einer Deutschen Wiedervereinigung bereits am 3. Oktober 1990 hätte in Ostdeutschland „noch ein Jahr zuvor niemand gerechnet“, erklärte Marianne Birthler. „Wir waren uns nur einig darüber, was wir hinter uns lassen wollten. Das Ziel der sich anbahnenden Veränderungen war die Freiheit.“ Auch Birthler konnte sich eine schnelle Wiedervereinigung zunächst kaum vorstellen, erkannte als Abgeordnete des Bündnis 90 in der Volkskammer der DDR aber: Sie war nicht mehr aufzuhalten. Alternativen zur Vorgehensweise von damals und auch zu den Vertragsinhalten kann sie sich auch heute noch einige vorstellen: Hätte man zum Beispiel nicht auch Übergangszeiten für die verschiedenen Systeme im Gesundheitswesen oder bei der Kinderbetreuung zulassen können, um sich nach ein paar Jahren für eines der beiden oder ein Mischsystem zu entscheiden?
So entwickelte sich eine angeregte und mit Anekdoten gespickte Diskussion über parteipolitische Gegebenheiten rund um Mauerfall und Deutsche Einheit sowie über kulturelle und wirtschaftliche Unterschiede zwischen Ost und West, Nord und Süd, Bayern und Ostfriesen. „Vor allem aber“, das forderte Hans-Jochen Vogel, „sollten wir gelegentlich auch ein Gefühl der Dankbarkeit über die Wiedervereinigung zeigen. Wenn mir 1945 – in amerikanischer Kriegsgefangenschaft – einer die Entwicklung in Deutschland bis heute vorausgesagt hätte, hätte ich geglaubt, der macht sich über mich lustig.“
Die Wiedervereinigung als Generationenfrage
Ungeachtet all dessen wurde beim Passauer Tetralog eines deutlich: Die Beurteilung der Wiedervereinigung ist vor allem eine Generationenfrage. Inzwischen fühlen sich zwei Drittel der Deutschen im Alter bis 30 in ihrer Heimat tatsächlich heimisch – ein respektabler Wert. Wenn daraus nun auch ein Verantwortungsgefühl für die parlamentarische Demokratie hierzulande wird, sollte einem um das Erbe der Deutschen Einheit von 1990 nicht bange werden.
Grußworte zum 18. Passauer Tetralog sprachen Rosemarie Weber, die Vorstandvorsitzende der Festspiele Europäische Wochen Passau und der Präsident der Universität Passau, Prof. Dr. Burkhard Freitag.
Die Teilnehmer der Diskussion
Marianne Birthler, 1948 in Berlin geboren, gründete 1986 den Arbeitskreis „Solidarische Kirche“ mit, der auf eine Demokratisierung von Kirche und Gesellschaft in der DDR setzte. Als Mitglied von Bündnis 90 gehörte sie der letzten Volkskammer und dem ersten gesamtdeutschen Bundestag an. 1990 in den Landtag von Brandenburg gewählt, leitete sie dort das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport. Aus Protest gegen die Stasi-Vergangenheit des damaligen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe trat sie 1992 zurück. 2000 folgte sie Joachim Gauck im Amt des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes nach, das sie bis 2011 innehatte.
Reiner Kunze (geboren 1933) studierte Philosophie und Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig. 1968 trat er aus Protest gegen die Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten aus der SED aus und stand hinfort im Visier der Staatssicherheit. „Deckname: Lyrik“ (1990 erschienen) dokumentiert Auszüge aus seinen Akten. Der im Westen erschienene, SED-kritische Prosaband „Die wunderbaren Jahre“ (1976) führte zum Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR – ein Berufsverbot. Von Haft bedroht, stellte Kunze 1977 für sich und seine Familie den Antrag auf Ausbürgerung und Ausreise. Er ließ sich in Erlau bei Passau nieder. Seine kritische Position gegenüber dem DDR-Sozialismus brachte ihm auch im Westen Anfeindungen ein.
Bernhard Vogel wurde 1932 in Göttingen geboren. 1965 direkt in den Bundestag gewählt, wurde er 1967 Kultusminister in der Landesregierung von Rheinland-Pfalz. Dem Landtag gehörte er von 1971 bis 1988 an. Als Nachfolger von Helmut Kohl war er von 1976 bis 1988 Ministerpräsident und praktisch zeitgleich Vorsitzender des CDU-Landesverbandes Rheinland-Pfalz. Von 1992 bis 2003 war Bernhard Vogel Ministerpräsident des Freistaates Thüringen und leitete von 1994 bis 2000 auch den dortigen Landesverband. Außerdem war er von 1989 bis 1993 und von 2001 bis 2009 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und von 1972 bis 1976 Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken.
Hans-Jochen Vogel wurde 1926 in Göttingen geboren und trat 1952 in den bayerischen Staatsdienst ein, wo er unter anderem in der Staatskanzlei tätig war. Dort hat er das Gesetz zur Errichtung der Akademie für Politische Bildung entworfen. Zwischen 1960 und 1972 bekleidete er das Amt des Oberbürgermeisters von München. In den Bundestag (1972-1981 und 1983-1994) gewählt, bekleidete er von 1972 bis 1981 die Ämter des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau sowie des Bundesministers für Justiz. 1981 wurde er Regierender Bürgermeister von Berlin und war dort bis 1983 Mitglied des Abgeordnetenhauses. Von 1987 bis 1991 war Vogel zudem SPD-Bundesvorsitzender.
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