Regionalparteien nach der Europawahl
Wissenschaftler und der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher zur regionalen Interessenvertretung
Welchen Handlungsspielraum, welche Bedeutung und welches Selbstverständnis haben Regionalparteien heute in Europa? Diese Frage haben namhafte Wissenschaftler und der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher (im Bild) an der Akademie für Politische Bildung diskutiert.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 25.10.2014
Von: Sebastian Haas
# Internationale Politik, Bayern, Parlamente Parteien Partizipation, Regionalismus
Download: Regionalparteien nach der Europawahl: Selbstverständnis, Handlungsspielräume und Bedeutung
Regionalparteien sind vielfältig: manche wollen kulturelle Eigenheiten bewahren, andere streben nach Autonomie oder Unabhängigkeit für ihre Region. Und doch sind sie alle eingebunden in den Kontext des jeweiligen Staates und der EU. Bei der Tagung „Regionalparteien nach der Europawahl: Selbstverständnis, Handlungsspielräume und Bedeutung“ hat die Akademie für Politische Bildung Tutzing gemeinsam mit der Hanns-Seidel-Stiftung und dem Europäischen Zentrum für Föderalismus-Forschung das breite Spektrum europäischer Regionalparteien aufgezeigt.
Regionale Interessenvertretung in einen zunehmend nationalstaatlich-egoistischen Europa – das war das Thema des Südtiroler Landeshauptmanns Arno Kompatscher, der zum Akademiegespräch am See nach Tutzing kam. Gut 80 Gäste hörten, wie ein nachdenklicher und reflektierter Politiker die Situation in Südtirol schilderte. Dort ist im Zuge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise die Diskussion um eine Unabhängigkeit Südtirols von Italien wieder voll entbrannt; denn der Zentralstaat hatte im Zuge seiner Sparmaßnahmen achtmal mehr Geld aus Südtirol abgezogen als versprochen. Die Sezessionisten sind nun eine ernstzunehmende Konkurrenz für Kompatscher und seine seit Jahrzehnten regierenden Südtiroler Volkspartei (SVP), die es nach seinen Worten „versäumt hat, eine Vision über die erreichte Autonomie hinaus zu entwickeln“.
Europäische Visionen des Südtiroler Landeshauptmanns
Welche Möglichkeiten hat Südtirol nun, seine Interessen wirksam zu vertreten? Kompatscher machte in der Akademie für Politische Bildung Tutzing deutlich: alleine geht es nicht, Kleinsteinheiten können in der globalisierten Welt weder wirtschaftlich noch demografisch überleben. Wenig optimistisch ist er aber in Bezug auf eine intensive Zusammenarbeit mit den anderen Regionen Italiens. Die wollen sich von dem privilegierten Prozent der deutschsprachigen Südtiroler nichts vorschreiben lassen, oder sind nicht interessiert oder fähig, überhaupt zusätzliche Kompetenzen zu übernehmen. Bleibt nur die europäische Ebene: transnationale Zusammenarbeit in der Achse Trentino-Tirol-Südtirol, eine Stärkung des Ausschusses der Regionen, EUREGIO, direkte Wege in die Europäische Union, möglicherweise eine Übertragung von Souveränitätsrechten an neue transnationale Institutionen. Doch sind solche Projekte im System einer europäischen Politik der multi-governance schwerer zu vermitteln als einfache Parolen nach Unabhängigkeit. Oder in den Worten Kompatschers gefragt: „Wie soll man jemandem vor der Wahlurne erklären, dass es sich lohnt, für europäische Laborprojekte das Kreuz zu machen?“
Italien: Zweckbündnisse mit Erpressungspotenzial
Zwischen territorialer Abgrenzung und Anpassung an die Zentralregierung positionieren sich überhaupt die Regionalparteien in Italien. „Sie sind vor allem im Norden stark, gehen Zweckbündnisse mit nationalen Akteuren ein haben ein großes Koalitions- und Erpressungspotenzial, solange das italienische Parteiensystem so instabil ist wie derzeit“, erläuterte Greta Klotz von der Europäischen Akademie Bozen. So ist die rechtspopulistische Lega Nord seit Jahren ein fixer Bestandteil der gesamtstaatlichen Politik und war stets ein notwendiger Partner für Silvio Berlusconi. Und obwohl sich die Mitglieder der Südtiroler Volkspartei (SVP) seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für die Weiterentwicklung der Autonomie ihrer Heimat einsetzen, hält sie das nicht davon ab, die derzeitige Nationalregierung von Matteo Renzi zu stützen. Ähnlich gestaltet sich die Situation – das war das Thema von Martin Brusis von der LMU München – übrigens in Rumänien und der Slowakei, wo die ungarischen Magyaren seit Ende der 90er-Jahre regelmäßig mitregieren.
Von Bayern in Berlin und „Gesinnungsdänen“
In Deutschland sind Regionalparteien ein untypisches und vor allem unterschiedlich ausgeprägtes Phänomen. Professor Roland Sturm von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg erläuterte unter anderem die Rolle der CSU als „unechte“ Regionalpartei, in der es schon konkurrierende Machtzentren gab (als Waigel in Bonn und Stoiber in München wirkten) und in der tatsächlich die bundespolitische Reformpolitik schon das typisch Bayerische dominierte (als Stoiber Kanzler werden wollte). Unter Parteichef und Ministerpräsident Horst Seehofer lautet die Linie nun: Bayern fördern, Berlin (heraus)fordern. Als „camouflierte“ Landespartei bezeichnete Sturm den Südschleswigschen Wählerverband SSW. Dieser kann sich als sozialdemokratische, dänisch-friesische Interessenvertretung nur im Landtag von Schleswig-Holstein halten, weil für ihn die Fünf-Prozent-Klausel nicht gilt. Und obwohl man eine ethnische Minderheit in einer bestimmten Region repräsentiert, macht man mittlerweile Politik im und für das ganze Bundesland.
Großbritannien: Über Regionalparlamente nach Europa
Ein per se merkwürdiger Fall, den Professorin Nathalie Behnke von der Universität Konstanz vorstellte, ist das Vereinigte Königreich. In Großbritannien gibt es erst seit der devolution von 1998 Regionalparlamente, nur im Kernland England gibt es ein solches nicht. Die Regionalparteien Großbritanniens sind keine mit dem alleinigen Ziel einer größeren Unabhängigkeit, sondern haben konsequent die „sozialdemokratische Lücke“ geschlossen, die Tony Blairs New-Labour-Politik – ähnlich der Reformpolitik Gerhard Schröders in Deutschland – hinterlassen hatte. In Nordirland fordert Sinn Féin die Eingliederung in die Republik Irland, ist mittlerweile die zweitstärkste Partei, an Koalitionsregierungen im Regionalparlament beteiligt und schickt Europaabgeordnete nach Brüssel. Ähnlich gelingt dies der Plaid Cymru in Wales und in viel größerem Maße der Scottish National Party. Der SNP genügte bekanntermaßen der derzeitige autonome Status Schottlands nicht. Über Organisation, Hintergründe und das letztliche Scheitern des Referendums um die Unabhängigkeit am 18. September 2014 können Sie sich auf den Internetseiten der YES- oder bettertogether-Kampagnen informieren.
Frankreich: Benachteiligte Regionalparteien
Stefan Seidendorf vom Deutsch-Französischen Institut Ludwigsburg beantwortete die Frage, warum es in Frankreich fast keinen politisch relevanten Regionalismus gibt. Lediglich acht Regionalparteien gibt es in den verschiedenen französischen Grenzregionen, mit wenig Mitgliedern, strukturell benachteiligt durch das französische Wahlrecht und vor allem das festgefügte Bild der grande nation. Sie können nur erfolgreich sein, wenn sie sich wie bei den Europawahlen 2009 in einem Verband (régions et peuples solidaires) vereinen und zusätzlich mit den Grünen zusammentun. Eine identitäre („wir gegen sie“) oder ökonomische (Wohlstand nur für uns) Abgrenzung übernimmt bereits der Front National (FN) sehr erfolgreich; da aber die französischen Regionalisten meist sehr dezente und demokratisch gefestigte Köpfe sind, ist der FN für sie wohl nicht weiter attraktiv.
Chaos auf dem Balkan
Auf dem Balkan gestalten sich heute die Parteiverhältnisse ähnlich komplex wie die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte. Thomas Brey, Leiter des Regionalbüros Südosteuropa der Deutschen Presse-Agentur, brachte zwar Licht ins Dunkel, doch boten seine Ausführungen Anlass für jede Menge Skepsis: In Bosnien-Herzegowina arbeiten die Volksgruppen gegeneinander; in Serbien organisieren sich Ungarn, Albaner und Bosnier gegen die Zentralregierung und gegeneinander; in Mazedonien boykottieren die Slawen das Parlament, die Albaner drohen mit Abspaltung an das ersehnte Großalbanien; Montenegro ist per se innerlich zerrissen; in Slowenien traut die Bevölkerung keiner etablierten Partei mehr über den Weg; „im Kosovo läuft’s schief, Kroatien ist ein schwerer Fall, Albanien blockiert sich selbst, überall Korruption und Orientierung an Führungsfiguren und Oligarchen“. Da auch EU und westliche Diplomatie in diesem Chaos keine gute Figur abgeben (können), bleibt der Balkan ein politisches, soziales und militärisches Pulverfass.
Wie sich Regionalparteien organisieren können
Professor Rudolf Hrbek vom Europäischen Zentrum für Föderalismusforschung an der Universität Tübingen stellte das inhomogene Netzwerk „European Free Alliance“ vor, das seit mehreren Jahren ein Kristallisationspunkt für regionale Parteien in den EU Staaten gilt (siehe Karte weiter unten). In den Augen des Generalsekretärs des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates, Andreas Kiefer, sei die geringe Vertretung von Regionalparteien in der Parlamentarischen Versammlung und im Kongress der Gemeinden und Regionen mit der Filterwirkung nationaler Auswahlprozesse für diese europäischen Gremien zu suchen. Zudem hätten ihre Vertreterinnen und Vertreter zuletzt kaum ihre spezifischen Themen zu Verhandlungsgegenständen in den Europaratsgremien gemacht.
Spanien und Belgien: Vielfalt und Machtspiele
An der Universität Pompeu Fabra in Barcelona kann Professor Klaus Jürgen Nagel die spanischen Parteiverhältnisse bestens analysieren. An der Akademie stellte er eine Typologie der dortigen Regionalparteien vor, die teils an Regierungen beteiligt sind:
- Nationalisten staatenloser Nationen wie Katalonien, der Kanaren oder des Baskenlands
- Parteien, die eine Region innerhalb einer staatenlosen Nation repräsentieren, wie Mallorca als Teil der Katalonischen Länder
- Regionalparteien mit der Referenznation Spanien, die sich gegen die Nationalisten der staatenlosen Nationen richten
- Sezessionisten innerhalb einzelner Regionen
Bei Europawahlen sieht es für all diese Gruppierungen eher düster aus, denn ganz Spanien besteht dann aus einem einzigen Wahlkreis. So gehen die nicht-staatsweiten Parteien teils abstruse Bündnisse ein, um überhaupt die Chance auf Repräsentation in Brüssel zu haben. In einem weiteren Brüsseler Parlament, nämlich dem belgischen, stellen mittlerweile die flämischen Nationalisten die Mehrheit und zogen auch im Europaparlament in die EU-kritische Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten ein. Die komplexen parteipolitischen Verhältnisse in Belgien beschrieb Professor Frank Delmartino von der KU Leuven.
Polen: Schlesien will die Autonomie
Die Autonomiebewegung Schlesiens (Ruch Autonomii Śląska) tritt mit ihren Forderungen nach eigenen Steuern, Kultur-, Bildungs- und Polizeiprogrammen eher als Dezentralisierungspartei auf. Vorübergehend war man bereits an der Regionalregierung beteiligt, scheiterte aber mit dem Versuch, die Schlesier als nationale oder ethnische Minderheit anerkennen zu lassen, um deren Privilegien zu genießen. Andzelika Mirska von der Universität Warschau zog das Fazit: „Die Autonomiebewegung hat Oberschlesien und seine Bevölkerung zum Objekt der Politik gemacht und agiert wie eine Partei, bleibt aber innerhalb Polens ein Sonderfall.“
Nordeuropa: man muss genau hinsehen
Professor Sven Jochem widmete sich den Regionalparteien im Norden Europas – einer Region vergleichsweise offener, heterogener, integrativer Gesellschaften („der Skandal-Fußballer Zlatan Ibrahimovic als neue kulturelle Leitfigur Schwedens“), föderaler Finanzierungs- und Verwaltungsmodelle, aber dennoch meist zentralisierter politischer Entscheidungen. Dementsprechend genau muss man hinsehen, um wichtige Regionalparteien zu finden. Am augenscheinlichsten ist es noch in Dänemark, das einst eine Kolonialmacht war und heute autonome Regionen wie die Färöer oder Grönland in sich vereint. Letzteres ist die „Goldinsel der Zukunft“ und strebt nach Unabhängigkeit, ist aber ökonomisch noch völlig von den Zuweisungen aus Kopenhagen abhängig. Die Bewohner der autonomen finnischen Insel Åland zieht es nach Schweden, was die schwedische Minderheitenpartei in Finnland paradoxerweise ablehnt, da sie sonst den Großteil ihres Wählerstamms verliert. Am Polarkreis organisieren sich zudem die Ureinwohner der Samen.
Weitere Informationen
Homepage: Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates
Andreas Kiefer: Decentralisation favours the development of regional parties
Jörg Siegmund, M.A.
Tel: 08158 / 256-50
j.siegmund@apb-tutzing.de
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