Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan

53. Internationale Hochschulwoche zum Thema Krieg als Ereignis, Erfahrung und Erinnerung

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 07.10.2014

Von: Barbara Freymüller

# Osteuropa und Russland, Zeitgeschichte

Download: Internationale Akademie: 1914: Südosteuropa und das Kriegsjahrzehnt

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Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing

Vor 100 Jahren brach der Erste Weltkrieg aus. Die Internationale Hochschulwoche an der Akademie für Politische Bildung Tutzing hatte daher Südosteuropa im Kriegsjahrzehnt 1908 bis 1918 zum Thema - sowohl aus Sicht der Südosteuropäer als auch des "Westens". Dort verschob sich die Kriegsforschung in den letzten Jahren weg von der Militär- und Diplomatiegeschichte hin zur Deutung von Kultur- und Gesellschaftsstrukturen.

Insgesamt ist der Krieg dabei eher eine Folie für eine individuelle, gesellschaftliche und staatliche Ausnahmesituation. Ein solcher Paradigmenwechsel verlief in den Geschichtswissenschaften Südosteuropas zögerlich. Der Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft und Russland-Beauftragter der Bundesregierung Gernot Erler zeigte in seiner Begrüßungsrede die Bedeutung der gesamten Thematik auf und freute sich über das große Interesse des internationalen Referenten- und Teilnehmerkreises. Mitveranstalter Professor Wolfgang Höpken (Universität Leipzig) betonte einerseits die große "Erinnerungsmacht" des Ersten Weltkriegs, andererseits das geringe Interesse an den Geschehnissen auf dem Balkan. Höpken zufolge lasse sich in osteuropäischer Forschung oftmals eine Heroisierung der eigenen Kriegsrolle sowie die Dramatisierung der Opfer erkennen.

Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Deutschland

Prof. Dr. Gerhard Hirschfeld (Universität Stuttgart) gab in seiner Grundsatzrede einen Überblick über die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Deutschland. Der Erste Weltkrieg sei der erste Medienkrieg mit großem Masseninteresse gewesen, da es bereits seit 1914 Filmaufnahmen, Drucke oder Dokumentationen verfügbar waren. Zudem entstanden Museen und Ausstellungen, in denen Kriegserlebnisse und offizielle Kriegsinformationen bis hinab in die lokale Ebene verarbeitet wurden. Doch bereits während der Weimarer Republik gestaltete sich die Kriegserinnerung selektiv, da es zum innenpolitischen "Krieg nach dem Krieg" zwischen dem rechten und linken politischen Flügel kam.

Die Erinnerung kam in Deutschland unter anderem durch Kriegsdenkmäler, Gedenkbücher über gefallene Soldaten, Geschichtsbücher, fiktionale Literatur, Chronologien oder Novellen zum Ausdruck, wobei sich die Mehrheit der Museen auf eine militärische Perspektive der Kriegsdarstellung beschränkte. Nach 1933 wurde der Erste Weltkrieg von den nationalsozialistischen Machthabern instrumentalisiert, doch mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verlor der "Große Krieg" seine bis dahin zentrale Position im deutschen Bewusstsein. Erst in den vergangenen zehn Jahren sei das öffentliche Interesse in Form von TV-Dokumentationen und Spielfilmen, Büchern, Seminaren sowie Essays gewachsen. Ein Museum zum Ersten Weltkrieg gibt es aber noch heute in ganz Deutschland nicht, ganz im Gegenteil zu Großbritannien und Frankreich.

Bilder des Krieges

Professorin Rumjana Koneva (Bulgarisches Kulturinstitut "Haus Wittgenstein", Wien) referierte über den Krieg in den intellektuellen Diskursen Bulgariens zwischen 1912 und 1918. Da Bulgarien drei Kriege kurz nacheinander geführt hatte (zwei Balkankriege sowie den Ersten Weltkrieg), hatte es wesentliche Veränderungen in den öffentlichen kulturellen Anschauungen gegeben. Nach dem Frieden von Bukarest (1913) bildeten Hass, Enttäuschung und Hoffnung das Thema der bulgarischen Literatur. Die Literatur des Ersten Weltkriegs dann war geprägt von gegenseitigem Verspotten, Rache und Vergeltung, natürlich beeinflusst durch die Kulturpolitik der Regierung.

Kriegszeit - Regime

Ein weiterer Themenkomplex der Internationalen Hochschulwoche war der Blick auf die Regime der Kriegszeit: Osmanisches Reich, Besatzungsregime auf dem Balkan, die österreichisch-ungarische Besatzung des Kosovo (1915-18) sowie Bulgariens Kriegsherrschaft in Makedonien. Tamara Scheer (Universität Wien) legte während ihrers Vortrags über Besatzungsregime auf dem Balkan den Fokus auf Serbien, das wie Montenegro, Polen, Albanien und Rumänien von Österreich-Ungarn besetzt war. Die Bevölkerung der okkupierten Gebiete sah sich einer Vielzahl von Verbrechen und Schikanen durch die Doppelmonarchie  Österreich-Ungarn gegenüber: Masseninhaftierungen, Todesstrafe oder Arbeitszwang.

Zur Analyse des Krieges gehört auch die genauere Betrachtung der Situation der Frauen, was Ingrid Schiel (Universität Jena) im Rahmen ihres Vortrags über "Die Siebenbürgisch-Sächsischen Frauen zwischen den Fronten des Kriege 1914-1918 und 1918/19" tat. Schiel ging dabei auf die geschlechterspezifische Rollenverteilung im Krieg sowie ungeplante Reaktion der Frauen auf den Krieg ein, die sie als "lautlose Stille" beschreibt. Die Frauen vor Ort suchten Strategien, um mit der Gewalt und dem Leid umzugehen. Man brach transethnische Strukturen und Aktivitäten auf, die jedoch von lokalen Autoritäten wieder untergraben wurden.

Kultur, Gesellschaft und Erinnerung nach dem Krieg

Erinnerungskultur und literarische Repräsentation des Ersten Weltkriegs gestern und heute waren ein weiteres Thema. Professorin Angela Richter wies darauf hin, dass der Grad der Involviertheit einer Gesellschaft entscheidend für die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg sei. Die aktuelle Literaturproduktion konzentriere sich stark auf das Attentat von Sarajewo und auf den Attentäter Gavrilo Princip. So habe die Literatur auch heute noch die Macht, einen zumindest von der Öffentlichkeit beachteten Gegendiskurs auszulösen.

In welchem physischen und psychischen Zustand waren die europäischen Bevölkerungen nach dem Krieg? Die psychischen Effekte des Krieges, vor allem in Jugoslawien, waren Thema von Heike Karge von der Universität Regensburg. Ihre Untersuchungen ergaben, dass mentale Probleme und Traumata, denen die Soldaten nach den Balkankriegen gegenüberstanden, kaum ernst genommen und lediglich als Schwäche gesehen wurden. "Kriegsneurosen spielten als medizinische Diagnose keine Rolle", resümierte Karge. In den frühen 1920er-Jahren nahm man solche Effekte zwar erstmals in der Medizin wahr, beachtet wurden sie aber kaum.


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Foto © Bayerischer Landtag / eigene Collage