Integrationskulturen

Zugehörigkeit in der Migrationsgesellschaft

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 09.04.2014

Von: Sebastian Haas

# Gesellschaftlicher Wandel, Integration, Globalisierung

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WDR-Journalist Murad Bayraktar.

Integration ist kein absoluter Begriff, sondern kulturell und historisch geprägt. Wer dazugehört, wer dazugehören soll, wie Zugehörigkeit entsteht – das wird immer wieder neu ausgehandelt. Bei der Tagung „Integrationskulturen. Zugehörigkeitsdebatten in der Migrationsgesellschaft“ an der Akademie für Politische Bildung Tutzing stellten Experten aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens die aktuelle Integrationsdebatte in einen größeren Kontext: mit dem Blick auf andere Länder, andere Zeiten und andere Integrationskulturen.

Wenn es einen Prototypen des deutsch-türkischen Journalisten gibt, dann ihn: Murad Bayraktar arbeitet seit fast 20 Jahren beim Westdeutschen Rundfunk, für türkische Medien, ist im Verein Neue deutsche Medienmacher aktiv – und musste sich dennoch vor kurzem nach den Kommunalwahlen in der Türkei Fragen anhören wie „gehörst Du zu uns oder zu denen?“ (von türkischer Seite) oder „was habt Ihr denn da wieder gewählt?“ (von deutschen Kollegen). Die Diskussion über die Zugehörigkeit in die deutsche Gesellschaft dreht sich seit Jahrzehnten vor allem um die Kinder und Enkel ehemaliger Gastarbeiter. Worum ging es da nicht alles: Kopftücher, Minarette, Ehrenmorde, Parallelgesellschaften, Bildungsmisere, Einbürgerungstests, Islamkonferenz, Sarrazin oder „Kinder statt Inder“. Themen mit diskussionswürdigem Kern, meint Bayraktar, die aber vom Kernproblem ablenkten: „Wir haben ein Bildungs-, ein Rassismus- oder ein Arbeitsmarktproblem, aber keines mit Migranten.“ Er hofft auf mehr Anerkennung und Sympathie für fremde Kulturen – und mehr Chancengleichheit für alle Bewohner des Landes, gerade in den Bereichen Bildung und Medien.

Aus Kanada und Australien, von Ruhrpolen und Spätaussiedlern

Zu einer Tagung zu Integrationskulturen im Vergleich gehört auch der Blick über die zeitlichen und räumlichen Grenzen. So beschrieb Professor Rainer Geissler (Universität Siegen) Kanada als ein modernes Einwanderungsland, dessen Staatsideologie seit mehr als 40 Jahren auf Multikulturalismus beruhe. Das Hauptprinzip dabei lautet „Einheit in Verschiedenheit“, was wiederum die Frage auswirft: wo verläuft die Grenze zwischen dem Recht auf den Erhalt eigener Traditionen und der vereinheitlichenden Klammer, die ein Staatswesen benötigt? Diese Frage könnte man sich hierzulande bereits seit fast 150 Jahren stellen: damals waren es die „Ruhrpolen“, die aus dem Osten des Deutschen Reichs in die Industriezentren des Westens einwanderten, nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die Gastarbeiter, parallel dazu die Spätaussiedler und heute die Krisenflüchtlinge aus Spanien, Portugal oder Griechenland. Diese Integrationskulturen im Zeitverlauf stellte Rainer Ohliger vom Netzwerk Migration in Europa vor.

Deutsche Auswanderer in Australien rückte Dr. David Johannes Berchem von der Ruhr-Universität Bochum in den Mittelpunkt. In der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg kamen, unterstützt durch bilaterale Abkommen, vor allem die ins zukunftsfähige Australien, die in der deutschen Zusammenbruchsgesellschaft keine Perspektive sahen. In Australien sollten sie sich an den dortigen way of life anpassen, hatten aber an abgelegenen Arbeitsplätzen kaum Kontakt zur australischen Bevölkerung und lebten in ihrer eigenen deutschsprachigen Welt. Auch für die transnationalen Migranten der Gegenwart ist die Pflege der deutschen Lebensweise zentral – diese findet aber innerhalb eines Lebens im Dazwischen der Kulturen statt. „Aus einer Sehnsucht nach dem Heimatland ist ein Heimat-Verlangen geworden“, meint Berchem.

Lesung mit Chamisso-Preisträger Akos Doma

In Deutschland – oder anderen Ländern – zuhause und dennoch fremd sein? Dieses Gefühl kennt Akos Doma gut. Der in Ungarn geborene Schriftsteller und Übersetzer emigrierte 1971 mit seiner Familie nach England, in einer wahren Odyssee, die zwischenzeitlich in ein Flüchtlingslager in Neapel führte. Nun lebt er schon so lange in Deutschland, dass er sich im Online-Lexikon Wikipedia nicht mehr als ungarischer, sondern als deutscher Schriftsteller bezeichnen lässt. Sein Debütroman Der Müßiggänger erschien 2001, für seinen 2011 erschienenen Roman Die allgemeine Tauglichkeit erhielt Doma den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. In diesem, wie er selbst sagt, „schwer politisch unkorrekten Buch“ geht es um vier Langzeitarbeitslose, die sich der inneren Emigration am Rande der Gesellschaft und am Rande einer beliebig austauschbaren Stadt irgendwo in Süddeutschland hingeben – Parallelen zu seinem Wohnort Eichstätt sind natürlich rein zufällig. Dann aber tritt der prototypische Deutsche Albert in das Leben der vier Taugenichtse und Alltagsphilosophen, und krempelt mit gewohnter ökonomischer Gründlichkeit deren Leben um. Bei der Lesung im Auditorium der Akademie für Politische Bildung Tutzing entspann sich zwischen dem Schriftsteller und den Tagungsteilnehmern ein Gespräch über dieses literarische (Selbst-)Zeugnis, über Lebenslinien und Lebenslügen sowie das Heimat- und Zeitgefühl der Menschen – ganz egal ob heimisch in der Fremde, fremd in der Heimat oder zuhause in sich selbst.

Die Tagung "Integrationskulturen. Zugehörigkeitsdebatten in der Migrationsgesellschaft" war eine Zusammenarbeit mit der Interkulturellen Akademie der Inneren Mission München - Diakonie München und Oberbayern e.V.


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