Europäisches Regieren
Über die neue EU-Kommission und ihren Präsidenten spricht auch der Vorsitzende der EVP-Fraktion Manfred Weber
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 28.10.2014
Von: Beryll Kunert
# Europa, Parlamente Parteien Partizipation
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Mitte Oktober 2014 stimmte das Europäische Parlament der Besetzung der neuen EU-Kommission, mit Jean-Claude Juncker an ihrer Spitze, zu. Dem voraus ging eine konstitutionelle Neuordnung im Zuge der Europawahl. Diese Neuerungen führten zu einem europaweiten Wahlkampf mit Spitzenkandidaten und Parteienbündnissen. Die Kommission, deren Mitglieder von den Regierungen der Staaten nominiert und vom Europäischen Parlament schlussendlich bestätigt werden, soll am 1. November 2014 ihre Arbeit aufnehmen.
Was sind diese konstitutionellen Neuerungen? Welche Auswirkungen haben sie auf das europäische Regierungssystem und das Amt des Kommissionspräsidenten? Konnte das vielbeschworene Demokratiedefizit der EU behoben werden? Und ist Junckers Kommission wirklich „die letzte Chance“ für Europa? Um diese und andere Fragen drehte sich die Tagung „Europäisches Regieren. Neue Kommission – alte Herausforderungen?“ in der Akademie für Politische Bildung Tutzing.
Junckers Kommission – eine neue Zeitrechnung?
Eine der Neuerungen ist die Einführung von sieben Clustern, die von je einem Vizepräsidenten geleitet werden. Joachim Jens Hesse vom Internationalen Institut für Staats- und Europawissenschaften der FU Berlin bezeichnete dies als gezwungenermaßen notwendig. Er kritisierte die hohe Anzahl an Kommissaren und Verlegenheitsbesetzungen. Die Kommission Juncker müsse sich über die Zeit formen. Bis dato sei von Juncker kein materieller Kurswechsel angezeigt, zumindest aber sei eine Veränderung in Anspruch und Verhalten der Kommission erkennbar. Professor Hesse plädierte nicht für mehr, sondern ein besseres Europa. Die Kommission müsse prinzipiell entscheiden, ob sie sich in den Dienst ihrer Selbst oder den Dienst der Staaten Europas stellen will.
Das Demokratiedefizit der EU
Der Passauer Soziologe Maurizio Bach betonte, dass ein Herrschaftssystem zwar einer Legitimation bedarf, man sich aber davon verabschieden müsse die EU als Herrschaftssystem zu verstehen. Er bestätigte, dass die EU einem Vergleich mit demokratischer Willensbildung auf nationaler Ebene nicht standhalten könne, doch sie besitze eben eine völlig andere Struktur als ein Nationalstaat, sei eine paktierte Kooperation ohne Hegemonialmacht und inmitten eines Transformationsprozesses der Demokratie. Der richtige Weg sei vermutlich eine Eigenbeschränkung der Integration und die Aufrechterhaltung der lebendigen demokratischen Kultur in den Nationalstaaten.
Professorin Cathleen Kantner (Universität Stuttgart) meint: solange es keinen europäischen demos gibt, könne es keine europäische Demokratie geben. Betrachte man die Masse an Gesetzen, die in der EU verabschiedet werden, könne sie nur eine Verfassung legitimieren; dafür sei eine europäische Öffentlichkeit notwendig, die aus einer europäischen Identität entstehen müsse – diese aus einer europäischen Zivilgesellschaft, diese aus europäischen Massenmedien, diese aus einer gemeinsamen Sprache. Kantner vertiefte diesen Aspekt der Öffentlichkeit und zeigte: es gibt eine transnationale politische Kommunikation und eine Identität der Problemlösungs- und Wertegemeinschaft. Die EU müsse demokratisiert werden, um politische Integrität und Selbstverständnis nicht zu verlieren. Eine Blaupause für den richtigen Weg gibt es aber nicht.
Der Weg zu einer geeigneten Regierungsform
Rudolf Streinz, Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht und Europarecht an der LMU München, betonte: die EU ist kein Staat. Die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament und die vertragliche Verpflichtung des Europäischen Rates, sich an diese Wahl zu halten, sieht er als große Stärkung des Europäischen Parlaments – eine andere Entscheidung sei schwerlich zu rechtfertigen. Im Vergleich zum Bundestag sei das Europäische Parlament übrigens eines, in dem wirklich scharf debattiert und diskutiert werde.
In eben jenem Parlament ist Manfred Weber der Fraktionsvorsitzende der EVP. Er berichtet begeistert vom öffentlich geführten Wahlkampf mit Spitzenkandidaten als „Sternstunde des europäischen Parlamentarismus“. Trotz einiger Defizite sei der Grundgedanke der Europäischen Union lobens- und erhaltenswert. Auf Nachfrage der Tagungsgäste in der Akademie für Politische Bildung Tutzing hielt er sich mit einer Bewertung des Freihandelsabkommens TTIP zurück, doch sieht er die Debatte darüber positiv, da es sich um ein europäisches, nicht um ein nationales Thema handle. Als weitere Probleme für Europa benannte er die Jugendarbeitslosigkeit und die Tendenz der Wähler zu den Parteien an den Rändern des Spektrums. Seiner Meinung nach entstehe dieser Anstieg auch durch populistische Äußerungen aus der politischen Mitte.
Die Agenda der neuen Kommission
Joachim Menze, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in München, stellte die neuen Mitglieder der Kommission Juncker und deren Arbeitsweise vor. Insbesondere veranschaulichte er die Einführung der sieben Vizepräsidenten und ihren Zuständigkeitsbereich. Da es noch kein Regierungsprogramm gebe, bezeichnete er die politischen Leitlinien Junckers als Versuch der Politisierung nach innen. Auch Professor Daniel Göler (Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik, Passau) geht davon aus, dass die Verbindung zwischen Kommission und Parlament gestärkt wird. Jean-Claude Juncker habe eine dezidiert konstitutionelle Agenda ohne große Vertragsreform. Er werde versuchen, die Verfassungswirklichkeit der EU weiterzuentwickeln und die EU zu parlamentarisieren, ohne eine große Debatte über grundsätzliche Verfassungsfragen loszutreten. Göler verglich diesen Prozess mit der Demokratisierung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert.
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