Einwanderungskontinent Europa
Profilierte Wissenschaftler und Politikerinnen wie Rita Süssmuth, Margarete Bause und Barbara Lochbihler diskutieren
Das Bild zeigt die Anzahl der Asylbewerber eines Landes im Jahr 2012 (JPatrickFischer/WikimediaCommons).
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 08.12.2014
Von: Beryll Kunert
# Gesellschaftlicher Wandel, Integration, Entwicklungspolitik
Download: Einwanderungskontinent Europa - Bedrohung oder Chance?
Die Zahlen der in Europa ankommenden Flüchtlinge aus Kriegsgebieten hat sich in den letzten Monaten dramatisch erhöht. Die Debatte über menschenwürdige Behandlung und Aufnahme dieser Flüchtlinge wurde nicht zuletzt durch den Hungerstreik in München angeheizt. Doch neben den Kriegsflüchtlingen kommen vor allem Tausende Arbeitsmigranten nach Deutschland und Europa. Ist dies eine Bedrohung oder eine Chance? Diese Frage erörterten die Akademie für Politische Bildung, der Landesverband Bayern der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung und die Europäische Akademie Bayern zusammen mit namhaften Wissenschaftlern und Politikern.
"Es ist eine Chance, wenn wir das Gefühl haben, wir schaffen das. Aber eine Bedrohung, wenn wir das Gefühl haben, wir schaffen das nicht." Davon ist Rita Süssmuth, Bundestagspräsidnetin a.D., bezogen auf die Situation der Migranten in Deutschland, fest überzeugt. Sie betont, dass der Sozialstaat finanziell und die Gemeinschaft kulturell von Zuwanderen profitieren. "Die Verteilungsregelung der Flüchtlinge in Europa ist ein Skandal." Europa müsse gemeinsam agieren, denn nur mit enger Zusammenarbeit könne man den Ansturm bewältigen. Süssmuth fordert für Migranten und Flüchtlinge vor allem drei Dinge: Bildung, die Möglichkeit nach drei Monaten Aufenthalt arbeiten zu dürfen und menschenwürdige Unterkünfte.
Migration in Deutschland und Europa
Eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation lieferte Dr. Michael Griesbeck (Vizepräsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge), Carola Burkert (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) gab Einblick in Arbeitsmigration und Freizügigkeit innnerhalb der EU:
- Die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland hat sich seit 2012 vervierfacht.
- Der größte Teil der Migranten kommt aus den Balkanländern, Syrien, Eritrea und Russland.
- Deutschland, Frankreich, Schweden und Großbritannien nehmen zusammen 70 Prozent der in Europa ankommenden Flüchtlinge auf.
- Die neue Gesetzgebung (seit 6. November 2014 in Kraft) stockt auf: pro Regierungsbezirk soll es eine Erstaufnahmeeinrichtung geben, nach drei Monaten Aufenthalt darf gearbeitet werden und die Residenzpflicht wurde gelockert.
- Die Arbeitsmärkte der EU sind sehr unterschiedlich; Deutschland ist stabil, aber es herrschen große regionale Disparitäten.
- Die Mobilität zwischen den EU-Ländern liegt bei gerade einmal drei Prozent.
- Die befüchtete Armutszuwanderung in die Sozialsysteme ist kein Massenphänomen.
Migrationsforschung und Herausforderungen für das Bildungssystem
Über Migration als Herausforderung für Bildungspolitik und Elternbildung sprachen Veronika Fischer (Fachhochschule Düsseldorf) und Cumali Naz (Fachsprecher für Migration, Stadtrat München). Sie beschrieben verschiedene Projekte zur Elternbildung und betonten, dass einige strukturelle Defizite im Bilungs- und vor allem Schulsystem noch geändert werden müssen. Desinformation der Eltern und interkulturelle Inkompetenz behördlicher Mitarbeiter seien demnach große Probleme. Hans Dietrich von Loeffelholz gab Einblick in die Migrationsforschung: Er beschrieb die verschiedenen Motivationen der Migranten ihr Heimatland zu verlassen (push-pull-Modell). Der wichtigste Faktor bei der Wahl des Landes ist das dort vorhandene Netzwerk von Familie oder Landsleuten. Loeffelholz appeliert vor allem, dass die Abstimmung mit relevanten Politikbereichen entscheidend für eine erfolgreiche Integration ist.
Bayerische und Europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik
In der Podiumsdiskussion mit Markus Gruber (Ministerialdirektor im Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales), Margarete Bause (Franktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag) und Matthias Weinzierl (Bayerischer Flüchtlingsrat) drehte es sich vor allem um die Konfliktpunkte bayerischer Asyl- und Flüchtlingspolitik. Weinzierl und Bause bezeichneten diese als zu rigoros. Gruber verteidigte nicht die Zustände (beispielsweise in der Bayernkaserne, in der zu Spitzenzeiten an die 2.400 Flüchtlinge untergebracht waren), machte aber deutlich, dass aus Sicht der Regierung mit dieser enorm hohen Flüchtlingszahl nicht zu rechnen war und deshalb organisatorisch nicht bewältigt werden konnte. Bause beschrieb, wie quälend und zermürbend es ist, in solch einer Massenunterkunft untergebracht und zum Nichtstun verdammt zu sein. Sie plädiert für eine grundlegende Änderung der Aufnahmeregelung in Bayern. Dem schließt sich Weinzierl an, der zusätzlich die Einführung von Mindeststandards für Flüchtlingsunterkünfte fordert. Konsens besteht bei allen drei Teilnehmern darüber, dass die Unterkünfte für Flüchtlinge menschenwürdig sein müssen und dort stellenweise Nachholbedarf besteht.
Die Europaabgeordnete Barbara Lochbihler (Grüne) kritisierte vor allem die Abschottungspolitik der EU: weil die EU keine Fördermittel zur Verfügung stellte, wurde das effektive italiensche Seenotrettungsprogramm Mare Nostrum eingestellt und stattdessen wieder der reine Grenzschutz Frontex installiert. Diese Politik verhilft aber vor allem den Schlepperbanden zu noch florierenderen Geschäften. Die jüngts diskutierte Idee, "Welcomecenter" im Norden Afrikas zu installieren, hält Lochbihler aufgrund der labilen Situation des ägyptischen und des lybischen Staates für unwahrscheinlich. Die EU müsse hier gute Ambitionen anderer Länder unterstützen, wie ein gerade auf den Weg gebrachtes Gesetz in Marokko, dass es Flüchtlingen aus dem subsaharischen Afrika erleichtern soll, dort zu arbeiten. Die Situation der Roma in den Westbalkanländern dagegen müsse durch Druck der EU auf die Staaten verändert werden.
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