Bilder einer Gesellschaft
Wie verorten wir uns selbst? Fragen und Antworten in einer fachübergreifenden Tagung
Tutzing / Akademie-Gespräch Tagungsbericht / Online seit: 29.07.2014
Von: Dan Prume
# Gesellschaftlicher Wandel, Digitalisierung
Wo liegen die Schwierigkeiten der gesellschaftlichen (Selbst-)Verortung zu Beginn des 21. Jahrhunderts und welche Herausforderungen ergeben sich daraus für das soziale, politische und kulturelle Zusammenleben? Dieser Frage hat sich die Akademie für Politische Bildung Tutzing in der fachübergreifenden Tagung „Bilder einer Gesellschaft“ gestellt.
Gerhard Vowe (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) sprach in seinem Vortrag „Die Gesellschaft im Spiegel der Wissenschaft“ über verschiedene Gesellschaftskonzepte. Diese Konzepte seien Ausdruck eines pluralen Selbstbildes der Gesellschaft und als Angebote der Wissenschaft an die Gesellschaft zu verstehen, meint Vowe. Die Dominanz der unterschiedlichen Gesellschaftskonzepte wechsle dabei je nach der Perspektive, aus der man auf die Gesellschaft blicke. Dabei ist der Begriff der „Informationsgesellschaft“ sowohl in der Fachliteratur als auch in der breiten Öffentlichkeit am weitesten verbreitet.
Die Idealisierung der antiken Demokratie
Hendrik Hansen (Andrássy Universität Budapest) verglich das Bild des Bürgers in der Antike und heute. Die bewusst plakative und polarisierende These, dass das Bild der Antike falsch sei, war die Basis seines Vortrags. Zu unterscheiden seien hierzu die Begriffe des Real- und des Idealtypen, so Hansen. Es sei ein viel negativeres Bild von der griechischen Demokratie zu zeichnen, als es gemeinhin üblich sei. Hierzu bemühte Hansen die Schöpfungsgeschichte des antiken Griechenlands und vor allem die Lehren Perikles`. Schließlich sagte Hansen, dass die neuen Medien im politischen Prozess zu den gleichen negativen Erscheinungen führe, die es bereits in der Antike gab.
Die Mediatisierung der Gesellschaft
Einen flammend-sozialkritischen Vortrag hörten die Teilnehmer von Joost van Loon (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt). Er zeigte auf, dass der Begriff „Gesellschaft“ als Container für alle Begriffe diene, die man nicht näher definieren möchte. Die Herabsetzung des Terminus verdeutlichte van Loon mit der Aussage: „Man braucht keine Gesellschaft mehr, man braucht nur noch Suchmaschinen.“ Er arbeitete Unterschiede der Begriffe Soziales und Mediatisierung heraus – und verdeutlichte die Bedeutung des „sich Verbindens“ in der heutigen, medialen Welt, in der die Mediatisierung allgegenwertig sei. Van Loons Kritik richtete sich vor allem an der Entwicklung, dass man sich aufgrund dieses gesellschaftlichen Wandels nicht mehr zu rechtfertigen brauche. Rezipienten seien somit äußerst manipulierbar.
Politische Inhalte vs. Unterhaltung
Cordula Nietsch (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) sprach über Politikvermittlung in Zeiten von Politainment. Hierzu unterschied sie Fernsehformate in unterschiedlichen Abstufungssphären der Politikvermittlung von der Darstellung tatsächlicher politischer Prozesse und Akteure bis hin zu fiktionalen Darstellungen dieser. Nietschs These einer Demokratisierung der Rezipienten dieser Darstellungen, ebenso wie ihre Gegenthese einer Verflachung politischer Inhalte dadurch, führten zu einer lebendigen Diskussion. Die Wissenschaftlerin schloss mit dem Fazit, dass Politainment in seinen vielen Facetten eine gute Ergänzung zur Demokratisierung darstelle.
„Der alte Film ist tot! Wir glauben an den Neuen!“
Beim Akademiegespräch am See im Rahmen des Fünf-Seen-Filmfestivals diskutierten Bettina Reitz (BR-Fernsehdirektorin), Edgar Reitz (Filmemacher, Autor und Hochschullehrer), Tom Tykwer (Regisseur, Drehbuchautor, Filmproduzent und Filmkomponist) und Moderator Robert Fischer (Filmpublizist, Regisseur und Filmhistoriker) über das Kino im gesellschaftlichen Wandel. Alle Diskutanten wurden von Film und Kino seit ihrer frühesten Kindheit begleitet. So beschrieb Edgar Reitz, wie er mit einem 1939 geschenkten Projektor und Schnittresten seine ersten Kinovorführungen in der elterlichen Garage gab. Er zeichnete ein düsteres Bild der aktuellen Kinolandschaft und bestritt, dass die Schuld für den Untergang des Kinos allein in der mangelnden Qualität der Filme zu suchen sei: „Das was wir heute Kino nennen, ist ein Saustall!“ Bettina Reitz sagte, dass das Kino auch davon lebe, dass der Staffelstab an die nächste Generation weitergegeben werde. Tom Tykwer hat erkannt, dass das Kino sich auch für andere Medien als den Film öffnen müsse – und die Zuschauer sich zuhause mit Beamern ausstatten werden, da bald alles zum Download verfügbar sein wird.
Charismatiker und „Zoon politikon Germanikon“
Susanne Pickel (Universität Duisburg-Essen) hielt einen Vortrag über politische Kultur, politisches Wissen und politische Partizipation. Sie stellte die These auf, dass wir als Zoon politikon geboren werden, jedoch nicht als Demokraten. Die politische Kultur bringe die politische Partizipation mit sich. Auf Basis empirischer Studien zeigte Pickel auf, dass wir in den Grundfesten unserer Demokratie ein gutes Fundament haben. Darüber hinaus hänge politisches Interesse sehr stark mit der Mediennutzung zusammen. Sie forderte dazu auf, Kritiker der Demokratie in den Fokus zu nehmen, sie über die Demokratie aufzuklären und in den demokratischen Prozess einzubinden.
Professor Ulrich Sarcinelli stellte sich der Frage, wieviel Charisma die Demokratie vertrage. Er machte deutlich, dass es Charismatiker schon immer gegeben habe und stellte den Darstellungspolitiker, der seine Legitimation durch die mediale Öffentlichkeit erhält, dem Entscheidungspolitiker gegenüber. So werden Politiker langfristig als Markenprodukte eingeführt. In Beispielen der bundesrepublikanischen Geschichte zeigte Sarcinelli, dass die Ämter auf die Amtsträger wirken und die Amtsinhaber wiederum dem Amt ihren Stempel aufdrücken. Sein Fazit: die Demokratie brauche mündige Bürger, die charismatische Persönlichkeiten von charismatischen Führern zu unterscheiden wissen.
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