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Akademiegespräch im Landtag zum demografischen Wandel in Bayern

München / Akademie-Gespräch Tagungsbericht / Online seit: 25.03.2014

Von: Sebastian Haas

# Gesellschaftlicher Wandel, Bayern

Akademiegespraech-Demografie-Bayern

Zufrieden nach einem anregenden Akademiegespräch: II. Landtags-Vizepräsidentin Inge Aures, Prof. Dr. Norbert F. Schneider und Akademie-Direktorin Prof. Dr. Ursula Münch (Foto: Haas).

Unsere Bevölkerung schrumpft, wird älter und bunter, doch innerhalb der Bundesrepublik und gerade in Bayern alles andere als einheitlich. So soll der Kreis Wunsiedel bis 2030 rund ein Sechstel seiner Bevölkerung verlieren, die Einwohnerzahl Coburgs um zehn Prozent schrumpfen, die Landkreise rund um München hingegen erwarten Wachstumsraten von bis zu 18 Prozent. Grund genug für den Bayerischen Landtag und die Akademie für Politische Bildung Tutzing, für das 48. Akademiegespräch am 25. März 2014 – das erste der aktuellen Legislaturperiode – Prof. Dr. Norbert F. Schneider einzuladen, den Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB).

Nach der Begrüßung durch die II. Landtags-Vizepräsidentin Inge Aures führte die Direktorin der Akademie für Politische Bildung Tutzing, Prof. Dr. Ursula Münch, in das Thema des Abends ein. Sie machte deutlich, dass der demografische Wandel zwar ein enorm herausforderndes, aber kein neues Phänomen ist: bereits seit Generationen müssen sich Gesellschaften mit den Folgen von Wanderung und Wachstum auseinandersetzen. Die aktuelle Entwicklung in Bayern aber hat besonders viele Facetten: während in München der Verkehrs- und Wohungsinfarkt droht, gibt es in neun bayerischen Landkreisen wegen der zurückgehenden Zahl von Schwangerschaften bereits keine Geburtsstationen mehr.

Gleichwertig ist nicht gleichartig

Können vor diesem Hintergrund die „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ – erst 2013 mit 90 Prozent Zustimmung der Bürgerschaft als Staatsziel in die bayerische Verfassung eingefügt – auch 2030 noch als Handlungsmaxime die Politik im Freistaat leiten? Klar ist lediglich: gleichwertige Lebensverhältnisse können nicht gleichartige Lebensverhältnisse sein. Technische und soziale Infrastruktur, Energie- und Wasserversorgung, Nahverkehr, Bildungs- und Gesundheitssystem müssen je nach Region auf verschiedene Weise neu organisiert werden. Oder zugespitzt formuliert: „Gegen den Geburtenrückgang hilft der Ausbau des schnellen Datennetzes wohl wenig.“

Daten zum demografischen Wandel

Trends, Ursachen und politische Herausforderungen des demografischen Wandels in Deutschland und Bayern – unter diesem Motto lieferte Prof. Dr. Norbert F. Schneider eine große und erhellende Menge an Zahlen, Daten und Fakten. Der Direktor des BiB erklärte, dass sich die Bevölkerung Deutschlands mit etwa 82 Millionen Personen im Moment auf einem Allzeithoch befindet. In Bayern wachsen neben dem Großraum München vor allem die fränkischen Groß- und Universitätsstädte, während Ostbayern und die ländlichen Regionen Frankens teils drastisch an Einwohnern verlieren. Zudem lebt in Deutschland eine der ältesten Gesellschaften weltweit, und auch in Bayern wird bald nur noch die Hälfte der Bevölkerung jünger sein als 50 Jahre (zum Vergleich: in Uganda ist die jüngere Hälfte der Bevölkerung unter 17). Wir schrumpfen also und altern, aber so bunt wie erwartet werden wir nicht: seit 1990 leben nur 600.000 Ausländer mehr in Deutschland, in Bayern sind es 200.000 – der  Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund ist natürlich entsprechend höher.

Fertilität, Mortalität, Migration: was den Wandel bewirkt

Dabei sind es drei Faktoren, die eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur bewirken. Erstens die Lebenserwartung: die steigt kontinuierlich. Zweitens die Zu- und Abwanderung: da wären nach Aussage Schneiders „bis 2033 24 Millionen Zuwanderer im berufstätigen Alter nötig, um das Schrumpfen unserer Bevölkerung auszugleichen“. Drittens die Geburtenrate: die ist unumstritten in Deutschland (viel zu) niedrig, liegt aber bereits seit 40 Jahren relativ konstant bei etwa 1,4 Kindern pro Frau. Neu ist auch diese Entwicklung nicht, auffallend ist aber, dass die ältesten Mütter in Bayern leben (im Landkreis Starnberg bekommen Frauen ihr erstes Kind im Alter von 33 Jahren) und auch die Landkreise mit der niedrigsten Geburtenrate in Bayern liegen, nämlich in den Universitätsstätten Würzburg und Passau. Ein Zusammenhang zwischen Geld, Bildung und Nachwuchs liegt da irgendwie nahe.

Intervenieren oder nicht – was kann die Politik tun?

In den kommenden 20 Jahren wird Bayern insgesamt vom demografischen Wandel noch wenig betroffen sein. Die regionalen Disparitäten aber werden sich vertiefen: so wird zum Beispiel die Bevölkerung Oberfrankens im Jahr 2030 im Schnitt acht Jahre älter sein als die des Großraums München. Die große Frage, die sich die Abgeordneten des Bundestags, der Landtage, Kreis-, Stadt- und Gemeinderäte stellen müssen: will man intervenieren, um die demografische Entwicklung aufzuhalten, oder will man die gesellschaftliche Struktur an die Bevölkerungsentwicklung anpassen? Hinzu kommt, dass der demografische Wandel ein politisch unattraktives Thema ist: die Wirkung von Maßnahmen zeigen sich erst nach Generationen, und einzelne Eingriffe allein genügen nicht. „Durch das Elterngeld erhöhe ich nun einmal nicht den Kinderwunsch“, meint Norbert F. Schneider.

Für welche Lösungen sich die politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträger auch einsetzen – der BiB-Direktor empfiehlt, diese an die Gegebenheiten vor Ort anzupassen und gemeinsam mit den Bürgern zu entwickeln. Denn „nicht die Größe einer Bevölkerung ist entscheidend, sondern ihre Zusammensetzung, Haltung und Handlung“. In der angeregten Diskussion mit den etwa 250 Gästen im Senatssaal des Maximilianeums deuteten sich konkrete Handlungsempfehlungen an:

  • Flexible und altersunabhängige Übergänge in den Ruhestand
  • Die digitale Infrastruktur ausbauen und für die Verwaltung und Versorgung nutzen
  • Die „jungen Rentner“ bis 75 aktiv in das gesellschaftliche Leben einbinden
  • Pflege durch neue Lebensformen auffangen (wie Wohngemeinschaften, in denen sich die 65jährigen um die 85jährigen kümmern, damit sie 20 Jahre später selbst gepflegt werden), da weder Arbeitsmarkt noch Familien die Versorgungslücken schließen
  • Leitlinien für Regionen entwickeln, mit denen sie um die schrumpfende, aber wandernde Bevölkerung konkurrieren können.

Weitere Informationen

Die Homepage des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung BiB

Das Dossier Demografischer Wandel in Deutschland der bpb


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