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Was die Bürger woll(t)en

Analyse des Wahljahres 2013


Hilmer-Wahlanalyse-Tutzing

Einer von vielen ausgewiesenen Experten unserer Wahlanalyse-Tagung 2013: der Geschäftsführer von Infratest dimap, Richard Hilmer.


Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 01.12.2013

Von: Sebastian Haas und Anita Piesch

# Bayern, Parlamente Parteien Partizipation


Was für ein Paukenschlag: die FDP scheidet aus dem Bundestag aus, der Alternative für Deutschland gelingt aus dem Stand fast der Einzug ins Parlament, die LINKE wird darin drittstärkste Kraft. Dabei erringt die Union – kaum schlechter als Horst Seehofers CSU in Bayern – fast die absolute Mehrheit. Das alles wegen des inhaltsleeren Wahlkampfs, Veggie-Day, Steinbrücks Stinkefinger und Stefan Raab?

Bei der Tagung „Entscheidungen und Perspektiven: Das Wahljahr 2013“ analysieren die Akademie für Politische Bildung Tutzing und die Deutsche Vereinigung für Parlamentsfragen Wahlergebnis und -verhalten im Bund und in Bayern, Wahlkampf und Mobilisierung, TV-Duell und Parteiensystem. Den Beginn machten dabei die Demoskopen. Richard Hilmer von infratest dimap betonte: den von SPD und Linken propagierten Linksruck in Deutschland hat es nicht gegeben. Zwar ist eine linke Mehrheit im Bundestag möglich, doch die darin nicht vertretenen bürgerlichen Parteien FDP und AfD waren insgesamt auf weitere 9,5 Prozent der Wählerstimmen gekommen.

Unaufgeregt - das kommt gut an

Wie man es auch dreht und wendet: die unaufgeregte Politik Angela Merkels kam bei den (vor allem weiblichen) Wählern besser an als der rumpelnde Peer Steinbrück. Die Grünen haben mit ihrer Steuerpolitik das bürgerliche Lager verschreckt, und gegenüber der FDP herrschten „regelrechte Abwehrreaktionen“. Die „schlechte Performance“ der FDP bestätigte auch Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie in Allensbach: „Keiner weiß, was liberal sein soll.“ Dennoch erkannte Petersen eine ungeheure Aufholjagd von Union und FDP im Jahr vor der Wahl, die mit einer überwiegend positiven Berichterstattung über die Politik der Kanzlerin zusammenhing. In dieser „beruhigten politischen Atmosphäre“ sei den Bürgern der Wahlausgang ziemlich egal gewesen. Politikverdrossen waren sie deshalb noch lange nicht, aber: die extrem politisierte Generation der Jahrgänge 1940 bis 1955 zieht sich langsam von der aktiven Parteipolitik zurück. Für die jüngeren ist die Bundestagswahl nicht mehr der alleinige Gradmesser für politisches Interesse.

Sind Landtagswahlen tatsächlich Nebensache, nur Sanktionswahlen für den Bund? Dazu gibt es viele Mutmaßungen, die Kerstin Völkl von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vorstellte. So scheint beispielsweise in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen der Einfluss der Bundespolitik auf Landtagswahlen besonders hoch zu sein; seit 1990 geht dieser Einfluss eher zurück, ist in den neuen Ländern generell höher; ist die wirtschaftliche Lage schlecht, wird auf Landesebene die Partei abgestraft, die im Bund regiert; größer ist der Einfluss des Bundes, wenn Wahlen nah beieinander liegen oder die Landesthemen nicht ziehen. Das klingt wenig überraschend – und auch Matthias Jung, Vorstand der Forschungsgruppe Wahlen, hätte sich dieses Jahr mehr Überraschungen erhofft in der Wechselwirkung zwischen der Landtagswahl in Bayern und der Bundestagswahl. Doch: in den Umfragen waren alle Ergebnisse vorauszusehen. Auffällig ist nur, dass sich die Bayern zwar keine absolute Mehrheit der CSU gewünscht, diese aber gewählt haben; und dass es die FDP versäumt hat, nach der Schlappe in Bayern eine verständliche Werbebotschaft an potenzielle Bundeswähler zu senden.

(Keine) Experimente - zu den Strategien im Wahlkampf

Zu den Wahlkampfstrategien der Parteien: Christian Kellermann aus dem SPD-Parteivorstand erklärte die Schwierigkeiten der „progressiven“ Sozialdemokratie, sich in einer Situation „sorgenvoller Zufriedenheit der Bevölkerung“ von der Bundeskanzlerin abzugrenzen: Keine Experimente, das sei in der Eurokrise ein unschlagbares Programm Angela Merkels gewesen, dem die SPD keine Alternative entgegensetzen konnte. Dass die CDU im Wahlkampf eine „Betäubungsstrategie“ gefahren habe, wies Viola Neu von der Konrad-Adenauer-Stiftung zurück. Ein interessanter Aspekt ihrer Ausführungen: alle im Bundestag vertretenen Parteien gewinnen und verlieren seit Jahren gleichmäßig Stimmen in allen Zielgruppen; denn die Wähler hängen – im Gegensatz zu den Gewählten – kaum noch alten Ideologien nach. Ralf Tils von der Leuphana-Universität Lüneburg wandte sich den Wahlkampfstrategien der potenziellen Koalitionspartner zu. Die Grünen übersahen zum Beispiel, dass nicht sie, sondern die Medien und andere Parteien die Diskussion über eigene Inhalte bestimmten. So stand man als bevormundende Steuererhöhungspartei da, und nicht als die gewünschte ökologische, soziale und libertäre.

Einen ganzen Nachmittag lang war der Wahlkampf das Thema unserer Tagung. Professor Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim stellte Ergebnisse zu den Faktoren des Wahlerfolgs vor und kam dabei zu dem – wenig überraschenden – Schluss: entscheidend ist die Kommunikation nach innen und außen, die immerwährende Analyse des eigenen Handelns und Auftretens, kritische Reflexion und Rückkopplung an die Parteibasis. Um bei den Wählern zu überzeugen, müssen Parteien und Politiker kompetent, integer, führungsstark und entscheidungsfreudig wirken; Äußerlichkeiten spielen für den Wahlerfolg nachweislich kaum eine Rolle. Darüber hinaus widmeten sich die Professoren Wolfgang Donsbach, Thorsten Faas und Carsten Reinemann der Wählermobilisierung angesichts komplexer Themen und der Rolle der Medien im Wahlkampf.

Nach den Wahlen ist...

Wie groß ist die Dynamik im deutschen Parteiensystem, ist sie dauerhaft und wie ist die Entwicklung zu bewerten? Dieser Diskurs wurde unter anderem von Oskar Niedermayer, Karl-Rudolf Korte und Ulrich von Alemann geführt. Seit Mitte der 1990er Jahre ist viel Bewegung in das Parteiensystem eingezogen. Auf zwei besondere Merkmale wies Niedermayer bei seiner Analyse zum Wahljar 2013 hin. Seit 26 Jahren hat Deutschland wieder ein Vierparteiensystem, vormals Fünfparteiensystem. Somit ist die weitere Fragmentierung gestoppt. Als weiteres Phänomen ist der gleichzeitige Stimmenzuwachs der beiden großen Parteien CDU und SPD zu betrachten. Seit 1965 konnte jeweils nur eine Partei einen Zugewinn verzeichnen.

Die Dynamik ist davon abhängig, wie wir die Parteien definieren, meint Karl-Rudolf Korte. Werden sie als Problemnutzungsagentur, Machterwerbs-organisation, Gesinnungsgemeinschaften oder Lebensstilbastionen gesehen. Des Weiteren sind unvorhergesehene externe Ereignisse, beispielsweise die Eurokrise oder das Unglück in Fukushima, ausschlaggebend, wie Parteien darauf reagieren und damit umgehen. „Es war eine kritische Wahl, das heißt es gibt eine Neuorientierung im Parteiensystem“, erklärte von Alemann. Dies begründete er damit, dass der Abstand, 16 Prozentpunkte, zwischen CDU und SPD seit den 1950er Jahren nicht mehr so groß war. Des Weiteren ist gravierend, dass die FDP zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik nicht im Bundestag vertreten ist und eine populistische Partei (AfD) den Einzug nur um 0,3 Prozentpunkte verfehlt hat.

Zum Abschluss gab Tim Spier einen Einblick in seine Untersuchung der Großen Koalitionen in Bund und Ländern. Neben der komfortablen Regierungsmehrheit, die in der Regel eine verfassungsändernde Mehrheit bedeutet, können Große Koalitionen Strukturreformen und Krisen sowie unpopuläre Reformen besser durchsetzten. Spier ging außer auf die Auswirkungen  auch auf Probleme ein. Bei Großen Koalitionen nimmt die Transparenz ab, da die Konflikte nicht mehr öffentlich ausgetragen werden. Weitere Schwierigkeiten: Eine kleine Opposition kann die Regierungskontrolle nicht effektiv bewältigen und in der Regel benötigen Große Koalitionen höhere Staatsausgaben.

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