Wie viel Solidarität braucht die EU?

Fragen an Europa - Diskussion mit EU-Parlamentariern

Bayerisch Eisenstein / Tagungsbericht / Online seit: 30.11.2013

Von: Sebastian Haas

# Europa

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Die Eurokrise bringt enorme politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Konsequenzen mit sich: massive Schulden und dümpelndes Wirtschaftswachstum, Reformstau und hohe Jugendarbeitslosigkeit sind Ursachen und Folgen zugleich. Die Rettungsschirme der europäischen Staatenlenker und Banker haben die Situation in den betroffenen Ländern bisher kaum geändert. So stehen wir in ganz Europa in einer Diskussion um die Zukunft der EU und Europas als Ganzem: wie soll eine gemeinsame Politik ausgestaltet sein? Wer benötigt wie viel Verantwortung, und zu welchem politischen Preis? Oder anders gefragt: Wie viel Solidarität braucht die EU? Das war die Hauptfrage für den Auftakt unserer Veranstaltungsreihe „Fragen an Europa“.

Akademiedirektorin Prof. Dr. Ursula Münch, die Leiterin der Europäischen Akademie Bayern Birgit Schmitz-Lenders, der Stellvertretende Landrat des Landkreises Regen Heinrich Schmidt und Bayerisch Eisensteins Bürgermeister Thomas Müller betonten in ihren Grußworten die Wichtigkeit der europäischen Friedens-, Werte- und Kulturgemeinschaft. Auch der Bayerische Staatsminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Helmut Brunner zeigte sich als überzeugter Europäer: gerade die bayerische Landwirtschaft habe vom europäischen Einigungsprozess über Jahrzehnte profitiert und einen großen Beitrag zum gemeinsamen Frieden in Europa geleistet. Verwundert sei er aber darüber, wie oberflächlich die Diskussion über die Weiterentwicklung Europas meist sei. Alle Redner freuten sich aber sichtlich darüber, dass die prominent besetzte Veranstaltung in der Grenzregion großen Zuspruch fand: 100 interessierte Gäste waren in die ArberLandHalle nach Bayerisch Eisenstein gekommen – für eine Gemeinde mit nicht einmal 1000 Einwohnern eine hohe Zahl.

In seinem Festvortrag „Ist der Euro noch zu retten?“ forderte der Passauer Volkswirt Prof. Dr. Johann Graf Lambsdorff überzeugend und eindringlich mehr Investitionen in Deutschland – in die Bildung, die Infrastruktur, für Familien und die Energiewende. Die Bundesrepublik sei schon aus eigenem (wirtschaftlichen) Interesse in der Pflicht, durch den investitionsorientierten Abbau von Leistungsbilanzüberschüssen zur Stabilisierung der Währungsunion beizutragen. Diese Ausgaben hätten zwar eine leicht steigende Inflation zur Folge, seien aber mit Blick auf Deutschlands Zukunft nötig und ein Akt der Solidarität mit ganz Europa. Denn die Angleichung der Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse sei nicht möglich, wenn lediglich die Krisenländer zum Sparen gezwungen werden.

Diese Aussagen leiteten über zur Podiumsdiskussion „Wie viel Solidarität braucht die EU?“ mit dem Bayerischen Landwirtschaftsminister Helmut Brunner und den Europaparlamentariern Kerstin Westphal und Manfred Weber. Die SPD-Abgeordnete Westphal konnte den Aussagen des Wissenschaftlers nur zustimmen und freute sich darüber, dass Investitionen sowie Hilfe für und kritische Begleitung der Krisenländer auch im Koalitionsvertrag auf Bundesebene betont werden. Auch Helmut Brunner betonte: „Es ist weder in Berlin noch in Bayern umstritten, dass diesen Ländern geholfen werden muss“, musste sich von der Europaabgeordneten aber die Kritik anhören, dass gerade die Landesregierungen in Problemsituationen den Schwarzen Peter gerne zur Europäischen Union schieben.

Manfred Weber, als CSU-Mitglied stellvertretender Vorsitzender der EVP-Fraktion in Straßburg bzw. Brüssel, sieht Europa auf dem Weg aus der Finanz- und Wirtschaftskrise – allerdings nicht aus der Glaubwürdigkeitskrise. Die europäische Politik habe in der Vergangenheit zu wenig kommuniziert: seien es die Fehler bei der Aufnahme Griechenlands in die Eurozone, sei es die Notwendigkeit eines strikten Durchgreifens aus dem Höhepunkt der Krise oder sei es die Tatsache, dass auch Bayern direkt von Europa profitiert durch jährliche Zuweisungen aus dem Strukturfonds von mehreren hundert Millionen Euro. Professor Johann Graf Lambsdorff mahnte in diesem Zusammenhang: „Die Probleme der Krise müssen gelöst werden, nicht die Schuldfrage.“ Auch die Diskussion über die Größe Europas hält er für die falsche: die politische Einstellung der EU sei entscheidend, nicht ihre Mitgliederzahl.

Welche Vision haben die Beteiligten der Diskussionsrunde nun von einem Europa in zwanzig Jahren? Bayerns Landwirtschaftsminister hofft, dass sich bis dahin die Diskussionskultur verändert hat: Rentiert sich die EU für uns? Warum orientiert Ihr Euch nicht an uns? „Das ist der falsche Ansatz“, meint Helmut Brunner, „wir müssen andere Traditionen und Werte anerkennen, und ich bin nicht sicher, ob dieser Prozess in zwanzig Jahren abgeschlossen ist. Allen sollte aber klar sein: zum europäischen Werte-, Wirtschafts- und Währungsbündnis gibt es keine sinnvolle Alternative.“  Der Europaabgeordnete Manfred Weber möchte ein wirtschaftlich und politisch gestärktes Europa – was bedeute, auch den Regionen Selbständigkeit zuzugestehen. Kerstin Westphal erwartet ein europäisches Parlament mit mehr Eigeninitiative. Sie befürchtet aber, dass gleichzeitig eine extrem europakritische Generation ans Ruder kommen könnte, die durch die aktuelle Krise und extremistische Ansichten geprägt ist. Ähnlich denkt auch Graf Lambsdorff, und kritisierte dabei den aktuellen Koalitionsvertrag in Berlin: „Ich lese da viel von Mütterrente, Frühverrentung,  Klientelpolitik. Aber ich lese nichts von großen europäischen Fragen. Da schwinden meine Hoffnungen auf Europa.“

Die Veranstaltungsreihe „Fragen an Europa“ ist ein Gemeinschaftsprojekt der Akademie für Politische Bildung Tutzing, der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, Europäischen Akademie Bayern e.V. sowie der Vertretung der Europäischen Kommission in München.


Bildergalerie

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