Europa auf Wanderung

Die Freizügigkeit in der EU: Chancen und Herausforderungen

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 16.01.2013

Von: Andreas Kalina und Susanne Prechtl

# Europäische Integration, Migration

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Auf dem Podium diskutieren (v. l.): Verena Dietl, Martin Neumeyer, Gudrun Blänsdorf (Moderation), Hep Monatzeder und Ludwig Baur. (Foto: Prechtl)

Die Zeit der großen Völkerwanderungen ist vorbei? Sicherlich sind heute, anders als in der Spätantike, keine ganzen „Volksstämme“ unterwegs. Und auch die Motivation für das Verlassen des heimatlichen Territoriums ist eine andere. Doch es steht fest: Europa ist auf Wanderung – die Freizügigkeit in der EU erlaubt es Unionsbürgern, über die Grenzen ihres Heimatlandes hinweg nach Arbeit zu suchen und sesshaft zu werden. Eine Bestandsaufnahme der europäischen Binnenmigration sowie die damit verbundenen Chancen und Herausforderungen liefert die Tagung „Europa auf Wanderung“, die die Akademie für Politische Bildung Tutzing in Zusammenarbeit mit der Interkulturellen Akademie der Inneren Mission München ausrichtete.

Das 21. Jahrhundert wird – wie kein anderes bisher – im Zeichen einer grenzüberschreitenden (Arbeitnehmer-)Mobilität und Zuwanderung stehen – insbesondere im europäischen Raum. Maßgebende Anreize hierzu sind die EU-Integration, aber auch spezifische Phänomene wie die aktuellen Staatsverschuldungskrisen, einhergehend mit einem sich verschärfenden Nord-Süd-Gefälle oder auch der durch den demografischen Wandel bedingte Fachkräftemangel in West- und Mitteleuropa. Die damit verbundenen Herausforderungen reichen weit über die Arbeitsmarktsituation hinaus: Sie beanspruchen die sozialen Systeme ebenso wie die Notwendigkeit der Integration ins gesellschaftliche und politische Leben.

Ein Diskurs über die politischen Gestaltungsmöglichkeiten

Gerade die soziale und gesellschaftliche Komponente der europäischen Zuwanderung stellt die Politik sowie Wirtschafts- und Sozialverbände vor neue Aufgaben. Hep Monatzeder, der dritte Bürgermeister der bayerischen Landeshauptstadt, spricht für die Stadt München: „Wir sind gut aufgestellt und können mit Zuwanderung umgehen. Aber der Bereich wird immer komplexer und wir sind auf Unterstützung von Land, Bund und EU angewiesen.“ Der Integrationsbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung, Martin Neumeyer, sieht neben strukturellen Problemen auch ein psychologisches: „Wir müssen es schaffen, dass in unseren Köpfen EU-Bürger zu EU-Inländern werden.“ Monatzeder stellt die Chancen der Zuwanderung für die Stadt München heraus: „Nicht nur unsere Wirtschaft, sondern auch unsere Kultur profitiert von der Zuwanderung und dem damit einhergehenden Zuwachs der interkulturellen Atmosphäre.“ Ludwig Baur von der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft e.V. rückt dagegen den Bedarf an hochqualifizierten Fachkräften für die Unternehmen in den Vordergrund: „Um den Wohlstand zu halten, den wir jetzt als selbstverständlich ansehen, brauchen wir Zuwanderung.“ Gleichzeitig gibt er zu bedenken: „Wir müssen schneller reagieren, um auf dem Weltmarkt Schritt zu halten. Die Chancen dazu haben wir.“ Neumeyer warnt davor, ausschließlich auf die Arbeitsmarktsituation zu schauen: „Bei der Zuwanderungsdebatte dürfen wir nicht vergessen, die Bevölkerung mitzunehmen. Schließlich muss die Willkommenskultur auch mit Inhalten gefüllt werden.“ Verena Dietl, die Geschäftsführerin von Aktiv für interkulturellen Austausch e.V., schließt sich dieser Sichtweise an: „Interkulturelle Öffnung heißt, dass wir Interkulturalität auch leben müssen. Die Menschen, die hierher kommen, sollen sich schnell eingewöhnen. Dabei müssen wir sie unterstützen.“

Seid nett zueinander

Willkommenskultur – was ist das eigentlich? Mit einem bloßen Appell an Gastfreundlichkeit und Offenheit im Umgang sei es nicht getan, so der Münsteraner Professor Dietrich Thränhardt: „Willkommenskultur ist stark von der Willkommensstruktur abhängig.“ Dabei bescheinigt er der Bundesrepublik, gut aufgestellt zu sein: „Die Leistungen für Einwanderer sind sehr gut. Nur verkauft sich Deutschland als Einwanderungsland schlechter, als es ist.“ Es herrsche schon seit der Zuwanderung der ersten Gastarbeiter die „Doktrin der sozialen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung“, was sich etwa auch in der Mitgliederzusammensetzung der Gewerkschaften und Betriebsräte widerspiegle: „Das sind die Organisationen, in denen die Integration am besten funktioniert.“ Doch Thränhardt macht auch deutliche Schwächen in anderen Lebensbereichen aus: „Schon allein die Frage ‚Wo kommen Sie eigentlich her?’ muss aufhören.“ Als eine Ursache führt er ein grundsätzliches Mentalitätsproblem an: „Wir Deutsche haben wenig Nationalbewusstsein, das inkludieren könnte. Andererseits sind wir aber auch nicht bereit, uns kulturell zu öffnen.“ Er plädiert dafür, mehr Anreize zur Einbürgerung zu schaffen: „Das verschafft Zuwanderern sowohl die Möglichkeit der vollen demokratischen Beteiligung als auch der emotionalen Zugehörigkeit und Identifikation.“

Arbeitnehmerfreizügigkeit in Zeiten der europäischen Krise

Doch eine Einbürgerung kommt für viele Binnenmigranten aus Gründen der Mobilität nicht in Frage: „Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine Grundfreiheit, die es jedem Unionsbürger ermöglicht, in einem anderen EU-Staat zu arbeiten. Daneben existiert die Dienstleistungsfreiheit für Unternehmen“, so Dr. Henning Arp, der Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in München. Gerade wegen des Auseinanderklaffens der Entwicklungen auf dem europäischen Arbeitsmarkt und der sich öffnenden Nord-Süd-Schere möchten es sich Arbeitnehmer offenhalten, dorthin zu gehen, wo Arbeit ist. „Vor allem jetzt in der Krise ist Deutschland mit seiner günstigen Arbeitsmarktsituation ein Zuwanderungsmagnet, was der Fachkräftesicherung zu Gute kommt“, so Dr. Carola Burkert vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. Allerdings warnt sie auch vor dem sogenannten „Brain Drain“: „Durch die Emigration gut ausgebildeter und hochqualifizierter Arbeitskräfte entstehen volkswirtschaftliche Verluste im Herkunftsland.“ Doch bevor sich Fachkräfte an einem anderen Arbeitsmarkt innerhalb der EU adäquat etablieren können, ist zunächst eine Anerkennung ihrer beruflichen Qualifikationen erforderlich. Damit beschäftigt sich Isabelle Le Mouillour vom Bundesinstitut für Berufsbildung: „Für eine europaweit vergleichbare Einordnung der Qualifikationen ist nicht nur der Abschluss ausschlaggebend. Alle Teile der Lernbiografie müssen berücksichtigt werden. Oftmals ist eine individuelle Validierung notwendig.“ Doch von der Arbeitnehmerfreizügigkeit machen nicht nur Fachkräfte, sondern auch „Armutsmigranten“ gebrauch. „Wir müssen immer auch an die andere Seite der Medaille denken. Die EU betreibt eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik und stärkt die schwachen Regionen“, so Arp. Carola Burkert übt Kritik an der im EU-Beitrittsvertrag für Bulgarien und Rumänien festgelegten Übergangsregelung: „Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eingeschränkt, aber die Dienstleitungsfreiheit ist zugelassen. Das ist eine Fehlsteuerung.“

Europa ohne Grenzen?

Aber kann man aufgrund der stetig zunehmenden Mobilität innerhalb der EU von einem „Europa ohne Grenzen“ sprechen? „Ich bevorzuge ‚Grenzdiffusion’, denn Europa ist ein historisch gewachsenes Konstrukt“, so Dr. Andreas Pudlat von der Stiftung Universität Hildesheim. Dem Begriff der „Grenze“ hafte sowohl eine positive als auch eine negative Konnotation an: „Einerseits bieten Grenzen Schutz und tragen zur Identitätsstiftung bei. Andererseits sind sie Verkehrs- und Handelsbarrieren und damit ein Kostenfaktor und Wirtschaftshemmnis.“ Pudlat zeichnet die Entwicklungen nach, die schließlich zum Schengener Übereinkommen und seinen Folgeverträgen führten: „Es geht nicht um den Abbau von Grenzen, sondern um den Wegfall von Grenzkontrollen. Aber in den Köpfen verschwinden die Grenzen mehr und mehr.“ Doch gleichzeitig gibt er zu bedenken: „Damit wir im Inneren ohne ‚Grenzen’ leben können, gibt es eine massive Kontrolle an den Außengrenzen. Gerade auf der affektiven Ebene haben die Bürger Angst vor Drogen, Waffen und Kriminalität.“ Pudlat plädiert für eine positivere Wahrnehmung der Migration: „Zuwanderung kann nur funktionieren, wenn sie als etwas Natürliches angesehen wird. Die Frage ist, ob eine ‚Wir-Identität’ entstehen und auch über problematische Grenzen hinweg wachsen kann.“

„Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen“ (Max Frisch)

In seiner Identität ist Giuseppe Schillaci, Vorsitzender des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrates, mehr Deutscher als Italiener, schätzt aber dennoch seine Wurzeln. Schillaci, der vor über 50 Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland einwanderte, beschreibt ein grundsätzliches Problem vieler Zuwanderer: „Die meisten sind mittlerweile Fremde in ihrem Herkunftsland, doch auch in Deutschland bleiben sie Ausländer.“ Vor allem beklagt er die Unterrepräsentation von Zuwanderern in der Politik, obwohl zivilgesellschaftliches und parteipolitisches Engagement auch ohne Staatsbürgerschaft möglich ist: „Ich gebe den Parteienvertretern einen Tipp: Ausländer- und Integrationsbeiräte sind wahre Schatzkammern zur Rekrutierung von Nachwuchspersonal. Und Politiker mit Migrationshintergrund erhöhen die Wahlbeteiligung.“

„Wir haben keine Wohnungen.“

Die Schwierigkeiten für Zuwanderer beginnen oft schon bei der Suche nach einer geeigneten Bleibe. Gerade in München ist die Situation am Wohnungsmarkt prekär: „Wer nicht in der Lage ist, mit eigenen Geldmitteln eine Wohnung am freien Mietmarkt anzumieten, hat das Nachsehen“, so der Leiter des Amtes für Wohnen und Migration der Landeshauptstadt München, Rudolf Stummvoll. Seit etwa fünf Jahren herrsche Wohnungsknappheit in der am dichtesten besiedelten Stadt Deutschlands – und neuer Wohnraum sei Mangelware, wie Stummvoll zu bedenken gibt: „50.000 bis 60.000 Wohnungen können noch neu geschaffen werden, dann ist endgültig Schluss.“ Eigentlich möchte sich München von einer anderen Seite präsentieren, wie Stummvoll beteuert: „Unser Credo ist es, dass jeder, der zuzieht, willkommen ist und wir für Chancengleichheit und geeignete Rahmenbedingungen sorgen. München versteht sich als solidarische Stadtgemeinschaft in der Verantwortung aller.“ Doch die insbesondere seit 2007 stark zunehmende Armutszuwanderung stellt die Stadt vor große Herausforderungen – fast alle Lebensbereiche sind betroffen:

  • Arbeitsmarkt: Die Arbeitslosenquote ist unter Ausländern deutlich höher
  • Wohnen: Die Nachfrage nach Sozialwohnungen ist etwa zehn Mal höher als das Angebot – Wartezeiten von fünf Jahren müssen in Kauf genommen werden
  • Bildung: Schul- und Ausbildungsabbruch ist unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund überproportional häufig
  • Gesundheitsversorgung: Menschen aus der Armutsmigration haben keine Krankenversicherung

Doch für alle vier Handlungsbereiche unternimmt die Stadt München verschiedenartige Anstrengungen, um die Probleme in den Griff zu bekommen: zum Beispiel mit einem spezifischen Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramm für Ausländer, speziell zugeschnittenen Sprach- und Bildungsangeboten, mit dem Projekt „Bildung statt Betteln“ oder einem engen Schulterschluss mit benachbarten Kommunen, um geeigneten Wohnraum in der Region zur Verfügung zu stellen. Die Schuld auf die EU schieben, das möchte Rudolf Stummvoll nicht: „Man darf nicht vergessen, was wir von der EU haben. München ist nicht zuletzt wegen der Zuwanderung eine so prosperierende Stadt.“


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