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Antisemitismus in Deutschland

Klassisches Forschungsfeld im europäischen Vergleich


Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 26.05.2013

Von: Miriam Zerbel und Anna Ehrhart

# Gesellschaftlicher Wandel, Nationalsozialismus, Zeitgeschichte


Jeder fünfte Deutsche gilt als latent antisemitisch - so das Ergebnis eines Expertenkreises im Auftrag des Bundestages. Ein erschreckendes Ergebnis dem sich die Referenten der Tagung vom 24. und 25. Mai stellten. Dabei ging es vor allem um die Einordnung in den historischen und aktuellen Kontext.

Vor einer Ritualisierung bei der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus warnte gleich zu Beginn Tagungsleiter Dr. Michael Mayer. Er forderte eine aktive Auseinandersetzung mit der Judenfeindschaft. „Derzeit gelingt es uns nicht, einige Teile der Gesellschaft zu erreichen.“

Stereotypen und Feindbilder

Sein Engagement in der Auseinandersetzung mit dem Thema zeigte Dr. Thomas Gräfe. Trotz eines Bandscheibenvorfalls referierte Gräfe, der der Tagung per Videotelefon zugeschaltet war, über Stereotypen und Feindbilder im deutschen Kaiserreich. In seinem „Versuch einer Typologisierung“ sprach er vom modernen Antisemitismus als antiliberale Protestbewegung. Während für viele Protestenten  und auch Katholiken Juden ein Symbol der antichristlichen Moderne waren, ging es im Rahmen einer rassistisch-nationalistischen Typologisierung um etwas ganz anderes. Gefordert wurde vor allem von völkischen Bewegungen Juden aus der Nation auszuschließen. „Der Gegenbegriff zu Jude war nicht mehr Christ, sondern Deutscher oder Germane“, sagte der Historiker. In der Rassentheorie der Nationalsozialisten wurden Juden nicht mehr nur als Gegenrasse, sondern als „minderwertige“ Rasse bezeichnet.

Aktuell habe der Antisemitismus zwar subtilere Formen angenommen, aber die alten Feindbilder seien nach wie vor präsent. „Man sollte die Stereotypen des alten Antisemitismus kennen, bevor man über den neuen Antisemitismus sprechen kann“, so Gräfes Forderung.

Revision der Judenemanzipation

Über aktuellere Stereotypen sprach Professor Peter Longerich, von der Universität der Bundeswehr München. Im Fokus standen dabei vor allem die Verbindungslinien zwischen dem klassischen Forschungsfeld des Antisemitismus im Kaiserreich und dem der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik und unter den Nationalsozialisten. „Der Antisemitismus als langfristige Fehlentwicklung hat seine Wurzeln im Kaiserreich“, erläuterte Longerich. Ob das ein „Sonderweg“ gewesen sei, ergebe sich nur durch den Vergleich mit anderen Ländern. Zudem habe es im Kaiserreich eine verwirrende Vielfalt antisemitischer Strömungen mit unterschiedlichen Zielen gegeben, die weit in der Gesellschaft verbreitet waren. Radikale Judenfeinde, deren Ziel es gewesen sei, die Emanzipation der Juden wieder rückgängig zu machen, scheiterten zunächst. Und zwar am Widerstand des konservativen Establishments. Das habe sich dann nach 1918 geändert.

Synonym für Linke und Demokratie

Longerich beklagte zwar Forschungsdesiderate zum Antisemitismus in der Weimarer Republik stellte aber gleichwohl eine Radikalisierung der Judenfeindschaft fest: Die extreme Rechte habe eine „eleminatorische Hetze“ betrieben. Während der Weimarer Republik sei Antisemitismus zum Synonym für Feindschaft gegen die Linke und die demokratische Ordnung geworden. Zu wenig werde in der Forschung auch die Rückbesinnung auf großdeutsche Vorstellungen und damit einhergehend auf eine kulturelle Homogenität des Volkes gesehen.

Der Verbindung des rechtskonservativen Lagers und der Nationalsozialisten habe zunächst nur deren gewalttätige Umgang mit den Juden im Weg gestanden. „Das bürgerliche Lager hatte mehr Angst vor dem Pogrom-Antisemitismus als vor dem, was im Programm der NSDAP stand“, sagte Longerich.

Von 1939 an habe die Politik der Nationalsozialisten dann in der „Entjudung“ der Gesellschaft in Europa bestanden. Abschließend sprach Longerich von einem chameleonhaften Wandel des Antisemitimus, der zugleich Kontituitäten aufzeige.

Antisemitismus kein Kapitel der Vergangenheit

Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus sei der Antisemitismus in Deutschland nicht einfach verschwunden, stellt Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin klar. Während die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Nachkriegszeit zunächst im Keim erstickte, waren antisemitische Haltungen und Ressentiments weiterhin in der deutschen Bevölkerung vorhanden. Ab 1957 ist ein Anstieg der Zahl antisemitischer Übergriffe zu verzeichnen, wie beispielsweise die Schändung der Synagogen in Düsseldorf und Köln 1959 durch Hakenkreuz-Symbole oder „Juden raus“- Parolen.

Im europäischen Vergleich ist Antisemitismus nicht auf die Länder beschränkt, die eine unmittelbare nationalsozialistische Vergangenheit haben, wie Deutschland, Österreich oder die DDR: antisemitisches Potenzial ist international verbreitet und keine spezifisch deutsche Problematik.

Dennoch zeigten aktuelle Ereignisse und die daraus folgenden gesellschaftlichen und politischen Debatten, wie die Möllemann-Affäre 2002, die Hohmann-Rede von 2003 oder zuletzt 2012 die Veröffentlichung von Günter Grass´ Gedicht „Was gesagt werden muss“, welche Reaktionen der Zustimmung und der Kritik zum Thema Antisemitismus in Deutschland vorhanden seien.

© Prof. Peter Longerich zu Antisemitismus in Deutschland

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