Von der Schulden- zur Systemkrise

Hans-Werner Sinn, Theo Waigel und Joachim Poß in der Akademie

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 15.10.2012

Von: Sebastian Haas

# Europa, Wirtschaft

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Poss-Mayer-Schroeder-Waigel-Tutzing

Podiumsdiskussion zum Abschluss unserer Tagung "Von der Schulden- zur Systemkrise". Während Theo Waigel (von rechts) spricht, hören ihm Tagungsleiter Michael Schröder, Thomas Mayer und Joachim Poß zu.

Einen Rettungsschirm nach dem anderen spannt der Bundestag über dem Euro auf – und das Bundesverfassungsgericht muss über die Verfassungsmäßigkeit des Rettungsfonds ESM und des Fiskalpakts urteilen. Südeuropäische Banken werden mit größter staatlicher Anstrengung vor der Pleite gerettet. Ist Griechenland noch zu retten? Und wann platzt die Schuldenblase mit welchen Konsequenzen für Europa? Der Zeitpunkt für unsere Tagung „Von der Schulden- zur Systemkrise?“ hätte nicht aktueller und besser gewählt werden können.

Gemeinsam mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Journalismus fragten die Akademie für Politische Bildung Tutzing, die Deutsche Vereinigung für Politische Bildung (Landesverband Bayern) und der Bayerische Philologenverband nach der Stabilität unserer Demokratie angesichts einer Verschuldungskrise in bisher nie gekanntem Ausmaß: Nährt die Euro-Debatte nationalistische und separatistische Strömungen? Haben Populismus und Extremismus wieder mehr Aufwind in Europa? Führt ein Weg zurück zur D-Mark? Wie soll Europa in Zukunft aussehen – und gibt es Alternativen zur EU? Und das waren die beiden Top-Themen:

Wo sind die positiven Perspektiven für den Euro?

Professor Hans-Werner Sinn, der Direktor des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, ist für klare Worte bekannt. Die, die er in der Akademie für Politische Bildung wählte, zeichneten ein dunkelschwarzes Bild von der aktuellen Lage des Euro – und praktisch keine positive Perspektive.

Der Euro ist ein großes Friedensprojekt? Falsch! Er sorgt in Europa für Streit wie nie, vor allem Deutschland und seine Regierungschefin stehen im Kreuzfeuer der Kritik. Doch warum eigentlich? „Weil die Regeln der Ökonomie stärker sind als die der Politik, und wer klare Regeln aufzeigen will, bekommt eins drauf.“

Geld in Griechenland pumpen, um die dortige Wirtschaft am Leben zu erhalten? Falsch! Hans-Werner Sinn befürwortet einen zeitweiligen Austritt mancher Länder aus der Eurozone, dazu Liquiditätshilfen und eine Konkursordnung; ansonsten werde der Euro zerbrechen. Seit Beginn der Krise habe nur Irland mit unfassbar harten Einschnitten und Lohnsenkungen eine Trendwende geschafft und sei wieder wettbewerbsfähig geworden. „Wenn die Griechen aber weiter teure Tomaten und Gurken aus Holland importieren statt ihre eigenen Oliven zu essen, werden sie nicht aus der Krise finden. Sie müssen für den eigenen Bedarf billig produzieren.“

Käufe von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank? Falsch! Die ständige deutsche Opposition gegen diesen Kurs werde Folgen haben, verkündete der ifo-Chef – ohne aber ins Detail zu gehen. Außerdem werde das Thema wieder in den Fokus der Öffentlichkeit rücken, wenn sich das Bundesverfassungsgericht im Frühjahr 2013 dazu äußern werde.

Eine demokratische Legitimierung all der europäischen Rettungssummen? Sind trotz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom September kaum vorhanden. Bisher sind nach Angaben Sinns 1,4 Billionen Euro an Garantien geflossen – davon vier Fünftel direkt über die EZB und ohne Rücksprache mit den Parlamenten.

Eine ständige Aufhäufung von Target-Salden? Falsch! Um das System der Target-Salden zu erklären, benötigte Hans-Werner Sinn geschlagene zehn Minuten. In aller Kürze kann man es so zusammenfassen: Die Zahlungen innerhalb Europas sind völlig unübersichtlich geworden, es besteht ein System aus Krediten, Rückkrediten, Absicherungen und Kapitalfluchten – und am Ende ist die Deutsche Bundesbank gezwungen, ständig Kredite auszugeben, während die Nationalbanken der Schuldnerländer immer mehr Euros drucken. Und warum steigt dann die Inflation auch bei uns nicht dramatisch? Weil die Bundesbank das Geld, das sie einnimmt, tatsächlich schreddert! So sind nun deutsche Forderungen in Höhe von knapp 700 Milliarden Euro entstanden – das ist in etwa so viel, wie Deutschland von Anfang 2008 bis Mitte 2012 an Werten exportiert hat.

Ganz im Gegensatz zu den Ausführungen des ifo-Chefs standen die des ehemaligen Bundes-Finanzministers Theo Waigel. Der bildete ein Podium zu unserem Tagungsthema zusammen mit Joachim Poß, dem stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Bundestag, und dem ehemaligen Chefvolkswirt der Deutschen Bank Thomas Mayer. Gut 100 Gäste waren zu der öffentlichen Podiumsdiskussion am Sonntagmorgen ins Auditorium der Akademie für Politische Bildung gekommen.

Ohne den Euro wird nichts besser

Aus Theo Waigels Sicht – dessen Vater zwei Weltkriege miterlebte und dessen Bruder 18-jährig in Lothringen fiel – ist das heutige Europa mit der gemeinsamen Währung ein voller Erfolg und hat den Friedensnobelpreis 2012 verdient. Er ist überzeugt: der Euro kann gerettet werden und sollte gerettet werden. „Wer glaubt, dass nach dem Euro alles besser ist, der täuscht sich gewaltig“, meint Waigel und sprach sich auch gegen eine Nord-Süd-Union in Europa aus – das alles könne aber nur vermieden werden, wenn zum Beispiel

  • in Italien die Populisten nicht wieder an die Macht kommen
  • Griechenland endlich seine Strukturprobleme lösen will
  • die Finanzmärkte stärker reguliert werden und eine Transaktionssteuer eingeführt wird.

Was nicht vergessen werden darf: Theo Waigel ist als ehemaliger deutscher Finanzminister einer der Väter des Euro - und einer der Väter der Fehler des Euro. Er gibt zu, dass man „bei der Erziehung“ der Mitgliedsländer zu lange zu nachlässig gewesen sei, trotz oder vielleicht gerade wegen 20 Jahre der Vorbereitung der Gemeinschaftswährung. Ein großer Vertrauensverlust in Politik und Währung sei beispielsweise eingetreten, als man den Stabilitätspakt in dem Moment aufweichte, in dem Deutschland und Frankreich die Kriterien dafür verletzten – während viele kleine Länder noch bestraft wurden.

SPD-Fraktionsvize und Finanzexperte Joachim Poß war sich mit Theo Waigel im Kern einig:

  • gegen „perverse“ Gehälter und Boni im Finanzsektor vorgehen
  • ein Ende mit der Sozialisierung der Schulden im Finanzmarkt
  • ohne den Euro gibt es in Europa eine Welle der De-Integration.

In zwei Punkten aber ging er auf Konfrontation mit dem ehemaligen Finanzminister: Erstens sei die Aufnahme Griechenlands in den Euro von Anfang an unverständlich gewesen („man hat doch von den Defiziten und schlechten Bilanzen gewusst, sich einlullen und betrügen lassen“). Zweitens sei – und diese Bemerkung sorgte für Erstaunen beim Publikum – die Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes richtig gewesen. Nach Meinung von Joachim Poß haben die flexiblen Regelungen zu größerer Disziplin in guten Wirtschaftszeiten geführt, so wie jetzt bei der Schuldenbremse.

Europäisch denken und leben

Außerdem empfiehlt Poß seinen Kollegen im Bundestag, sich noch intensiver mit europäischen Themen zu beschäftigen: „Wir müssen noch mehr europäisch denken, uns auch vor Ort in Madrid, Dublin oder Athen informieren und dürfen uns nicht den schrillen Tönen der Medien anpassen. Unsere Lösungen müssen das Ergebnis demokratisch legitimierter Politik bleiben – egal ob in Bayern, Deutschland oder Europa.“

Die weiteren Themen vom 12. bis 14. Oktober 2012: Ist Griechenland noch zu retten? (Dr. Jens Bastian, EU-Kommission Athen); Regulierung der Finanzmärkte – was wurde erreicht, was bleibt zu tun? (Franz Josef Benedikt, Deutsche Bundesbank München); Von Krise zu Krise – Markt- oder Politikversagen? (Prof. Dr. Peter Hampe, TU Dresden); Die Gründungsgeschichte der DVPB Bayern (Adalbert Brunner); Nachhaltige Finanzentwicklung – die Wirtschaftskrise im Unterricht (Prof. Dr. Bernd Overwien, Universität Kassel).


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