Scharpings Tutzinger Rede

Ein Mediencoup macht Schlagzeilen

November 1994




Wenige Wochen nach der aus SPD-Sicht verlorenen Bundestagswahl 1994 fand Ende November in Zusammenarbeit mit dem „Seeheimer Kreis" der SPD eine Tagung unter dem Titel „SPD – quo vadis?" zur deutschen Parteienlandschaft an der Jahrhundertwende" in der Tutzinger Akademie statt.

In den überlieferten Unterlagen heißt es dazu geradezu prophetisch:

„Die Tagung wird u.a. wegen der Art des Publikums, eines Teils der Referenten und des zu erwartenden Echos in der Öffentlichkeit mit unseren herkömmlichen Maßstäben nicht zu messen sein."

Als der zuständige Akademiedozent Jürgen Maruhn (1937–2013) diese Zeilen in einem hausinternen Rundschreiben vom 27. September 1994 niederlegte, konnte er noch nicht wissen, wie Recht er damit haben sollte. Doch wie kam es dazu?

Die Wahlen vom 16. Oktober 1994 zum 13. Deutschen Bundestag hatten eine knappe Bestätigung der bestehenden schwarz-gelben Regierungskoalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl erbracht. Als Kanzlerkandidat für die SPD war der Parteivorsitzende und rheinland-pfälzische Ministerpräsident Rudolf Scharping ins Rennen gegangen. Ursprünglich war Björn Engholm als SPD-Kanzlerkandidat vorgesehen gewesen. Engholm hatte jedoch im Mai 1993 nach den Enthüllungen im Zusammenhang mit der sogenannten „Barschel-Affäre“ als schleswig-holsteinischer Ministerpräsident, als Vorsitzender der SPD und als Kanzlerkandidat seinen Rücktritt erklärt. Nach dem kurzfristigen Amtsverzicht von Engholm standen für den SPD-Vorsitz drei Kandidaten zur Verfügung: Heidemarie Wieczorek-Zeul, Rudolf Scharping und Gerhard Schröder.

Aus der erstmals praktizierten SPD-Mitgliederbefragung ging Scharping im Juni 1993 mit (nur) 40,3 Prozent der abgegebenen Stimmen als Sieger hervor. Das plebiszitäre Vorgehen bei der Bestimmung des Parteivorsitzenden hatte der Partei, nach Einschätzung namhafter SPD-Politiker, zu neuem Schwung verholfen; es wurde gar von einer Art Aufbruch gesprochen. Dessen ungeachtet ging das innerparteiliche Machtgerangel an der Spitze unverhohlen weiter.

Zerrissen im Wahlkampf

Begleitet von heftigen Spannungen und Richtungskämpfen zog der frisch gekürte und basisdemokratisch legitimierte SPD-Vorsitzende Rudolf Scharping zusammen mit Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder in Gestalt der sogenannten „Troika“ in den Bundestagswahlkampf 1994. Dabei brachte es die SPD nicht fertig, sich als regierungsfähige Alternative zu präsentieren, sondern trat vielmehr als zerrissene Partei vor die Wähler. Das sollte sich rächen. Am Wahltag lag die Union mit 41,4 Prozent vor der SPD mit 36,4 Prozent. Schwarz-Gelb führte hauchdünn mit zusammen 48,3 Prozent vor der rot-rot-grünen Opposition mit 48,1 Prozent. Nicht zuletzt dank der zwölf Überhangmandate für die CDU konnte Schwarz-Gelb weiterregieren.

Politische Schwergewichte

Vor dem Hintergrund dieser, wenn auch knappen Wahlniederlage wurde in der Tutzinger Tagung die Frage „SPD – quo vadis?“ erörtert. Als Redner waren unter anderen politische Schwergewichte wie Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der Bundeskanzler der Republik Österreich und SPÖ-Vorsitzende Franz Vranitzky, die bayerische SPD-Vorsitzende Renate Schmidt, Bundestagsvizepräsident Hans-Ulrich Klose, die frühere Präsidentin des Deutschen Bundestages Annemarie Renger, der ehemalige Bundesminister Hans-Jürgen Wischnewski, SPD-Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen, der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse und der geschäftsführende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag Albert Schmid zugegen.

Stegreifrede in der Akademie

Der Auftritt von Rudolf Scharping war allerdings im offiziellen Tagungsprogramm nicht einmal angekündigt. Das lag vermutlich daran, dass auf dem prallvollen Wochenendkalender des vielbeschäftigten Partei- und Fraktionsvorsitzenden Tutzing eher in der Kategorie Eventualtermin rangierte. Um so überraschender war sein Erscheinen und dessen Nachklang: Scharping hielt in der Akademie eine Stegreifrede zur Zukunftsorientierung der Sozialdemokratie, die in den Medien ein Echo fand, wie es seit dem Godesberger Programmparteitag von 1959, der außenpolitischen Bundestagsrede Herbert Wehners vom 30. Juni 1960 sowie dem Vortrag von Egon Bahr vom 15. Juli 1963 in der benachbarten Evangelischen Akademie unter dem Titel „Wandel durch Annäherung“ nicht zu verzeichnen gewesen ist. Sie ist als „Scharpings Tutzinger Rede“ in die (Akademie-)Geschichte eingegangen. Die Zeit sprach gar von einem „Mediencoup erster Güte“.

„Kurswechsel“ und „Kulturrevolution“

Dabei hatte Scharping im Kern eigentlich nur das wiederholt, was zuvor bereits im SPD-Regierungsprogramm und in einer Analyse der Bundestagswahl zu lesen stand sowie im Parteivorstand und in einer Rede vor der Bundestagsfraktion von ihm vorgetragen worden war. In Tutzing hatte Scharping bei seiner SPD „eklatante Schwächen“ sowie einen „hohen Renovierungsbedarf“ diagnostiziert und einen Modernisierungskurs mit dem Ziel der „zukünftigen Mehrheitsfähigkeit der Sozialdemokratie“ angekündigt. Dazu rechnete er eine stärkere Öffnung der Partei für wirtschaftliche Fragen und neue Technologien ebenso wie den Umbau des Sozialstaates und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen. Auf deutliche Kritik stießen Organisation und Erscheinungsbild der Partei, insbesondere nach den Erfahrungen des jüngsten Wahlkampfes. Scharping wörtlich: „Und wenn dann innerhalb der SPD auch noch eine gewisse Neigung zu kleinen Nickeligkeiten und Eitelkeiten etwas zurückgedrängt werden könnte, dann wäre das für den Mannschaftsgeist des Ladens nicht ganz unwichtig.“ Laut einhelliger Presseberichterstattung – ein „einschneidender Kurswechsel“. Die Süddeutsche Zeitung meldete eine „Kulturrevolution“, die Welt berichtete von Scharpings „Befreiungsschlag“, und die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte Scharpings Tutzinger Auftritt wohlwollend als „Paukenschlag“.

Scharpings Erfolg währte indes nicht lange. Denn bereits auf dem Mannheimer Parteitag vom November 1995 unterlag er in einer Kampfabstimmung um den Parteivorsitz dem damaligen Ministerpräsidenten des Saarlandes Oskar Lafontaine. Nie zuvor hatte die älteste Partei Deutschlands einen Vorsitzenden so gnadenlos beiseitegeschoben wie Rudolf Scharping nach nur 28 Monaten Amtszeit.

 

Steffen H. Elsner


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