Romano Guardini und die Akademie

Eine Erinnerung an unseren Wegbereiter zum 50. Todestag

Januar 2018



Katholische Akademie in Bayern


Romano Guardini (1885-1968) war ein prominenter Vorredner und Wegbereiter der Akademie für Politische Bildung und vom 9. September 1957 bis zu seinem Tode am 1. Oktober 1968 Gründungskurator und Kuratoriumsmitglied. Guardini war sehr bemüht, die politische Bildung nach dem Nationalsozialismus radikal umzugestalten, und pflegte ein enges Verhältnis zu unserem Gründungsdirektor Felix Messerschmid. Hier finden Sie die gesamte Abhandlung als PDF.

Einen wichtigen Meilenstein mit Blick auf die spätere Akademiegründung stellten die Tagungen des Grünwalder Arbeitskreises im Juli und Dezember 1955 dar. Namhafte deutsche Wissenschaftler, Pädagogen, Politiker und Beamte waren in der Sportschule Grünwald vor den Toren Münchens zusammengekommen, um sich Gedanken um Konzeption und institutionelle Absicherung der politischen Bildungsarbeit in Bayern zu machen. Am 22. Februar 1956 stellten der spätere Gründungsdirektor der Akademie (1958–1970), der Ulmer Oberstudiendirektor Felix Messerschmid (1904–1981), und der Freiburger Ordinarius für Politikwissenschaft und Soziologie Arnold Bergstraesser (1896–1964) die Pläne zur Errichtung einer Akademie für Politische Bildung (sog. „Grünwalder Gutachten" vom Dezember 1955) dem Plenum des Bayerischen Landtags vor.

Gründungsdirektor Messerschmid beruft sich auf Guardini

Seinen Vortrag vor den Parlamentariern leitete Messerschmid ein, in dem er von den Gesprächen berichtete, die Romano Guardini und er während des Krieges in Berlin darüber geführt hätten, was nach der Katastrophe des Nationalsozialismus für die politische Bildung und Erziehung in Deutschland geschehen müsse. Wörtlich heißt es darin:

„Wir versuchten, ein Programm dafür aufzustellen, was uns ‚danach', nach der Katastrophe, zu tun aufgetragen sein werde. Damals – erinnern Sie sich – war in uns allen das Bewusstsein lebendig, für diesen Zusammenbruch müssten wir uns auf einen radikalen Neubeginn vorbereiten, wenn es uns je gelingen sollte, uns wieder eine menschenwürdige Existenz zu schaffen und das Hochkommen von Mächten ein für allemal zu verhindern wie denen, die uns und der Welt ein solches Schicksal bereitet haben. Mein Gesprächspartner hatte vor 30 Jahren ein Kapitel ‚Erziehung zum Staat' (1) geschrieben; so war eines der immer wiederkehrenden Themen dieser Gespräche, was zu tun sei, um das deutsche Volk und vor allem die Jugend politisch urteilsfähig, verantwortungsbereit und also tauglich zur Freiheit zu machen. Wir waren uns darüber klar gewesen, dass das Schicksal des Weimarer Deutschlands zu einem nicht geringen Teil auch darin begründet war, dass es nicht gelungen war, einen Stil und Methoden der politischen Bildung und Erziehung zu entwickeln, die der außerordentlichen Bedeutsamkeit dieser Aufgabe entsprochen hätten. Es sollen jetzt nicht etwa die Ergebnisse unserer Überlegungen ausgebreitet werden; ich befinde mich aber in Übereinstimmung mit den namhaftesten Pädagogen des Bundesgebiets [hier rekurriert Messerschmid wohl zuvorderst auf Theodor Litt (1880–1962)] und mit meinem damaligen Gesprächspartner, wenn ich als das Ergebnis einer Rückschau auf die vergangenen 10 Jahre feststelle, dass von den damaligen Erkenntnissen beunruhigend wenig verwirklicht worden ist." (2)

Wenige Tage nach Antritt seines neuen Amtes als Gründungsdirektor der Akademie strich Felix Messerschmid im „ersten offiziellen Brief aus dem Haus in Tutzing" vom 7. Oktober 1958 an Ministerpräsident Hanns Seidel die zentrale Rolle Guardinis für seine Entscheidung pro Tutzing nochmals explizit heraus:

„Ich habe sehr früh nach 1945 die Folgerungen aus diesen Gesprächen gezogen; was ich seither als theoretischer und praktischer Pädagoge unternommen habe, hat in ihnen seine Wurzel. Als dann die Frage an mich herantrat, ob ich dem Ruf nach Bayern Folge leisten und mich der Aufgabe der politischen Bildung uneingeschränkt verschreiben solle, empfand ich sehr stark, wie schwer es für mich sein würde abzulehnen; man kann nicht gut die Intensivierung der politischen Bildung verlangen und dann nein sagen, wenn die Möglichkeit dazu an so hervorragender Stelle geboten wird. Nach neuerlichen Gesprächen mit meinem Gesprächspartner von damals, die sich bis in den Juli hinein erstreckt haben, nahm ich – nicht leichten Herzens und nach Ablehnung mehrerer lockender Möglichkeiten an Universitäten – an." (3)

Vertraute im Geiste: Das Verhältnis Messerschmid-Guardini

Außerordentliches musisches Talent und Interesse ließen den gläubigen Katholiken Messerschmid früh zur bündischen Jugend(musik)bewegung stoßen; seit 1915 war er Mitglied des „Quickborn". Auf Burg Rothenfels am Main fand der jugendbewegte Messerschmid seine geistige Heimat und gehörte alsbald zum engsten Kreis um den katholischen Theologen, Bundes- und Burgleiter Romano Guardini, seinem akademischen Lehrer, geistigen Mentor und väterlichen Freund, der Messerschmid später mit der Verwaltung seines literarischen Nachlasses betrauen sollte.
Welch hohe Wertschätzung, ja geradezu aufrichtige Verehrung Romano Guardini seitens der (katholischen) bündischen Jugend entgegen gebracht wurde, ist exemplarisch einem Artikel aus der Feder von Felix Messerschmid über die Entwicklung und das Selbstverständnis der „Katholischen Jugendbewegung" zu entnehmen. Messerschmid schreibt darin:

„Das Verhältnis zur Generation der Erwachsenen war in der katholischen Jugendbewegung bestimmt durch ein ziemliches Maß an Mißtrauen, nicht jedoch durch grundsätzliche Ablehnung. Es gab Männer und Frauen aus der Generation der Älteren, die wir als zu uns zugehörig betrachteten und denen die Bünde Formung und Richtung ihres Lebens verdankten. Sie wurden nicht zu charismatischen Führern erhoben und hätten solche Schilderhebung auch abgelehnt. Sie verlangten nicht Gefolgschaft und machten uns keine Satzungen und Vorschriften. Was uns ihnen verband, was uns Ohr, Geist und Herz aufschloß, war ihr geistiger Rang, das Überzeugende der Gestalt, war die Autorität der Wahrheit, die sie repräsentierten. Wer aber Autorität nur von außen oder unter Berufung absoluter Gültigkeit für seine Person geltend machen wollte, hatte keine Aussicht, gehört zu werden, wollte er drängen statt zu argumentieren. Daß es solche Männer gab und daß sie zu uns stießen, aufmerksam geworden durch ihre Hellhörigkeit für einen epochalen Vorgang in der Jugend, war unser Glück, das Glück der Außerordentlichkeit. Vor allen anderen besaß Romano Guardini jene Autorität, die überzeugt und gerade deswegen Freiheit läßt und zur eigenen Freiheit führt." (4)

Der prägende Einfluss Guardinis und die grundlegende Übereinstimmung zwischen ihm und Messerschmid kommt auch in ihrer Korrespondenz zum Ausdruck. Ein besonders eindrucksvoller Beleg findet sich im Schreiben Messerschmids vom 4. Juli 1962 im Kontext von Guardinis Manuskript „Sorge um den Menschen":

„Lieber Romano, (...) Ich bin hocherfreut über ‚Sorge um den Menschen'. Weißt Du eigentlich selbst, daß dieses Buch eindrücklich bekundet, wie sehr Du in den vergangenen Jahren Dein Grundanliegen wieder aufgenommen hast? Von Anfang an war der Mensch Deine Sorge; ‚die' Wissenschaft war Dir nie ein abgesonderter, autonomer Bereich, sondern eine – in seinen Möglichkeiten eingeschränkte – perspektivische Methode, Aspekte von ihm genauer in den Griff zu bekommen. Wir haben gehört – und gehorcht –, weil uns Dein Sprechen und Schreiben von daher so stark berührt hat. Nun zeigt dieses Buch, wie diese Aufgabe um den Menschen heute, unter so anderen Umständen als vor 30/40 Jahren, aussieht. Du weißt, daß ich in der Akademie ausgegangen bin von einem Verständnis der Politik, die ich – mit Dir – als Ordnen von Personen bezeichnet habe. Dein Buch macht in vielen, den wesentlichen Bereichen deutlich, wovon dieses Ord-nen bestimmt sein muß. Es ist in diesem Sinn schlechthin fundamental. Herzlichen Dank. In Herzlichkeit Dein [Felix]." (5)

Kurator und „Direktorenmacher"

Mit Inkrafttreten des Akademiegesetztes vom 27. Mai 1957 war auch die Besetzung ihres Kuratoriums festzulegen. Die Auswahl der Kuratoriumsmitglieder erfolgt(e) nach Artikel 5 Akademiegesetz durch einstimmigen Beschluss des sogenannten „Dreier-Kollegium" oder auch „Dreierausschusses", bestehend aus dem Bayerischen Ministerpräsidenten, dem/der Vorsitzenden der größten Oppositionspartei im Bayerischen Landtag sowie einer von der Bayerischen Rektorenkonferenz zu berufenden Persönlichkeit. Über die Zusammensetzung des Kuratoriums besagt das Akademiegesetz, dass jede Landtagsfraktion mindestens ein Mitglied benennt, bei mehr als 50 Abgeordneten zwei. Dies bedeutete für die Erstbesetzung des sogenannten Gründungskuratoriums der Akademie: je zwei Vertreter von CSU und SPD, sowie je ein Vertreter von Bayernpartei (BP), Gesamtdeutschem Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE) und FDP. Hinzu sollten zehn weitere Mitglieder kommen, die das „sonstige öffentliche Leben, die Wissenschaft und das Bildungswesen des Landes repräsentieren". Zu diesem Kreis sollte auch der in München ansässige Professor Romano Guardini gehören, der zwischen 1948 und 1964 den Lehrstuhl für Christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München innehatte.

Noch bevor das Gesetz über die Akademie für Politische Bildung durch die Ausfertigung von Ministerpräsident Hoegner in Kraft trat, lag dem Regierungschef eine Vormerkung des jungen Regierungsrats in der Staatskanzlei Hans-Jochen Vogel vom 20. Mai 1957 nebst Vorschlagsliste für die Besetzung des Kuratoriums vor. Von Vogels Personalvorschlag wurden im Bereich Wissenschaft mit Arnold Bergstraesser [Universität Freiburg i.Br.], Bernhard Pfister [Hochschule für Politik, München] und Hans Nawiasky [ehem. LMU München/St. Gallen, Schweiz] sowie Romano Guardini insgesamt vier Personen durch das Dreimänner-Kollegium aus Ministerpräsident Hoegner, Hanns Seidel und dem Rektor der LMU, dem Altphilologen Friedrich Klingner berufen. Bis auf Guardini, der sich zunächst noch ein wenig Bedenkzeit ausbat, nahmen alle übrigen Persönlichkeiten das angetragene Kuratorenamt ohne Umschweife an; Guardini erklärte sein Einverständnis Ende August 1957. Wie eng Guardini seine Zusage mit der Entscheidung des für das Amt des Gründungsdirektors der Akademie ins Gespräch gebrachten Ulmer Oberstudiendirektors Felix Messerschmid verknüpft hatte, geht aus einem Schreiben vom 16. Juli 1957 hervor:

„Lieber Felix! (...) angesichts der Nachricht, ich solle in das Kuratorium der Politischen Akademie eintreten, waren meine Gefühle ziemlich gemischt. Auf jeden Fall bedeutet ein solcher Eintritt Verantwortung; je nach dem auch Arbeit. Bis jetzt habe ich noch keine Anfrage bekommen. Wenn sie kommt, werde ich mich vergewissern müssen, was das Ordinariat darüber denkt. Ich würde in das Kuratorium nur eintreten können, wenn das Ordinariat bzw. S.Eminenz das ausdrücklich billigt. Weiterhin müßte ich es davon abhängig machen, ob Du die Leitung übernimmst. Ich hätte kein Interesse daran, in die Mitverantwortung eines Instituts zu treten, von dem ich nicht weiß, wie es geführt wird." (6)

Die insgesamt 17 Mitglieder des Gründungskuratoriums der Akademie kamen am 9. September 1957 zur konstituierenden Sitzung zusammen. An der Ernennung von Felix Messerschmid zum Gründungsdirektor der Akademie hat – allem Anschein nach – Romano Guardini, nicht zuletzt als Gutachter und stellvertretender Vorsitzender des sogenannten Findungsausschusses („Ausschuss zur Vorbereitung der Nominierung eines Direktors") entscheidenden Anteil gehabt. In einem Bericht, der in der Kuratoriumssitzung vom 21. Dezember 1957 vorgetragen wurde, sprach sich Guardini für den Kandidaten Felix Messerschmid aus:

„In unmittelbarer Nähe zu der Arbeit, die in der Akademie zu tun ist, liegt jene, die er [Felix Messerschmid – S.E.] durch sieben Jahre an der staatlichen Akademie für Erziehung und Unterricht in Calw geleistet hat. Hier handelte es sich vor allem darum, Berufstätige in die Probleme der kulturellen und pädagogischen Situation einzuführen – das heißt aber, selbständige Menschen in aktive Mitarbeit hereinzuholen. Von verschiedenen Seiten habe ich gehört, daß es Dr. Felix Messerschmid immer wieder gelungen ist, die besten Namen für Vortrag und Diskussion zu gewinnen und die Arbeit selbst aufs fruchtbarste zu gestalten. Aus dem Dargelegten dürfte hervorgehen, daß Dr. Messerschmid sowohl in sachlicher wie in persönlicher Beziehung zur Leitung der Akademie für politische Bildung aufs beste geeignet ist."

Trotz dieses überaus positiven Votums Guardinis erreichte der Abstimmungsvorschlag Messerschmid nicht auf Anhieb die durch Artikel 9 Akademiegesetz vorgeschriebenen Zweidrittelmehrheit der Kuratoriumsmitglieder. Guardini selbst hatte an dieser Sitzung krankheitsbedingt nicht teilnehmen können. Man vertagte sich auf den 11. Januar 1958 – und in Anwesenheit Guardinis fasst das Akademiekuratorium mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Quorum (Zweidrittelmehrheit) den Beschluss, der Staatsregierung die Berufung des Oberstudiendirektors Dr. Felix Messerschmid als Direktor der Akademie vorzuschlagen. Inbesondere Guardini und weitere Professoren hatten sich rückhaltlos für ihn eingesetzt.

Guardini und die laufende Akademiearbeit

Über sein Kuratorenamt hinaus (Mitglied im Direktorenausschuss sowie kurzzeitig auch im sogenannten Richtlinienausschuss des Akademiekuratoriums) ist Guardini in der laufenden Akademiearbeit selten in Erscheinung getreten. So zum Beispiel beim eher exklusiv gehaltenen „Colloquium über das Problem der Freiheit" vom 19. bis 20. Mai 1959 und bei dessen Vorbereitungstreffen. Das Colloquium fand auf Anregung Guardinis hin statt und hatte sich zum Ziel gesetzt, den für jede rechtstaatliche Ordnung zentralen Grundbegriff der Freiheit und seine Implikationen für die praktische (politische) Bildungsarbeit neu zu durchdenken. Wie das vorbereitende Gespräch in kleinem Kreis ergeben hatte, hängt das Problem der Freiheit eng zusammen mit dem Bild vom Menschen, aus dem heraus die Freiheit realisiert werden soll. Damit war zugleich die Frage danach aufgeworfen worden, welches die Grundlagen dieses Menschenbildes in der Erziehung sein soll(t)en, und ob und inwieweit die zeitgenössische humanistische Bildung tragfähig ist.

Im Juli 1960 bereicherte Guardini mit seiner Rede über die „Freiheit" die gemeinsame Gedenkfeier der Tutzinger Akademie für Politische Bildung mit dem Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel aus Anlass des 20. Juli 1944. Beschämende Erfahrungen mit grober Unkenntnis des Nationalsozialismus hatten Akademiedirektor Felix Messerschmid im Jahre 1960 dazu bewogen. Sie bildete den Auftakt zu einer insgesamt 10-jährigen Veranstaltungstradition. In seiner Einleitung zur Gedenkveranstaltung am 19. Juli 1960 wies Hans-Jochen Vogel auf die Zweckmäßigkeit eines Kontakts mit der Tutzinger Akademie hin und betonte, dass er „die Stadt nicht nur als Steuereinnehmer, Straßenbauer und Stromlieferant, sondern als eine bürgerliche, geistige und damit auch kulturelle Gemeinschaft" verstanden wissen wolle. Eingerahmt durch Lesungen schriftlicher Äußerungen der Männer des 20. Juli sprach Guardini über den Begriff der „Freiheit". (7) Guardinis Ausführungen trugen einen eher pessimistischen Grundtenor: Seiner Einschätzung nach stand nämlich die Freiheit bei seinen Zeitgenossen nicht sehr hoch im Kurs. „Es besteht dringender Anlass zum Zweifel", so Guardini, „ob der heutige Mensch denn wirklich frei sein wolle. Ob er unter Freiheit mehr verstehe, als die Möglichkeit, ungehindert seinen Geschäften nachzugehen und sein Vergnügen zu haben." Nicht die Diktatoren, nicht die totalitären Systeme seien es, die heute menschliche Freiheit angreifen und bedrohen; die maßgebliche Gefährdung liege im Innern, und äußere sich sowohl in einem Erlahmen des Willens, frei zu sein, wie auch in einem Verfall der Werte, zu deren Verwirklichung Freiheit unverzichtbar ist. Guardini mahnte, wenn politische Apathie und Trägheit oder rücksichtsloser Individualismus und Egoismus die Oberhand gewännen, geriete eine Freiheit, die innerlich bereits aufgegeben wurde, in große Gefahr, auch de facto beseitigt zu werden.

In memoriam Romano Guardini

Zu Beginn des Wintersemesters 1962/63 musste Guardini seine Vorlesungstätigkeit an der Münchner LMU aus gesundheitlichen Gründen einstellen. Am 1. Oktober 1968 verstarb er im Alter von 83 Jahren in München. Per Testament hatte Guardini ein Sachverständigengremium zur Betreuung seines literarischen Nachlasses eingesetzt, dem unter anderem Akademiedirektor Felix Messerschmid angehörte. In seinem Nachruf auf Romano Guardini erinnert Messerschmid an dessen langjährige zentrale Führungsrolle innerhalb der deutschen Jugendbewegung (Rothenfels), und hebt Guardinis nachhaltig förderlichen Einfluss auf die Jugend gegen dessen Kritiker nochmals ausdrücklich hervor:

„(...) schon vor der Diktatur hat er [Guardini – S.E.] die Begründung des Widerstands aus der Freiheit der Person einerseits und der im Gewissen bindenden Autorität andererseits vorweggenommen und dadurch einen Teil der deutschen Jugend gegen den Nationalsozialismus immunisiert; das zu bezeugen, ist heute nach einigen törichten Äußerungen vonseiten kenntnisloser ikonoklastischer Eiferer nicht unnötig. Ein Teil der deutschen Jugend, von den zwanziger Jahren bis vor kurzem, verdankt dem großen Lehrer jene Erhellung des Daseins, die das ganze Leben bestimmt, weiterbestimmt auch dann, wenn das persönliche und allgemeine Bewußtsein, Erfahrungen, Ergebnisse der Forschung über viele von ihm vertretene Einzelpositi-onen hinausgeführt haben." (8)

Zugleich stellt sich Messerschmid – wie sicherlich die Tutzinger Akademie insgesamt – weiterhin in den Dienst einer Aufgabe, die Romano Guardini in seinem bemerkenswerten Eröffnungsvortrag „Pluralismus und Entscheidung" vom 22. November 1961 auf dem Deutschen Volkshochschultag in Frankfurt a.M. so formuliert hatte:

„Zwei Feinde haben wir: Auf der einen Seite den sich selbst aus der Hand gleitenden Freiheitswillen, der zum Subjektivismus wird und alle Gültigkeit zerfallen macht – auf der anderen Seite einen Orientierungs-willen, der an der Freiheit verzweifelt und sich in die Gewalt wirft. Nicht die Freiheit ist Feind; sie ist uns anvertraut, nie zu verlierender Ertrag von Wille und Schicksal zugleich. Ebensowenig die Notwendigkeit verpflichtender und verbindender Norm; den Bezug zu ihr müssen wir wiederfinden, wenn nicht alles zerfließen soll. Beides ist wesentlich. Wie sich das aber in der Arbeit der Volkshochschule auszuwirken habe, das, meine Damen und Herren, herauszufinden, wird unser aller Sache sein."

Worauf Messerschmid im schriftlichen Nachruf programmatisch erklärt: „Es bleibt unsere Sache." Mit seinem Ausscheiden aus dem Amt des Akademiedirektors im Oktober 1970 ist zugleich die wichtigste, noch zu Lebzeiten bestehende Verbindung der Akademie für Politische Bildung zu ihrem Gründungskurator Romano Guardini weggebrochen. Erst im Zusammenhang mit dem fünfzigsten Jahrestag der Gedenkfeier zum 20. Juli 1944 hat sich die Akademie wieder auf den prominenten Vordenker und wortmächtigen Wegbereiter aus ihren Anfangsjahren rückbesonnen. (9)

Steffen H. Elsner


Anmerkungen

(1) Messerschmid bezieht sich hierbei vermutlich auf Guardinis „Briefe über Selbstbildung", konkret den Brief mit dem Titel „Staat in uns"; vgl. Romano Guardini: Briefe über Selbstbildung. Neue Ausgabe von Gottes Werk-leute, Mainz (Matthias-Grünewald) 1930, S. 265–315.

(2) Bayerischer Landtag (Hrsg.): Das Wesen der politischen Bildung. Vorträge von Universitätsprofessor Dr. Arnold Bergstraesser, Freiburg, und Oberstudiendirektor Dr. Arnold [Felix] Messerschmid, Ulm, gehalten am 22. Februar 1956 vor den Abgeordneten des Bayerischen Landtags, München o.J. [1956]: Bayer. Landtag, wieder abgedruckt in: Heinrich Oberreuter (Hrsg.) / Steffen H. Elsner (Bearb.): Kristallisationskern politischer Bildung. Zur Geschichte der Akademie 1957 bis 2007. 50 Jahre Akademie für Politische Bildung, München (Olzog) 2009, S. 15–41; hier S. 27f.

(3) Messerschmid an Seidel, 7. Oktober 1958 (Akademiearchiv).

(4) Felix Messerschmid: Katholische Jugendbewegung, in: Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit [Band 3] – Quellenschriften. Herausgegeben im Auftrage des Gemeinschaftswerkes Archiv und Dokumentation der Jugendbewegung von Werner Kindt, Köln (Diederichs) 1974, S. 680–683; hier S. 680f.

(5) Messerschmid an Guardini, 4. Juli 1962 (Akademiearchiv).

(6) Guardini an Messerschmid, 16. Juli 1957 (Akademiearchiv).

(7) Vgl. Romano Guardini: Freiheit. Eine Gedenkrede (Tutzinger Beiträge zur politischen Bildung, Nr. 1), Würz-burg (Werkbund) 1960, 24 Seiten; 2. Auflage 1966.

(8) Felix Messerschmid: In memoriam Romano Guardini (Materialien und Berichte, Folge 44), Tutzing Feb. 1969, 5 Seiten.

(9) Vgl. Steffen H. Elsner: „Ach, Obrigkeit und ... Stauffenbach". Gedenkfeiern der Akademie zum 20. Juli 1944.

Die gesamte Abhandlung unseres Wissenschaftlichen Dokumentars Steffen H. Elsner inklusive aller Anmerkungen hier als PDF.

Steffen H. Elsner


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