„Politische Bildung durch das Buch – Aufgabe und Möglichkeiten“

Die Bibliothekarstagungen an der Akademie

September 1961



Cover der Bücherkunde


„Politische Bildung durch das Buch – Aufgabe und Möglichkeiten“, so nannte sich die erste aus einer ganzen Reihe von eminent erfolgreichen Tagungen für Bibliothekare und Fachleute aus dem Bibliotheks- und Bildungswesen, die in der Woche vom 18. bis 22. September 1961 in Tutzing abgehalten wurde.

Auf Anregung des Bayerischen Kultusministeriums in Gestalt von Regierungsdirektor Karl Böck (1916–2009), dem langjährigen Kuratoriumsvorsitzenden der Akademie und einer der prägenden Persönlichkeiten des Bibliothekswesens in Bayern, hatte die Akademie bayerische Volksbibliothekare und Bildungsfachleute nach Tutzing eingeladen: Einesteils um die Akademie und ihre Rolle im Gesamtzusammenhang der politischen Bildung im öffentlichen Büchereiwesen des Freistaates bekannter zu machen; andernteils um aus den praktischen Erfahrungen der Bibliothekare Erkenntnisse für die Akademiearbeit zu gewinnen. Aus dieser Zielsetzung ergab sich ein lebhaftes – wie gleichermaßen nachhaltiges – Gespräch über das Angebot und den Bildungswert des politischen Buches. Sofern es denn überhaupt auf dem heimischen Büchermarkt zu finden sei, so der einhellige wie ernüchternde Befund, genüge das politische Schrifttum nur selten den sachlich und stilistisch gebotenen Anforderungen.

Desinteresse und staatliches Versagen

Der diagnostizierte Mangel wurde auf sehr verschiedenartige Ursachen zurückgeführt: Politisches Desinteresse breiter Leserkreise, mangelnde Risikobereitschaft von Autoren und Verlagen sowie fehlende bzw. fehlallokierte staatliche Subventionen wurden als Gründe genannt. Die auf der Tagung erarbeiteten Verbesserungsvorschläge wurden noch vor Ort intensiv mit dem damaligen bayerischen Ministerialbeauftragten für das Volksbüchereiwesen und den Leitern der Staatlichen Beratungsstellen für öffentliche Büchereien (in Bayern damals sechs an der Zahl) erörtert. Der begonnene Kontakt zu den Bibliothekaren und Bildungsfachleuten sollte in den Folgejahren mit breiterer inhaltlicher Ausrichtung sowie bundesweitem Teilnehmerkreis ausgebaut werden.

Leitfaden für politische Literatur

Wie ernst es der Akademie mit diesen Bestrebungen war, lässt sich auch daran ablesen, dass die Akademie noch im Jahr 1961 im Würzburger Werkbund-Verlag eine umfangreiche „Bücherkunde“ unter dem Titel „Politische Bildung durch das Buch“ herausbrachte. Der Band enthält bibliografische Daten, kurze Inhaltsangaben und Würdigungen von annährend 380 Titeln, die vom Kollegium der Akademie ausgewählt und besprochen wurden. Damit sollte vor allem den Leitern der Volksbüchereien, aber auch allen Lehrern, Jugendleitern und Dozenten der Erwachsenenbildung Hilfestellung bei der kompetenten Auswahl und Anschaffung von politischem Schrifttum gegeben werden.Die publizierte Bibliografie fand ein ausgesprochen positives Echo.

Politische Bildung durch das Jugendbuch?

Die zweite Tagung für Bibliothekare vom 17. bis 22. September 1962 wollte dann auch nahtlos an diese Erfolge anknüpfen. Im Mittelpunkt standen vorwiegend jene fachlichen Probleme, die den öffentlichen Bibliotheken aus der Erfüllung ihres politischen Bildungsauftrags erwachsen. Zudem bot Walter Scherf (1920–2010) eine Bestandsaufnahme über das politische Jugendschrifttum, die wenig später in Zusammenarbeit mit der Akademie und unter dem Titel Politische Bildung durch das Jugendbuch? im List-Verlag erscheinen sollte. Das jugendbewegte Multitalent Scherf war hierfür geradezu prädestiniert, leitete er doch seit 1957 und für die Dauer von insgesamt 25 Jahren als Direktor die Geschicke der einzigartigen Internationalen Jugendbibliothek München.

Die „Tutzinger Gespräche“

Aufgrund der außerordentlichen Nachfrage wurde der Teilnehmerkreis der Veranstaltungsreihe ab 1964 auf Bibliotheksdirektoren und leitende Bibliothekare an öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken aus dem gesamten Bundesgebiet ausgedehnt. Der inhaltliche Schwerpunkt verlagerte sich fortan mehr und mehr auf die Diskussion grundlegender gesellschafts-, kultur- und berufspolitischer Probleme. Diese sogenannten „Tutzinger Gespräche“ haben sich über die Jahre hinweg in bibliothekarischen Fachkreisen größter Wertschätzung erfreut. So schrieb zum Beispiel Hans Harald Breddin in der Zeitschrift Bücherei und Bildung in Heft 1/1968 über die Tutzinger Bibliothekarstagungen von 1968:

„Tutzing ist zu einer Institution geworden, welche die büchereipolitische Entwicklung der letzten Jahre in wesentlichen Punkten – man denke an das Verhältnis zu den kirchlichen Büchereien und zu den wissenschaftlichen Bibliotheken oder an die Ausbildungsreform – entscheidend mitbestimmt hat. So kann man sich heute mit Recht fragen, ob wir den gegenwärtigen Stand ohne Tutzing überhaupt schon erreicht hätten.“

Kirche und Kommune

Als ein Ereignis von außerordentlicher Bedeutung und weitreichender Wirkung hatte sich die Bibliothekarstagung „Funktion und Bildungsauftrag der öffentlichen Bücherei in der Gesellschaft“ vom 22. bis 27. Juni 1964 erwiesen. Daraus ging nicht nur ein im List-Verlag erschienener Tagungsband mit den verschriftlichten Beiträgen der Referenten hervor. Bei diesem Treffen war es vielmehr erstmals gelungen, Vertreter des kommunalen und des kirchlichen Büchereiwesens in einer gemeinsamen „Tutzinger Erklärung zum Büchereiwesen“ zu vereinen. Für das Selbstverständnis öffentlicher Bibliotheken sowie für die Beziehungen zwischen Büchereien in kommunaler bzw. kirchlicher Trägerschaft untereinander war sie von grundlegender Relevanz. Die „Bibliothekskonferenzen“ der Folgejahre vertieften jeweils unterschiedliche bibliotheksspezifischen Fragestellungen, wie etwa: „Wissenschaft und Bildung – Folgen für Büchereien und Bibliotheken. Tagung über Probleme der Regionalplanung für Bibliothekare an wissenschaftlichen Bibliotheken und öffentlichen Büchereien“ (28. Juni bis 3. Juli 1965), „Die öffentlichen Büchereien und die anderen Bildungseinrichtungen. Zur Situation bibliothekarischer Arbeit heute“ (20. bis 25. Juni 1966), „Möglichkeiten und Grenzen der politischen Bildung durch den Bibliothekar und das Buch“ (25. bis 29. September 1967), „Bildung zwischen Organisation und Politik“ (24. bis 28. Juni 1968) sowie „Fragen des Bibliothekswesens und der Politik in der Bundesrepublik“ (7. bis 12. Juli 1969).

„Clearing Stelle“

Auch aus diesen Folgekonferenzen sind weitere programmatische „Tutzinger Erklärungen“ hervorgegangen, so etwa zur Stellung von Bibliotheken und ihrer Rolle im Feld der politischen Bildung aus dem Jahr 1967. Darin heißt es:

„Obwohl die Demokratie in der Bundesrepublik allgemein anerkannt wird, ist es bisher nicht in ausreichendem Maße gelungen, ein politisches Klima zu schaffen, das den Bürger ermutigt, seine demokratischen Rechte und Pflichten in voller Kenntnis der in dieser Staatsform für den Einzelnen liegenden Möglichkeiten wahrzunehmen. So wie es in der funktionierenden Demokratie wesentlich ist, daß in konstruktiver Toleranz die gegensätzlichen Meinungen diskutiert werden können, so bedarf der Bürger zu seiner Information einer ‚Clearing-Stelle‘, die in gleicher Toleranz dem Schrifttum unterschiedlichster politischer Überzeugungen Raum bietet. Nach ihrem Auftrag und Selbstverständnis ist die öffentliche Bibliothek hierfür die gegebene unabhängige Institution. Neben der Dienstleistung für den einzelnen Bürger bietet sie auch allen im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Raum tätigen Institutionen und Gruppen Material zur Intensivierung ihrer Arbeit. Um dieser für die Demokratie lebensnotwendigen Aufgabe nachkommen zu können, ist die öffentliche Bibliothek entsprechend auszustatten.“

Die Tagungsreihe geht zu Ende

Letztmalig im Jahre 1970 wurde die Bibliothekarstagung von der Akademie durchgeführt. Unter dem Titel „Kooperation – Demokratisierung – Planung“ kamen Ende Juni Fachleute in Tutzing zusammen, um sich schwerpunktmäßig mit Fragen der Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlichen und öffentlichen Bibliotheken zu befassen, organisatorische Probleme der Verbandsstruktur zu erörtern und auf Ergebnisse der bisherigen Bildungs- und Bibliotheksplanung einzugehen. Eine Fortsetzung der Tagungsreihe war für das Wintersemester 1971/72 zwar nachweislich geplant, weshalb sie nicht stattgefunden hat, liegt allerdings im Unklaren. Möglicherweise war mit dem im Oktober 1970 vollzogenen Wechsel in der Akademieleitung auch eine inhaltliche Neubewertung bzw. räumliche Schwerpunktverlagerung der Akademieaktivitäten zulasten der Bibliothekare einhergegangen – getreu einem sinngemäßen Motto von Niccolò Machiavelli: „Wer dauerhaften Erfolg haben will, muss sein Vorgehen ständig ändern.“

Steffen H. Elsner


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